Ist etwas darum gut, weil es allgemein Beifall findet?

Nichts verwickelt uns nämlich in grössere Schwierigkeiten als unsere Neigung, sich nach dem Gerede der Leute zu richten, das heisst, immer das für das Beste zu halten, was allgemein Beifall findet und sich an die blosse Zahl der Beispiele zu halten, also unser Leben nicht nach Vernunftgründen, sondern nach verwandten Erscheinungen zu gestalten. Darum stürzt immer wieder einer über den anderen, und es kommt zu einer so gewaltigen Zusammenballung. Was sich bei einem grossen Volksauflauf alles abspielt, wenn ein einziges Menschenknäuel sich schiebt und drückt, keiner fallen kann, ohne seinen Nachbarn mitzureissen, die Vordersten den Nachfolgenden zum Verhängnis werden, dasselbe kannst du überall im Leben beobachten: Kein begeht für sich allein einen Irrtum, jeder ist gleicherweise Grund und Urheber fremden Irrtums. Es ist nun ausserordentlich schädlich, sich einfach seinen Vorgängern anzuschliessen. Weil es nämlich einem jeden lieber ist, etwas auf Glauben anzunehmen, als sich selbst ein Urteil über eine Sache zu bilden, kommt es nie zu einer Beurteilung unserer Lebensführung.

Aus: Seneca. Vom glücklichen Leben. Insel Verlag: Frankfurt am Main/Leipzig 1992.