Buchhinweis: Schottischer Moralphilosoph hinterlässt einzigartige Lebensgeschichte und Gedankengut

Kürzlich starb der schottische Moralphilosoph Alasdair McIntyre (1929-2025). Hier sind einige interessante biografische Angaben aus der ersten Lebenshälfte des grossen Denkers:

  • Frühe Bildung und erste Politisierung: 1942 – 1944 besuchte MacIntyre das Internat Epsom College, wo ihn die Söhne der britischen Mittelschicht prägten – eher negativ. 1945 – 1949 studierte er Klassische Philologie am Queen Mary College (London) und an der Universität Manchester und trat dort der Communist Party of Great Britain (CPGB) bei.
  • Schnelle Ernüchterung im Kommunismus: Die Trials in Osteuropa (Prag-Putsch 1948, Rajk-Prozess 1949) veranlassten ihn, die CPGB innerlich aufzugeben und sich auf eine akademische Laufbahn zu konzentrieren.
  • Lehrstellen & Orte: Dozenturen in Manchester und Leeds; 1958–61 engagierter Mit- und Chef-Redakteur von The New Reasoner / Universities and Left Review (später New Left Review), Rückzug kurz vor deren Fusion.
  • Parteipolitische Zickzack-Phase:
    • 1958 Eintritt in die trotzkistische Socialist Labour League (Gerry Healy), rascher Ausstieg wegen Autokratietendenzen.
    • Anschließend Co-Herausgeber von International Socialism (Tony Cliff-Gruppe).
  • Aktivismus & Konflikte: 1968 Dekan an der Protesthochschule University of Essex; wurde von Studierenden wegen seiner widersprüchlichen Haltung (Verurteilung wie Rechtfertigung von Gewalt) öffentlich bloßgestellt.
  • Medienpräsenz: Kommentator der BBC, wo er Harold Wilson (Labour) als technokratischen “Fetischisten des BIP” angriff.
  • Bruch mit dem Marxismus: 1968/69 Austritt aus allen linken Gruppen, Umzug in die USA, Veröffentlichung von Marxism and Christianity (1971) mit dem Bekenntnis, Marxismus aufgegeben zu haben.
  • Kontroverse Kooperationen: Regelmäßiger Autor des von der CIA mit-finanzierten Encounter-Magazins – Motto “weder Washington noch Moskau”.
  • Politischer Rückzug: Seit 1971 keine Parteipolitik mehr; Lehre an US-Universitäten, geistige Neuorientierung Richtung Aristoteles, Thomas von Aquin und katholische Soziallehre.

MacIntyre synthetisiert u. a. zwei klassische Diagnosen der Moderne – Marx’ Klassenanalyse und Webers Bürokratie­theorie – gezielt, um ein gemeinsames Grundübel freizulegen: die Verwandlung sozialer Beziehungen in berechenbare Mittel für externe Zwecke.

1. Der Markt als Paradigma instrumenteller Rationalität

Marx zeigt, dass im Kapitalismus jedes Gut – einschließlich menschlicher Arbeit – eine Tauschwert-Hülle erhält. Die zentrale Frage lautet nicht mehr Was ist gut?, sondern Wie viel ist es wert? Diese Wert-Logik nivelliert qualitative Unterschiede und unterminiert traditionelle Bindungen (Familie, Zunft, Dorf), weil sie sie in monetäre Größen übersetzt. Solidarität wird so zur Kostenposition: Sobald sie den Profit mindert, gilt sie als irrational.

2. Die Bürokratie als spiegelbildliches Gegenstück

Weber diagnostiziert, dass der moderne Staat auf regelgebundene, sachliche Zuständigkeit setzt. Hier zählen Qualifikationstabellen, Aktenvermerke, Durchlauf- und Deckungsbeiträge – Kategorien, die denselben abstrakten Effizienzcode benutzen wie der Markt. Das Verwaltungsamt hat dabei keine intrinsische Zweckdebatte mehr zu führen; es „bedient das Getriebe“. Persönliche Loyalitäten oder ethische Erwägungen gelten als Korruptionsrisiko.

3. MacIntyres Synthese

  • Gleiche Logik: Für MacIntyre verkörpert der staatliche Planungsapparat – egal ob sozialdemokratisch oder staatssozialistisch – das gleiche means–end-Schema wie private Konzerne. Nationalisierung ändert daher bloß den Eigentümer, nicht die Rationalitätsstruktur.
  • Doppelte Entfremdung: Arbeiter werden im Markt zu Waren, Beamte in der Behörde zu „Funktionsträgern“. In beiden Fällen verschwinden die internen Güter (Stolz auf ein gelingendes Handwerk, kollegiale Verantwortung, lokales Ethos), die eine Praxis für MacIntyre eigentlich definieren.
  • Scheitern der sozialdemokratischen Hoffnung: Die Labour-Strategie, Kapital durch staatliche Kontrolle zu zähmen, erweist sich als Illusion: Sobald Lohnarbeit und Verwaltung nach denselben Output-Kennzahlen funktionieren, entsteht keine demokratische Teilhabe, sondern nur ein anders etikettiertes Management.

4. Konsequenz: Rückkehr zu praxis-getragenen Gemeinschaften

Weil sowohl Markt als auch Bürokratie Menschen zu austauschbaren „Ressourcen“ machen, fordert MacIntyre kleinräumige Verbünde – Werkstatt, Gilde, Kloster –, in denen Ziel und Mittel zusammenfallen: „Nur wo der Handelnde das Gute seiner Tätigkeit selbst verfolgt, kann Vernunft praktischen Rang behalten.“

So werden Marx’ Entfremdungsdiagnose und Webers Rationalisierungsangst bei MacIntyre zu einer einheitlichen Kritik: Die Moderne leidet nicht an zu viel Staat oder zu viel Markt, sondern an derselben entseelten Zweckrationalität in beiden Sphären, die wahre Solidarität und Tugendpraxis zugleich untergräbt.

Ich kann das (kürzere) Buch Alasdair MacIntyre: An Intellectual Biography sehr empfehlen.

Buchhinweis: Ketzer – eine scharfsinnige Analyse moderner Ideen

Anlässlich meines runden Geburtstags habe ich G. K. Chestertons Frühwerk “Ketzer” für mich wiederholt. Meine Absicht: Ich möchte mir eigene Gedankengänge und -muster, die von der (Post-)Moderne gefangen sind, bewusst werden und beseitigen bzw. eine Alternative entwickeln. Dale Ahlquist führte (2016) dieses Werk (2016) wie folgt ein:

Einordnung von Heretics

  • Das Buch besteht aus Einzel-Essays, die alle zeigen: Moderne Ideen sind Teilwahrheiten, die ohne Einbettung in ein größeres Ganzes unzureichend bleiben.
  • Heretics bereitet thematisch den Weg für Orthodoxy, wo Chesterton die positive christliche Antwort auf die kritisierten Fehlentwicklungen ausformuliert.

Fortschritt

  • Chesterton erklärt, Fortschritt sei nicht von Natur aus schlecht; er wird zur Häresie, wenn man ihn als Selbstzweck betrachtet und nicht an ein übergeordnetes Ziel bindet.
  • In der Moderne gilt Fortschritt als höchstes Ideal, doch niemand benennt das Ziel, auf das man sich zubewegen will. Ohne Ziel verliere das Wort seinen Sinn.
  • Analog zur Bildung: Man sei sich nicht einig, was Wahrheit ist, beharre aber darauf, sie den Kindern beizubringen.
  • Eine sinnvolle Pädagogik müsse mit einer Definition des Menschen beginnen; ohne diese sei jedes praktische Tun widersprüchlich.

Wissenschaft

  • Chesterton lobt die Wissenschaft für ihre Entdeckungen und praktischen Errungenschaften, kritisiert aber ihre Grenzüberschreitung.
  • Wissenschaft ist auf „sekundäre Ursachen“ beschränkt; wenn sie nach „primären Ursachen“ wie dem Ursprung des Universums greift, überschreitet sie ihr Fachgebiet.
  • Wissen dürfe nie Selbstzweck sein. Projekte wie Raumfahrt-Expeditionen erscheinen Chesterton als teure Spielereien, sofern sie kein klares, höheres Ziel verfolgen.
  • Er unterscheidet Werkzeug und Spielzeug: Das Mikroskop (Heilung von Krankheiten) sei Werkzeug, das Teleskop (neugieriges Starren ins All) werde schnell zum Spielzeug.
  • Wissenschaft soll uns Mittel liefern, doch Moral und Sinn müssen aus Philosophie oder Theologie kommen; andernfalls wird Wissenschaft gedankenlos und „unnatürlich“.
  • Die Formel „Nimmt man das Übernatürliche weg, bleibt das Unnatürliche“ heißt: Auch das Natürliche braucht den Bezug zur Schöpfung, sonst verkommt es.
  • Eine „exakte“ Soziologie hält Chesterton für unmöglich, weil menschliche Freiheit jede Prognose durchkreuzt; sobald der Mensch sowohl Forscher als auch Forschungsobjekt ist, versagt reines Experimentieren.
  • Theorie und Praxis müssen einander ergänzen: Theorie (Metaphysik) ist vorrangig, bleibt aber wirkungslos, wenn sie nicht durch praktische, beschreibende Wissenschaft umgesetzt wird.

Tugenden (natürlich vs. übernatürlich)

  • Die klassischen Kardinaltugenden (Klugheit, Mäßigung, Tapferkeit, Gerechtigkeit) sind rational verständlich und bringen die heidnische Welt bis zu einem gewissen Punkt.
  • Christentum fügt die Gnadentugenden Glaube, Hoffnung und Liebe hinzu; sie wirken paradox, weil sie den Rahmen des rein Vernünftigen sprengen.
  • Chesterton wertet die natürlichen Tugenden nicht ab; er zeigt, dass Gnade die Natur vervollkommnet: „Grace builds on nature.“
  • Nur im Zusammenspiel beider Ebenen erreicht das menschliche Leben seine volle Tiefe.

Familie

  • Das Familienleben erscheint Chesterton „ungemütlich“, gerade darin liegt seine Stärke: In der Vielfalt der Charaktere lernt man den ganzen Menschheitsteppich kennen.
  • Die Familie ist ein „kleines Königreich“, oft anarchisch, aber lebensnah: Tante, Vater, Bruder und Großvater spiegeln die Unterschiede der gesamten Menschheit wider.
  • Wer aus der Familie flieht, sucht ein engeres, künstliches Umfeld und verkennt, dass die Familie die weiteste Vielfalt bietet.
  • Die Geburt ist das größte Abenteuer; die Familie bereitet auf die Überraschungen der Welt vor.
  • Die Familie ist die Grundeinheit der Gesellschaft: Zersplittert man sie zugunsten radikalen Individualismus, zerfällt auch die Kultur.
  • Staaten mit starken Familien überstehen sogar schwache Regierungen; Bildung, Religion und Tradition werden primär in der Familie weitergegeben.
  • Alle staatlichen und kulturellen Einrichtungen sollten deshalb die Familie stützen, nicht den isolierten Einzelnen fördern.

Tradition und Geschichten

  • Geschichten verweisen auf einen Geschichtenerzähler; die menschliche Geschichte ist ein fortlaufendes Werk mit offenem Ende und täglicher Fortsetzung.
  • Die Wertschätzung von Tradition wird in Heretics angedeutet und in Orthodoxy entfaltet: Ohne Tradition fehlt dem Menschen der erzählerische Rahmen, der Sinn stiftet.

Hörhinweis: Ein Atheist äussert seine Argumente gegen das Christentum

Kurt Flasch ist renommierter Augustinus-Forscher – und bekennender Atheist. Hier schildert er seine persönliche Entwicklung und die für ihn entscheidenden Argumente (VD: RK):

Persönliche Gründe, die Flasch in seiner Jugend für das Christentum empfand

  • Der christliche Glaube diente ihm und seiner Familie als geistige Gegeninstanz zum Nationalsozialismus; er verlieh Zuversicht und moralischen Halt.
  • Sein Gottvertrauen half ihm, die Verwundung und den Verlust seiner Mutter und anderer Angehöriger während des Bombenangriffs 1944 / 45 zu überstehen.
  • Geistliche Freunde förderten ihn materiell und intellektuell; dadurch verknüpfte er positive Erfahrungen mit der Kirche und der christlichen Kultur.

Zentrale Argumente, mit denen Flasch heute das Christentum verwirft

  • Nach nüchterner Prüfung hält er alle gängigen Gründe, Christ zu sein, für unhaltbar; glauben „ohne jede Begründung“ kommt für ihn nicht infrage.
  • Die Erlösungslehre ist für ihn unvernünftig: Es sei widersinnig, dass Gott erst dann mit den Menschen versöhnt ist, wenn sie seinen Sohn töten.
  • Das Opfer am Kreuz wird nicht plausibel erklärt; eine allmächtige, liebende Gottheit könnte Vergebung ohne einen grausamen Tod gewähren.
  • Das Leid in der Welt, das er früh selbst erlebte, lässt sich nicht mit einem guten, weisen und allmächtigen Gott vereinbaren; das Theodizee-Problem bleibt ungelöst.
  • Die augustinische Erbsünden-Lehre setzt eine reale Vererbung von Schuld durch den Geschlechtsakt voraus und macht die Jungfrauengeburt notwendig; diese Prämissen betrachtet er als biologisch wie logisch unhaltbar.
  • Mehrere dogmatische Kernaussagen gründen auf Übersetzungs- und Interpretationsfehlern, die schon früh bekannt waren, von der Kirche aber bis heute ignoriert werden.
  • Die Trinitätslehre erscheint ihm bei genauer Analyse widersprüchlich und rational nicht begreifbar.
  • Ein allmächtiger Gott bräuchte keine menschliche Mittäterschaft, um sich selbst zu „versöhnen“; die Kreuzigung ist daher ein überflüssiger, unverhältnismäßiger Aufwand.
  • Historisch lasse sich die Deutung des Kreuzestodes besser als Sinnsuche enttäuschter Jünger erklären denn als göttlicher Heilsplan.
  • Die Kirche zeigt nach seiner Erfahrung kaum Interesse an den Ergebnissen der historisch-kritischen Bibelforschung und verschließt sich so rationaler Korrektur.
  • Die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Verstorbenen im Himmel gibt zwar Trost, doch sieht er dafür keine tragfähigen Argumente; deshalb hat er sie aufgegeben.

Flaschs heutige Haltung

  • Trotz seiner Ablehnung der Dogmen schätzt er katholische Kultur- und Lebensformen (Wein, Brot, Fisch am Freitag) und bezeichnet sich als „Kulturkatholik“.
  • Er respektiert, dass andere Menschen Trost im Glauben finden; sein Buch versteht er als persönliche Reflexion, nicht als Aufruf zum Glaubensabfall.

Ich empfehle als solide Grundlagen zur Entgegnung: Christian Apologetics: A Comprehensive Case for Biblical Faith (Douglas Groothuis) sowie Kreuzverhör: 12 harte Fragen an den christlichen Glauben (Rebecca McLaughlin).

Tool: Future Authoring

Herkunft und Idee

Das Future-Authoring-Modul wurde 2011-12 an der Universität Toronto von Jordan Peterson und Kolleg als Teil der “Self-Authoring Suite” entwickelt. Auslöser war die Beobachtung, dass Studierende zwar viele Ziele haben, diese aber selten schriftlich konkretisieren. Das Team kombinierte daher bewährte Elemente aus Expressivem Schreiben (Pennebaker), Zielsetzungs-Forschung (Locke & Latham) und der Theorie des “narrativen Selbst”, um ein online-basiertes, skalierbares Schreibprogramm zu bauen, das Nutzern in ca. 2 ½ Stunden durch eine strukturierte Selbstreflexion über ihr Leben in drei bis fünf Jahren führt. 

Psychologische Grundlagen

PrinzipRolle im ProgrammWirkung (Meta-Analysen)
Ziel-SpezifizierungSMART-artige Unter­ziele + Erfolgskriterien↑ Motivation, ↑ Persistenz
Mentales Kontrastieren / WOOPWunsch- vs. Albtraum-Zukunft visualisieren↑ Handlungsplanung, ↓ Aufschieben
Narrative IdentityGeschlossene Lebensgeschichte schreiben↑ Sinn & Kohärenz
Implementation Intentions„Wenn … dann“-Pläne für Hindernisse↑ Umsetzungs­wahrscheinlichkeit

Aufbau

Das Programm ist in zwei Stufen gegliedert und enthält insgesamt acht Teilaufgaben.

StufeInhaltTypische Leitfragen
1. Visionsphase (ca. 45 min)Ideales Leben 3-5 Jahre voraus; Albtraum-Szenario bei passiver Lebensführung„Wie sähe dein Alltag aus?“„Welche Gewohnheiten hättest du etabliert (oder nicht)?“
2. Konkretisierung (ca. 90 min)Für je 6–8 Lebensbereiche (Karriere, Lernen, Beziehungen, Gesundheit, Freizeit …): Ziel definieren → Teilziele → nächste Schritte → Zeitlinie → Erfolgs­kennzahlen → Hindernisse + Bewältigungsplan„Warum ist dieses Ziel wichtig?“„Was ist der erste Schritt in den nächsten 24 h?“

Vortrag: Marketing und die biblische Weltsicht

Timothy Keller hielt 2005 vor Marketingfachleuten einen Vortrag, in dem er den Berufsstand aus biblischer Weltsicht beleuchtete.

Wesen und Aufgaben des Marketings

  • Marketing besteht aus vier Hauptschritten: eine qualifizierte Zielgruppe definieren, deren Bedürfnisse und Interessen analysieren, ihre Aufmerksamkeit gewinnen und sie von potenziellen zu tatsächlichen Nutzern machen.
  • Im Kern ist Marketing nichts anderes als Kommunikation: Es macht Informationen laut und verständlich, die Menschen sonst nicht wahrnehmen würden.
  • Als Tätigkeit ist Marketing für fast jeden relevant, der ein eigenes Unternehmen führt oder in kleinerem Rahmen Produkte oder Leistungen anbietet.

Öffentliche Kritik und die Rolle von Ethik‐Kodizes

  • Marketing steht kulturell wie auch in Kirchen häufig unter Verdacht, bloß künstliche Bedürfnisse zu schaffen, um Profit zu machen.
  • Der Ethik-Kodex der American Marketing Association fordert Ehrlichkeit, Verantwortung, Fairness und Respekt und enthält damit viele allgemein akzeptierte moralische Richtlinien.
  • Solche Kodizes sind sinnvoll, reichen aber allein nicht aus, weil sie keine Antwort auf die Frage geben, warum man sich an sie halten soll.

Vier Ebenen, auf denen der christliche Glaube die Arbeit prägt

  • Segen: Christen bitten Gott aktiv um Gelingen und Hilfe in ihrer Arbeit.
  • Halt: Glaube relativiert wirtschaftliche Erfolge und stützt in Krisen.
  • Ethik: Christliche Gebote stimmen zwar mit vielen weltlichen Regeln überein, doch sie haben tieferen Ursprung.
  • Geschichte (Story): Der Glaube liefert einen umfassenden Deutungsrahmen – Schöpfung, Fall und Erlösung – in den jede berufliche Tätigkeit eingeordnet werden soll.

Warum eine „große Geschichte“ nötig ist

  • Jeder Mensch lebt nach einer impliziten Erzählung darüber, wie die Welt sein sollte, was sie beeinträchtigt und was sie wieder in Ordnung bringt (Weltbild/Narrative Identity).
  • Ohne ein solches Narrativ fehlt die innere Motivation, ethische Prinzipien auch dann zu befolgen, wenn sie sich kurzfristig nicht „auszahlen“.
  • Christliche Marketingfachleute setzen ihre Arbeit in den Rahmen von Schöpfung (Gott will Ordnung und Wohl), Fall (Bedürfnisse sind oft verzerrt) und Erlösung (Gott führt zu Liebe und Dienst).

Beurteilung von Bedürfnissen: legitime vs. verdorbene Wünsche

  • Nicht jedes vorhandene Bedürfnis darf bedient werden; Heroin- oder Pornografie-Verkauf illustrieren klar zerstörerische „Märkte“.
  • Christen müssen prüfen, ob ein Kundenwunsch Teil von Gottes erneuernder Bewegung ist oder ein Verlangen, das Christus überwinden will.
  • Beispiele wie sexualisierte Werbung zeigen, dass das attraktivste Mittel zur Aufmerksamkeit nicht automatisch vertretbar ist.

Kommodifizierung und ihre Folgen

  • Immer mehr ehemals „bundhafte“ Beziehungen (Familie, Nachbarschaft, Gemeinde) werden zu reinen Konsumenten-Lieferanten-Verhältnissen umgeformt.
  • Dieser Prozess fördert Individualismus, Einsamkeit, instabile Familien und „Kirchen-Hopping“, weil Bindungen nur noch bestehen, solange sie persönlichen Nutzen bringen.
  • Marketing kann diesen Trend verstärken oder – bewusst gestaltet – zur Stärkung echter Gemeinschaft beitragen.

Marketing in der Kirche – Chancen und Gefahren

  • Jede Kommunikation der Gemeinde ist de facto Zielgruppen-Ansprache; wer dies leugnet, betreibt unbewusstes Marketing.
  • Bewusste Zurückhaltung bei Werbung (z. B. keine Massenmedien-Kampagnen) kann helfen, dass Menschen durch Beziehungen statt durch Konsumimpulse zur Gemeinde finden.
  • Gleichzeitig ist Kontextualisierung nötig: Sprache, Illustrationen und Musik müssen verständlich sein, ohne die Gemeinde zur „Dienstleistungsstation“ zu machen.

Praktische Leitlinien für christliche Marketer

  • Integrität bewahren: Ehrlicher Umgang – auch das Erwähnen von Produktnachteilen – kann Glaubwürdigkeit steigern.
  • Gewissen prüfen: Wer dauerhaft zu Praktiken gedrängt wird, die er als falsch empfindet, sollte mittelfristig den Arbeitsplatz wechseln.
  • Berufung entdecken: Viele scheinbar triviale Produkte (z. B. Kosmetik, Frühstücksflocken) können als verantwortungsvolle Kulturpflege begriffen werden, wenn sie ordentlich und menschenfreundlich vermarktet werden.
  • Präsenz leben: Christen dürfen und sollen am Arbeitsplatz glaubwürdig Zeugnis geben, jedoch ohne Türen aufzubrechen oder Kollegen zu bedrängen.
  • Lernphase akzeptieren: Jüngere Mitarbeitende müssen oft zunächst Erfahrungen sammeln, bevor sie ihr Umfeld aktiv mitgestalten können.

Verhältnis von Wahrheit und Verkaufstechnik

  • Wirksame Kommunikation „betritt“ zunächst das Weltbild des Gegenübers, um anschließend herausfordernde Aspekte zu zeigen.
  • Reine Anpassung ohne Konfrontation ist unehrlich; unmittelbare Konfrontation ohne Einstieg wird nicht gehört.
  • Diese Balance gilt gleichermaßen für Predigt, Verkaufsgespräch und jede Form von Öffentlichkeitsarbeit.

Denominationen als „Marken“ der Kirche

  • Historische Bekenntnisse helfen Außenstehenden, legitime christliche Gemeinden von Sondergruppen zu unterscheiden.
  • Eine klare konfessionelle Bezeichnung kann daher auch ein Akt der Transparenz und Vertrauensbildung sein.

Zusammengefasst: Christliche Marketingarbeit darf nicht bei technisch sauberer Kommunikation und allgemeinen Ethik-Kodizes stehen bleiben. Erst wenn sie in Gottes grosse Geschichte eingebettet ist, kann sie zwischen heilsamen und zerstörerischen Bedürfnissen unterscheiden, dem Trend zur Kommodifizierung widerstehen, echte Gemeinschaft fördern und die eigene Integrität langfristig bewahren.

Analyse: Einordnung und Auslegung der Bergpredigt

Die Bergpredigt (Matthäus 5-7) ist eine im Lauf der Kirchengeschichte stark diskutierte Redeeinheit von Jesus, an die Jünger gerichtet und mit den Prinzipien von Gottes Reich. In gewisser Weise wird die Welt auf den Kopf gestellt. Martin Lloyd-Jones setzt sich mit einigen Ansätzen zur Interpretation auseinander:

Grundlegendes Verständnis

  • Die Bergpredigt ist eine Beschreibung des Charakters und nicht ein Kodex der Ethik oder Moral.
  • Sie ist nicht als Gesetz zu betrachten – eine Art neue “Zehn Gebote” oder Regeln und Vorschriften.
  • Sie ist vielmehr eine Beschreibung dessen, was wir Christen sein sollen, illustriert in bestimmten besonderen Hinsichten.

Beispiel der falschen Anwendung

  • Menschen sagen: “Wenn dir jemand vor Gericht deinen Rock wegnehmen will, so lass ihm auch den Mantel” (Matthäus 5,40) – wenn man das täte, hätte man bald nichts mehr im Kleiderschrank.
  • Was gelehrt wird ist, dass ich in einem solchen Geist sein soll, dass ich unter bestimmten Umständen und Bedingungen genau das tun muss.

Die Beziehung zwischen Allgemeinem und Besonderem

  • Die Beziehung jeder besonderen Weisung zum ganzen Leben der Seele ist die Beziehung des Künstlers zu den besonderen Regeln und Gesetzen, die das regieren, was er tut.
  • Ein Mann kann ein Stück großer Musik völlig genau spielen und keine Fehler machen, aber man kann trotzdem sagen, dass er nicht wirklich Beethovens Mondscheinsonate gespielt hat.
  • Er spielte die Noten korrekt, aber es war nicht die Sonate – er verfehlte die Seele und die wirkliche Interpretation.

Negative Tests für die Interpretation

Erster Test: Argumentieren

  • Wenn man sich dabei findet, mit der Bergpredigt an irgendeinem Punkt zu argumentieren, bedeutet das entweder, dass etwas mit einem selbst nicht stimmt oder dass die Interpretation der Predigt falsch ist.
  • Wenn man diese Predigt an irgendeinem Punkt kritisiert, sagt man wirklich eine Menge über sich selbst aus.

Zweiter Test: Lächerlichkeit

  • Wenn unsere Interpretation irgendeine Weisung lächerlich erscheinen lässt, dann können wir sicher sein, dass unsere Interpretation falsch ist.
  • Nichts, was unser Herr jemals lehrte, kann lächerlich sein.

Dritter Test: Unmöglichkeit

  • Wenn man irgendeine besondere Weisung in dieser Predigt als unmöglich betrachtet, ist die Interpretation und das Verständnis wiederum falsch.
  • Unser Herr lehrte diese Dinge und erwartet, dass wir sie leben.
  • Seine letzte Weisung war: “Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker… und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe” (Matthäus 28,19-20).
  • Unser Herr selbst lebte die Bergpredigt, die Apostel lebten sie, und die Heiligen durch die Jahrhunderte haben sie nicht nur ernst, sondern wörtlich genommen.

Allgemeine Gliederung der Bergpredigt

Allgemeiner Teil (Matthäus 5,3-16)

  • Bestimmte breite Aussagen über den Christen.
  • Der Rest der Predigt beschäftigt sich mit besonderen Aspekten seines Lebens und Verhaltens.

Spezifische Unterteilung

  • Verse 3-10: Der Charakter des Christen an sich beschrieben (die Seligpreisungen).
  • Verse 11-12: Der Charakter des Christen, wie er durch die Reaktion der Welt auf ihn bewiesen wird (“Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen”).
  • Verse 13-16: Die Beziehung des Christen zur Welt oder die Funktion des Christen in der Gesellschaft (“Ihr seid das Salz der Erde”; “Ihr seid das Licht der Welt”; “So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten”).

Besondere Beispiele (Matthäus 5,17-7,29)

Der Christ und das Gesetz Gottes (5,17-48)

  • Der Christ steht dem Gesetz Gottes und seinen Forderungen gegenüber.
  • Eine allgemeine Beschreibung seiner Gerechtigkeit wird gegeben.
  • Seine Beziehung zu Mord, Ehebruch und Scheidung; wie er sprechen soll; seine Position zur Vergeltung und Selbstverteidigung; seine Haltung gegenüber seinem Nächsten.
  • Das Prinzip ist, dass der Christ sich primär um den Geist kümmert, nicht um den Buchstaben.
  • Der ganze Fehler der Pharisäer und Schriftgelehrten war, dass sie nur am Mechanischen interessiert waren.

Der Christ im Leben vor Gott (Kapitel 6)

  • Der Christ lebt sein Leben in der Gegenwart Gottes, in aktiver Unterwerfung unter Ihn und in völliger Abhängigkeit von Ihm.
  • Alles beschäftigt sich mit dem Christen in seiner Beziehung zum Vater.
  • Beispiel: “Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Leuten zu üben, um von ihnen gesehen zu werden; sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel” (Matthäus 6,1).
  • Am Ende: “Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen” (Matthäus 6,33).

Der Christ unter Gottes Gericht (Kapitel 7)

  • Der Christ als einer, der immer unter dem Gericht Gottes und in der Furcht Gottes lebt.
  • “Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.”
  • “Geht hinein durch die enge Pforte.”
  • “Hütet euch vor den falschen Propheten.”
  • “Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel.”

Drei fundamentale Prinzipien des christlichen Lebens

Erstes Prinzip: Beziehung zum Gesetz Gottes

  • Der Christ ist ein Mann, der sich notwendigerweise um das Halten von Gottes Gesetz kümmert.
  • Wir sind nicht “unter dem Gesetz”, aber wir sollen es trotzdem halten.
  • “Die Gerechtigkeit des Gesetzes soll in uns erfüllt werden”, sagt Paulus in Römer 8,3-4.
  • Christus kam “in der Gestalt des sündigen Fleisches… und verdammte die Sünde im Fleisch, damit die Gerechtigkeit des Gesetzes erfüllt würde in uns, die wir nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist.”

Zweites Prinzip: Leben in Gottes Gegenwart

  • Der Christ ist ein Mann, der immer lebt und sich bewusst ist, dass er in der Gegenwart Gottes ist.
  • Das ist der große Unterschied zwischen dem Christen und dem Nicht-Christen.
  • Der Christ ist ein Kind Gottes, so dass alles, was er tut, aus diesem Standpunkt heraus geschieht, Gott wohlgefällig zu sein.
  • Deshalb sollte der Christ alles, was ihm in dieser Welt geschieht, völlig anders betrachten als alle anderen.
  • Der Christ macht sich keine Sorgen um Nahrung, Getränk, Wohnung und Kleidung – nicht weil diese Dinge nicht wichtig wären, sondern weil sie nicht seine Hauptsorge sind.

Drittes Prinzip: Leben in der Furcht Gottes

  • Der Christ ist ein Mann, der immer in der Furcht Gottes wandelt – nicht knechtische Furcht, denn “die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus”.
  • Er nähert sich Gott “mit Ehrfurcht und gottesfürchtiger Furcht” (Hebräer-Verweis).
  • Der Christ ist der einzige Mensch in der Welt, der immer mit und unter diesem Gefühl des Gerichts lebt.
  • Verweis auf 2. Korinther 5,10: “Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse.”
  • “Wir müssen alle vor dem Richterstuhl Christi erscheinen”; “Da wir nun den Schrecken des Herrn kennen.”

Buchhinweis: Person und Handlung

Weniger bekannt, jedoch inhaltlich hochaktuell, ist das philosophisch-theologische Hauptwerk “Person and Act” von Karol Woytola (1920-2005; erster nicht-italienischer Papst nach 450 Jahren, Amtszeit von 1978-2005).

Dies sind zentrale Aspekte der Verbindung zwischen Person und Handlung:

  1. Person enthüllt sich im Handeln: Jede menschliche Handlung verweist auf einen personalen Akteur; Handlung setzt Person voraus und macht sie gleichzeitig sichtbar.
  2. Moralischer Charakter der Handlung: Handlungen besitzen intrinsisch moralische Qualität (gut oder böse); durch diese Qualität prägen sie die handelnde Person und lassen sie als moralisches Subjekt hervortreten.
  3. Wechselwirkung von Anthropologie und Ethik: Anthropologie und Ethik lassen sich nicht trennen, da die Erfahrung moralischer Werte unauflöslich mit der Erfahrung des Menschen verknüpft ist.
    Während die traditionelle Ethik die Person meist voraussetzt, geht die Studie umgekehrt vor: Sie will die Person aus der Analyse moralisch bewerteter Handlungen erschließen.
  4. Inneres und äußeres Erleben
    Die Selbst-Erfahrung des Ich ist einzigartig und von innen her gegeben; die Erfahrung anderer Menschen erfolgt von außen.
    Beide Perspektiven sind komplementär und müssen für ein vollständiges Verständnis der Person integriert werden.
  5. Bewusstsein und Wirksamkeit
    Handlung ist stets bewusstes Tun; daher muss jede Analyse der Handlung auch Bewusstseinsphänomene berücksichtigen.
    Gleichzeitig darf Bewusstsein nicht auf rein intentionale Inhalte verkürzt werden; entscheidend ist die reale Wirksamkeit des Subjekts in der Welt.
  6. Transzendenz und Integration
    In jeder Handlung überschreitet die Person ihre bloß psychophysische Komplexität und zeigt eine spezifische Transzendenz.
    Diese Transzendenz setzt eine innere Integration der Person voraus, die Körper, Psyche und Geist zu einer operativen Einheit verbindet.

Hier der Gedankenfluss der Kapitel 1+2:

  • Ausgangspunkt ist das unmittelbare Erlebnis des bewussten Tuns: „Ich handle“.
  • Dieses Erlebnis zeigt, dass Handeln stets subjektiv verankert und intersubjektiv verstehbar ist.
  • Menschliche Dynamik zerfällt phänomenal in zwei Grundstrukturen: Handeln (Aktivität) und Geschehen (Passivität).
  • Beide Formen entspringen demselben Subjekt und weisen deshalb trotz Gegensatzes auf eine tiefe Einheit.
  • Die aristotelische Potenz-Akt-Lehre erklärt jede Veränderung als Aktualisierung einer Möglichkeit.
  • Doch nur wo der Handelnde seine Wirksamkeit erlebt, sprechen wir von Handlung; andernfalls liegt bloße Aktivierung vor.
  • Das Erleben dieser Wirksamkeit begründet Verantwortung und moralische Zurechenbarkeit.
  • In jeder Handlung transzendiert der Mensch sein bloßes Geschehenlassen, bleibt seinem Tun aber immanent verbunden.
  • Metaphysisch vereinigen sich Handlung und Geschehen im einen ontischen Träger – der Person.
  • Der Begriff „Natur“ kennzeichnet das Angeborene und liefert die Basis jeder inneren Dynamik.
  • Während Person im bewussten Handeln hervortritt, wird Natur primär in unwillkürlichen Vorgängen sichtbar.
  • Eine strikte Gegenüberstellung von Person und Natur wäre künstlich, da beide im selben Subjekt integriert sind.
  • Natur befähigt überhaupt erst zur Personalität; alle personalen Akte wurzeln leiblich in ihr.
  • Umgekehrt verleiht die Person auch Naturvorgängen einen personalen Sinn.
  • Zur Erklärung dieser Einheit dient das Konzept der Potenzialität – des inneren Kraftvorrats des Menschen.
  • Potenzialität besitzt Vorrang vor Bewusstsein, denn sie wirkt auch dort, wo keine Reflexion stattfindet.
  • Zwei Hauptschichten sind zu unterscheiden: psycho-emotive und somato-vegetative Potenzialität.
  • Erstere spiegelt sich direkt im Bewusstsein, die zweite bleibt großteils unbewusst.
  • Bewusstsein erfüllt zweierlei: Es spiegelt Vorgänge (reflektive Funktion) und verinnerlicht sie als Erlebnis (reflexive Funktion).
  • Übersteigerte Emotionen können das spiegelnde Bewusstsein überfluten und die Selbst-Objektivierung schwächen.
  • Dennoch sorgt das Subbewusstsein dafür, dass auch unbewusste Impulse geordnet in das bewusste Handeln einfließen.
  • Die Person ist somit eine lebendige Synthese: Sie eint bewusste Wirksamkeit, unbewusste Aktivierungen und leibliche Prozesse.
  • In jeder Handlung gestaltet der Mensch sich selbst und stiftet seine moralische Identität.
  • Gleichzeitig bleibt er das Subjekt vieler Vorgänge, die sich seiner direkten Kontrolle entziehen, ihm aber dennoch zugehören.
  • Die Analyse zeigt, dass weder Bewusstsein noch Natur isoliert verstanden werden dürfen; ihre Integration ist konstitutiv für die menschliche Person.
  • Handeln, Geschehen, Potenzialität und Bewusstsein bilden zusammen ein dynamisches Geflecht, in dem der Mensch als Person erscheint.
  • Die aristotelisch-scholastische Metaphysik liefert dazu den ontologischen Rahmen, die phänomenologische Beobachtung die erlebnismäßige Evidenz.
  • Personale Freiheit und leib-seelische Verwurzelung sind daher keine Gegensätze, sondern komplementäre Dimensionen derselben Wirklichkeit.

Buchhinweis: Monumentale Studie zur Allgemeinen Gnade

Abraham Kuypers monumentale dreibändige Studie zur Allgemeinen Gnade (1902-1904; Teil I; Teil II; Teil III) leisten einen bedeutenden systematisch-theologischen Beitrag für die Kulturtheologie. Ich beschäftige mich nach Jahren erneut mit der biblischen Argumentationslinie. Hier sind einige Funde:

Herleitung: Die Allgemeine Gnade (gemeene gratie) entspringt der Langmut Gottes, der die Sünde zeitlich erträgt. Sie ermöglicht den Reformierten, sich aktiv in der Welt zu engagieren, ohne sich von ihr zu isolieren. Kuyper betont, dass diese Gnade nicht heilbringend ist und sich fundamental von der besonderen Gnade unterscheidet – sogar Tiere haben daran teil. Die Lehre löst das scheinbare Paradox, dass in einer völlig verdorbenen Welt dennoch Gutes existiert, und rechtfertigt christliche Weltgestaltung ohne Kompromisse bei der Sündenlehre.

(ergänzt aus Teil II) Kuyper entwickelt eine systematische Lösung für ein fundamentales theologisches Problem: die scheinbare Diskrepanz zwischen dem reformierten Bekenntnis über die totale Verderbtheit der menschlichen Natur und den empirischen Beobachtungen von Gutem in der Welt und Bösem in der Kirche. Die allgemeine Gnade wird definiert als Gottes Werk, das die Selbstvernichtung durch die Sünde zeitlich mäßigt, ohne jedoch etwas zur Seligkeit Führendes zu bewirken. Entscheidend ist, dass diese Gnade nicht gleichmäßig wirkt, sondern in verschiedenen Graden entsprechend der ursprünglichen Schöpfungsordnung und Gottes souveränem Willen. Die allgemeine Gnade wird somit als das Instrument beschrieben, durch das Gott trotz der Sünde den großen Plan der Menschheitsgeschichte vollendet und die Entwicklung des Menschengeschlechts aufrechterhält, ohne die dabei auftretenden Phänomene würde es keine kohärente Geschichte geben, sondern nur chaotische Auflösung.

Paradies und Sündenfall: Das Paradies wird nicht als mythisches Symbol, sondern als realer, geografisch begrenzter Ort beschrieben, der speziell für den Menschen angelegt war und vollkommene Harmonie ohne jegliches Leid aufwies. Die Erschaffung der Frau aus dem Mann wird als Ausdruck höchster Einheit gedeutet, nicht als nachträgliche Ergänzung, wodurch die ursprüngliche Harmonie der Geschlechter betont wird. Die Diskussion der ursprünglichen Lebensdauer dient dazu, die völlige Verschiedenheit der gefallenen von der ursprünglichen Menschennatur zu demonstrieren. Die fast tausendjährige Lebensdauer der ersten Generationen wird als historische Realität verteidigt. Der Tod wird kategorisch als Folge der Sünde verstanden, wodurch jede naturalistische Deutung des Todes als natürliches Phänomen abgelehnt wird. Dies führt zur Schlussfolgerung, dass ohne Sünde ein Übergang in die Herrlichkeit ohne Sterben stattgefunden hätte.Die Interpretation des Baumes des Lebens stellt den Höhepunkt der Argumentation dar, indem sie die übliche sakramentale Deutung als unzureichend verwirft. Stattdessen wird eine physikalisch-theologische Interpretation vorgeschlagen: Der Baum des Lebens besaß reale Kraft zur körperlichen Transformation, während der Baum der Erkenntnis das geistliche Bewusstsein betraf. Diese Unterscheidung erklärt sowohl die unterschiedlichen Gebote (essen vs. nicht essen) als auch die Notwendigkeit der Vertreibung nach dem Fall. 

Bund mit Noah: Der Noachitische Bund (Genesis 9) wird als historischen und theologischen Angelpunkt etabliert. Noah wird als zweiter Stammvater konzipiert, nach dem eine völlig neue Weltordnung eintritt, die bis zur Wiederkunft Christi Bestand haben wird. Entscheidend ist seine Unterscheidung zwischen sachlichem Inhalt und geistlicher Zielsetzung: Der Bund verspricht nur natürliche, zeitliche Güter (Schutz vor Weltkatastrophen), zielt aber letztlich auf Gottes Verherrlichung durch sein Erlösungswerk ab.

Abimelech: Die Allgemeine Gnade erklärt, wie Gott die Auswirkungen der Sünde mäßigt, ohne die Sünde selbst zu beseitigen. Zentral ist dabei die Unterscheidung zwischen Wesen und Natur des Menschen: das menschliche Wesen bleibt trotz des Falls intakt und erlösungsfähig, aber die Natur – verstanden als die Wirkungsrichtung der menschlichen Kräfte – ist völlig pervertiert worden.

Die Wirkungsweise der allgemeinen Gnade wird am biblischen Beispiel Abimelechs konkretisiert, wo Gott direkt und nicht-ethisch in das Geschehen eingreift, um Sünde zu verhindern. Diese Einwirkung geschieht nicht durch moralische Überzeugung oder Gewissenswirkung, sondern als reine Machtdemonstration Gottes, der die in verkehrte Richtung wirkenden Schöpfungskräfte zügelt. Entscheidend ist, dass alle Kräfte, auch die sündigen, ursprünglich von Gott geschaffen sind und kontinuierlich von ihm erhalten werden – Sünde ist nicht die Schaffung neuer Kräfte, sondern die Umkehrung der Richtung gottgeschaffener Kräfte. Die allgemeine Gnade wirkt daher durch natürliche Mittel, indem Gott die Intensität der Kraftwirkung variiert.

(aus Teil II) Alternative Gesamterklärungen werden auf dieser Basis kritisiert:

Der Modernismus wird als gescheiterte optimistische Bewegung dargestellt, die das Böse aus Unwissenheit statt aus Bosheit erklärte und durch Bildung und Aufklärung eine goldene Zukunft versprach. Der versprochene Fortschritt blieb jedoch aus – stattdessen stiegen Verbrechen, Selbstmorde und Krankheiten, was zu einem reaktionären Pessimismus führte, der die Welt als grundsätzlich elend und hoffnungslos beschreibt.

Die römisch-katholische Lösung wird als subtiler, aber letztendlich ungenügender Ansatz kritisiert, der durch einen fundamentalen Dualismus zwischen Natur und Übernatur geprägt ist. Rom unterscheidet zwischen der natürlichen menschlichen Ausstattung und der zusätzlich verliehenen “ursprünglichen Gerechtigkeit” (donum superadditum), wodurch nach dem Sündenfall die natürliche Ausstattung zwar geschwächt, aber nicht völlig korrumpiert wurde. Dies führt zu zwei getrennten Lebenssphären: der natürlichen Gesellschaft, die aus eigener Kraft gewisse bürgerliche Tugenden hervorbringen kann, und der kirchlichen Sphäre, die übernatürliche Gnade vermittelt. 

Die täuferische Alternative wird als dualistisches System kritisiert, das zwischen einer bösen Welt und einem heiligen Bereich der Kirche scharf trennt und zur “Meidung” weltlicher Angelegenheiten führt. Dieser Dualismus wird historisch auf das System des Exorzismus und der Weihe zurückgeführt, das zwischen geweihtem und ungeweihtem Bereich unterscheidet. Die reformierte Position verwirft diese Unterscheidung und interpretiert die alttestamentlichen Reinigungsgesetze als symbolisch-prophetische Abschattungen der neutestamentlichen Wirklichkeit, nicht als real wirksame Instrumente. 

Buchhinweis: Faszinierendes Werk über die dokumentierte 4000-jährige jüdische Geschichte

Der Historiker Paul Johnson (1928-2023) schrieb eine Geschichte der Juden. Er nennt vier Hauptgründe für sein Werk: 1) persönliche Neugier und das Erkennen der starken Abhängigkeit des Christentums vom Judentum, 2) die fast 4 000-jährige Ausdehnung jüdischer Geschichte, 3) die weltweite Streuung des Volkes, aus der sich eine „Geschichte von unten“ ergibt, und 4) die Frage, ob Geschichte einen moralischen Zweck hat, die sich am hartnäckigen jüdischen Beharren auf einem göttlichen Plan prüfen lässt.

Hebron als Querschnittsbeispiel

  • Hebron liegt 20 Meilen südlich von Jerusalem und rund 900 m über dem Meeresspiegel.
  • Dort befinde sich seit ca. 4 000 Jahren das Doppelgrab der Patriarchen; Herodes errichtete darum um 20 v. Chr.eine mächtige Mauer.
  • Verfolgungen: Verbot des Höhleneingangs 1266, osmanisches Massaker 1518, arabische Pogrome 1929 und 1936.
  • Nach 1967 (Sechstagekrieg) kehrten erstmals wieder Juden zurück; die heutige Siedlung entstand 1970.

Historische Quellen

Archäologische Funde des 20. Jahrhunderts bestätigen zahlreiche Orts- und Sachangaben, und die Beweislast kehrte sich um; Texte werden seither eher als historischer Kern denn als Mythos behandelt.

Einige Beispiele:

  • Tontafelfunde in Ninive (1872) und weitere Keilschrifttexte (1965) belegen ein Flut-Epos.
  • Archäologischer Befund: 8 m Schlamm in Ur (4000–3500 v. Chr.) sowie Flutschichten in Kish und Schuruppak.
  • Ur-Nammu (3. Dynastie von Ur) herrschte 2060–1950 v. Chr.; sein Zikkurat stimmt mit der Turmbau-Erzählung überein.
  • Mari-Archiv (≈ 19.–18. Jh. v. Chr., ausgegraben 1933), Nuzi-Texte (16.–15. Jh. v. Chr.) und Ebla-Tafeln (24.–23. Jh. v. Chr.) spiegeln dieselben Bräuche wie in Genesis: Adoption eines Hausknechts als Erben, Verkauf des Erstgeburtsrechts, Leihmutterschaft; typische Spannungen über Weiderechte und Wasserbrunnen (z. B. Streit mit Abimelech, Genesis 21).
  • Stadt Schechem war spätestens seit Sesostris III (1878–1843 v. Chr.) befestigt; Jakobssöhne erobern sie (Genesis 34) – wohl erste dauerhafte israelitische Stadt in Kanaan.
  • Ramses II (1304–1237 v. Chr.) ließ in Pi-Ramesse und Pithom gigantische Speicherstädte bauen und setzte „Habiru“ als Zwangsarbeiter ein (Papyrus Leiden 348). Der Auszug wird in die zweite Hälfte des 13. Jh. v. Chr. datiert; bis ca. 1225 v. Chr. war er abgeschlossen. Die Merenptah-Stele von 1220 v. Chr. nennt „Israel“ außerhalb Ägyptens – erster außerbiblischer Beleg des Namens.

Vergleich der Rechtsordnungen

Im Unterschied zu älteren Kodizes (Ur-Nammu ≈ 2050 v. Chr., Eschnunna ≈ 1920 v. Chr., Hammurabi 1728–1686 v. Chr., Mittelassyrische Gesetze 15. Jh. v. Chr.)

  • schützt die Tora kompromisslos das Menschenleben; Mord ist stets todeswürdig, Eigentumsdelikte nie,
  • kennt keine Vertretungs- oder Klassenjustiz,
  • begrenzt Körperstrafen (max. 40 Hiebe, Deuteronomium 25, 3).

Ägypten bot materielle Sicherheit, aber keine kodifizierte Rechtsordnung; Macht lag willkürlich beim Pharao. Mesopotamien entwickelte schon im 3.–2. Jt. v. Chr. schriftliche Gesetzescodes, blieb jedoch polytheistisch ohne klare Ethik. Die Israeliten verbanden schriftliches Recht mit einem einzigen, ethisch handelnden Gott und brachten so eine neue Weltanschauung hervor.

Buchhinweis: Studie zum Pelagianischen Konflikt

Ron Kubsch hat kürzlich auf die neue Augustinus-Studie “Inimici gratiae Dei – Augustinus’ Konstruktion des Pelagianismus und die Entwicklung seiner Gnadenlehre nach 418” hingewiesen. Ich habe mir den Schunken zum überblicksmässigen Lesen und Analyse vorgenommen. Das Kernstück umfasst eine sorgfältige Analyse der Schwellenschrift “Contra epistulas Pelagianorum” (418 n. Chr.). Das Ziel des Werks ist die Schaffung einer neuen Grundlage durch systematische Erschliessung dieser Schwellenschrift.

Hier sind einige Funde, welche mir methodologisch (eigenes Vorgehen zur Analyse) und inhaltlich (Theologie der Sünde) weitergeholfen haben:

A) Die Position von Julian als Ankläger von Augustinus

  • Augustinus’ Position (laut Julian): Lehre vom peccatum primi hominis (Sünde des ersten Menschen) beinhaltet Zwang zur Sünde ohne Möglichkeit gerecht zu leben
  • Julians Position: Liberum arbitrium (freier Wille) ist unverlierbar und natürlich

Weitere Kernpunkte:

  1. Ehe und Sexualität: Von Gott zum gottgefälligen Leben eingerichtet, daher sündlose Zeugung möglich
  2. Schöpfungstheologie: Sexualität und Fortpflanzung als göttlich geschaffen
  3. Heilige des Alten Testaments: Als Belege für Möglichkeit gerechten Lebens
  4. Gnadenlehre: Gratia adiuvans (helfende Gnade) unterstützt den Gutwilligen, propria voluntas als freie Entscheidungsinstanz
  5. Christologie: Vorwurf, Augustinus lehre sündhaften Christus
  6. Taufe: Verteidigung der Taufnotwendigkeit gegen Vorwurf wirkungsloser Taufe
  7. Tradux peccati: Kritik an Augustinus’ Lehre einer radix peccatorum (Wurzel der Sünden) trotz Taufe
  • Rollentausch: Julian stellt sich als mahnender Verteidiger der Gemeinde dar
  • Augustinus als Eindringling: Gruppe um Augustinus als manichäische Irrlehrer

B) Fünf Kernthemen des augustinischen Antipelagianismus

1. Gnade und Willensvermögen

  • Menschen können sich nicht durch Schöpfungsgaben Gnade verdienen
  • Gnadenbedürftigkeit aller Menschen

2. Gnade und Gesetz

  • Betonung der souveränen Gnadengabe Gottes

3. Sünde und Gnadenbedürftigkeit

  • Erbsündenlehre (tradux peccati originalis) als zentraler Streitpunkt
  • Julians fünf Lobpreisungen (laudes): laus creaturae, laus nuptiarum, laus liberi arbitrii, laudes legis et sanctorum
  • Grunddissens: Ausmaß der Schädigung der menschlichen Konstitution durch Adams Sündenfall

4. Gnade und Paulus

  • Paulusexegese: Besonders Römer 7 und Philipper 3
  • Paulus als Paradigma der Gnadenlehre
  • Vorwurf: Pelagianer würden Paulus falsch auslegen

5. Gnade und Vollkommenheit

  • Augustinus’ Heilsstadienlehre: Mensch bleibt trotz Gnade mit Konkupiszenz und Sterblichkeit behaftet
  • Progressive Besserung: Vollkommenheit erst im Eschaton
  • Vorwurf an Pelagianer: Hochmütiges Wähnen in eschatologischem Zustand

Christozentrische Bestimmung

  • Alle fünf Themenschwerpunkte in Wechselwirkung mit der Frage nach Christi Sein und Wirken
  • Vorwurf der Christus-/Kreuzesfeindlichkeit als Synthese von Augustinus’ Konstruktion des Pelagianismus

C) Vergleichspunkte von Manichäern und Pelagianern

Augustinus stellt sieben Vergleichspunkte dar:

Gegenextreme (a-d): a) Schöpfungs- und Gnadenlehre: Manichäer leugnen Gott als Schöpfer, Pelagianer machen ihn als Erlöser überflüssig b) Heilungsbedürftigkeit vs. Heilungsfähigkeit: Beide leugnen Sünde als vitium unterschiedlich c) Liberum arbitrium: Manichäer schreiben Böses nicht dem Willen zu, Pelagianer überschätzen Willensfähigkeit d) Seelenzustand: Manichäer sehen Seele als particula Dei, Pelagianer als sündlos

Gemeinsamkeiten (e-g): e) Christozentrische Soteriologie: Beide setzen auf merita (Verdienst) statt Gnade f) Taufnotwendigkeit: Beide leugnen sie aus verschiedenen Gründen g) Caro Christi: Beide entwürdigen Christi menschliche Natur unterschiedlich