Klaus Bockmühl im Schlusskapitel seiner Analyse der Ethik der Reformatoren “Gesetz und Geist: Eine kritische Würdigung des Erbes protestantischer Ethik”, über Luthers Sichtweise:
Zehn Gebote sind das Fundament christlicher Ethik
- Dass die christliche Ethik ihr Fundament in den Zehn Geboten hat, ist überzeugend von Luther dargelegt worden.
- Man wird ein Studium des ersten Hauptstücks des Großen Katechismus allemal mit größter Hochachtung, ja mit Bewunderung beenden.
- Wer an einer Erneuerung der Ethik aus dem Geist der Heiligen Schrift denkt, wird sich im klaren darüber sein, dass alle christliche Ethik künftig nur über Luther hinaus, aber nicht an ihm vorbeigehen kann.
Luthers weitreichende Ansprüche
- Luther hielt die Zehn Gebote für solche, “in quibus prorsus omne mandatum salutare continetur.” („in denen jedes heilbringende Gebot vollständig enthalten ist.“)
- In der “Kurzen Form” von 1520 heißt es, dass in den drei Stücken “alles was einem Christen not ist zu wissen, gründlich und überflüssig begriffen ist.”
- Der Katechismus biete eine Summa dessen, “was der Christen Lehre, Leben, Weisheit und Kunst sei.”
Identifikation von Dekalog und christlicher Ethik
- Luther kann sagen: “Bisher haben wir gehöret das erste Stück christlicher Lehre und darinne gesehen alles, was Gott von uns will getan und gelassen haben.”
- Der Dekalog sei “ein kurz Summarium aller Tugenden.”
- Es ist eben diese Alleingeltung des Dekalogs, gegen die Vorbehalte angemeldet werden müssen.
Das Bild vom “Born und Rohr”
- Luther behauptet, die Zehn Gebote seien “der rechte Born und Rohre, aus und in welchen quellen und gehen müssen alles, was gute Werke sein sollen.”
- Das Bild vom Rohr trifft zu, dasjenige vom Born ist problematisch.
- Man kann Luther beipflichten, wenn er meint, dass alle guten Werke “in,” d.h. in den Rahmen der Zehn Gebote “gehen müssen.”
Grenzen der synekdochischen Auslegung
- Was leistet die Auslegung des Dekalogs ? Das faktische Fehlen großer Teile der neutestamentlichen Paränese im ersten Hauptstück beweist, dass dieses Auslegungsprinzip eine umfassende Repräsentation biblischer Ethik nicht zu verbürgen vermag.
- Die affirmative Auslegung des Dekalogs erfasst nicht ohne weiteres schon den ganzen Inhalt der neutestamentlichen Paränese.
- Die im Kleinen Katechismus angehängte Haustafel ist nur ein Rest derselben.
Problem der Geistesleitung
- Der andere Einwand betrifft die vollständige Verschlossenheit des ersten Hauptstücks gegen die biblische Möglichkeit einer individuellen Weisung des Heiligen Geistes in der je gegebenen Situation.
- Wo der Dekalog allein bleibt, ohne ein bewegliches Erkenntnisprinzip für die positive Erfüllung der Gebote in der jeweiligen Lage, degeneriert die Ethik zur Kasuistik und zum Legalismus.
Notwendigkeit der Geistesgabe
- Die Auslegung des Dekalogs durch Synekdoche (ein Teil für das Ganze) produziert nicht so etwas wie die Weisungen, die Gott an die Erzväter und Propheten oder die der Geist Jesu an die Apostel und Missionare ergehen lässt.
- An dieser Stelle muss damit Ernst gemacht werden, dass die Christenheit in der Gabe des Heiligen Geistes etwas besitzt, das die Gabe der Zehn Gebote überragt.
- Das Pfingstereignis von Jerusalem ist die überbietende Parallele zu der Gottesbeziehung Israels am Sinai.
Trinitarische Ethik
- Luther wies wenigstens in der Neuen Vorrede zum Großen Katechismus auf den Weg zur Entfaltung der Zehn Gebote durch den Geist als Lehrer hin.
- Gerhard von Zezschwitz kam auf den Gedanken, von einer katechetischen Trias “Mose – Christus – der Geist” zu sprechen.
- Es legt sich eine durchgehende Relevanz der Trinität für die Ethik nahe: Sie besteht aus Gebot Gottes, der Weisung Jesu und dem mandatum concretissimum des Heiligen Geistes.
Schlussbewertung
- Wir beenden das Kapitel mit hoher Wertschätzung und Respekt vor dem ethischen Hauptstück der Katechismen Luthers.
- Wir erkennen mit Luther die unverminderte Geltung der Zehn Gebote an.
- Das hebt die namhaft gemachte pia desideria einer Reform protestantischer Ethik im Horizont biblischer Direktiven nicht auf.