Kürzlich starb der schottische Moralphilosoph Alasdair McIntyre (1929-2025). Hier sind einige interessante biografische Angaben aus der ersten Lebenshälfte des grossen Denkers:
- Frühe Bildung und erste Politisierung: 1942 – 1944 besuchte MacIntyre das Internat Epsom College, wo ihn die Söhne der britischen Mittelschicht prägten – eher negativ. 1945 – 1949 studierte er Klassische Philologie am Queen Mary College (London) und an der Universität Manchester und trat dort der Communist Party of Great Britain (CPGB) bei.
- Schnelle Ernüchterung im Kommunismus: Die Trials in Osteuropa (Prag-Putsch 1948, Rajk-Prozess 1949) veranlassten ihn, die CPGB innerlich aufzugeben und sich auf eine akademische Laufbahn zu konzentrieren.
- Lehrstellen & Orte: Dozenturen in Manchester und Leeds; 1958–61 engagierter Mit- und Chef-Redakteur von The New Reasoner / Universities and Left Review (später New Left Review), Rückzug kurz vor deren Fusion.
- Parteipolitische Zickzack-Phase:
- 1958 Eintritt in die trotzkistische Socialist Labour League (Gerry Healy), rascher Ausstieg wegen Autokratietendenzen.
- Anschließend Co-Herausgeber von International Socialism (Tony Cliff-Gruppe).
- Aktivismus & Konflikte: 1968 Dekan an der Protesthochschule University of Essex; wurde von Studierenden wegen seiner widersprüchlichen Haltung (Verurteilung wie Rechtfertigung von Gewalt) öffentlich bloßgestellt.
- Medienpräsenz: Kommentator der BBC, wo er Harold Wilson (Labour) als technokratischen “Fetischisten des BIP” angriff.
- Bruch mit dem Marxismus: 1968/69 Austritt aus allen linken Gruppen, Umzug in die USA, Veröffentlichung von Marxism and Christianity (1971) mit dem Bekenntnis, Marxismus aufgegeben zu haben.
- Kontroverse Kooperationen: Regelmäßiger Autor des von der CIA mit-finanzierten Encounter-Magazins – Motto “weder Washington noch Moskau”.
- Politischer Rückzug: Seit 1971 keine Parteipolitik mehr; Lehre an US-Universitäten, geistige Neuorientierung Richtung Aristoteles, Thomas von Aquin und katholische Soziallehre.
MacIntyre synthetisiert u. a. zwei klassische Diagnosen der Moderne – Marx’ Klassenanalyse und Webers Bürokratietheorie – gezielt, um ein gemeinsames Grundübel freizulegen: die Verwandlung sozialer Beziehungen in berechenbare Mittel für externe Zwecke.
1. Der Markt als Paradigma instrumenteller Rationalität
Marx zeigt, dass im Kapitalismus jedes Gut – einschließlich menschlicher Arbeit – eine Tauschwert-Hülle erhält. Die zentrale Frage lautet nicht mehr Was ist gut?, sondern Wie viel ist es wert? Diese Wert-Logik nivelliert qualitative Unterschiede und unterminiert traditionelle Bindungen (Familie, Zunft, Dorf), weil sie sie in monetäre Größen übersetzt. Solidarität wird so zur Kostenposition: Sobald sie den Profit mindert, gilt sie als irrational.
2. Die Bürokratie als spiegelbildliches Gegenstück
Weber diagnostiziert, dass der moderne Staat auf regelgebundene, sachliche Zuständigkeit setzt. Hier zählen Qualifikationstabellen, Aktenvermerke, Durchlauf- und Deckungsbeiträge – Kategorien, die denselben abstrakten Effizienzcode benutzen wie der Markt. Das Verwaltungsamt hat dabei keine intrinsische Zweckdebatte mehr zu führen; es „bedient das Getriebe“. Persönliche Loyalitäten oder ethische Erwägungen gelten als Korruptionsrisiko.
3. MacIntyres Synthese
- Gleiche Logik: Für MacIntyre verkörpert der staatliche Planungsapparat – egal ob sozialdemokratisch oder staatssozialistisch – das gleiche means–end-Schema wie private Konzerne. Nationalisierung ändert daher bloß den Eigentümer, nicht die Rationalitätsstruktur.
- Doppelte Entfremdung: Arbeiter werden im Markt zu Waren, Beamte in der Behörde zu „Funktionsträgern“. In beiden Fällen verschwinden die internen Güter (Stolz auf ein gelingendes Handwerk, kollegiale Verantwortung, lokales Ethos), die eine Praxis für MacIntyre eigentlich definieren.
- Scheitern der sozialdemokratischen Hoffnung: Die Labour-Strategie, Kapital durch staatliche Kontrolle zu zähmen, erweist sich als Illusion: Sobald Lohnarbeit und Verwaltung nach denselben Output-Kennzahlen funktionieren, entsteht keine demokratische Teilhabe, sondern nur ein anders etikettiertes Management.
4. Konsequenz: Rückkehr zu praxis-getragenen Gemeinschaften
Weil sowohl Markt als auch Bürokratie Menschen zu austauschbaren „Ressourcen“ machen, fordert MacIntyre kleinräumige Verbünde – Werkstatt, Gilde, Kloster –, in denen Ziel und Mittel zusammenfallen: „Nur wo der Handelnde das Gute seiner Tätigkeit selbst verfolgt, kann Vernunft praktischen Rang behalten.“
So werden Marx’ Entfremdungsdiagnose und Webers Rationalisierungsangst bei MacIntyre zu einer einheitlichen Kritik: Die Moderne leidet nicht an zu viel Staat oder zu viel Markt, sondern an derselben entseelten Zweckrationalität in beiden Sphären, die wahre Solidarität und Tugendpraxis zugleich untergräbt.
Ich kann das (kürzere) Buch Alasdair MacIntyre: An Intellectual Biography sehr empfehlen.