Input: Wie (auch untergründige) naturalistische Annahmen unser Bibelverständnis beeinflussen

Aus Vern Poythress’ Studie “Inerrancy and Worldview” lernte ich, wie stark eine – manchmal unbewusst von der Umgebung übernommene – naturalistische Grundhaltung die Perspektive auf die Bibel ungünstig beeinflussen kann:

Eine unpersönliche Weltsicht setzt Wissenschaft, Geschichte, Sprache und Kultur als gott-abwesende, mechanische Ordnungen. Damit wird die Bibel als bloß menschliches Produkt umgedeutet und ihre eigenen Aussagen über Gottes persönliches Sprechen, Handeln und Autorität werden systematisch entwertet. 

Wissenschaft als unpersönliches Gesetz

  • Impersonalismus versteht Naturgesetze als mechanische, gottunabhängige Regeln. Wunder gelten dann als „Verstöße“ und werden prinzipiell ausgeschlossen. So werden biblische Wundererzählungen als Fehler oder Mythos gelesen. 
  • Der Wechsel von „persönlichem Gesetzgeber“ zu „unpersönlichem Gesetz“ verschiebt die Deutung der Welt. Die Bibel soll naturwissenschaftlich-quantitative Erklärungen liefern, andernfalls gilt sie als defizitär. 
  • Materialismus erhebt eine methodische Engführung der Naturwissenschaften zur Metaphysik. Dadurch erscheint nur das Materielle als „tiefste“ Realität, und biblische Aussagen über Sinn, Zweck und Gottesrede werden als sekundäre, menschliche Zuschreibungen behandelt. 

Sprache und Objektivität

  • Moderne Ideale unpersönlich-objektiver Wahrheit machen personale Perspektive verdächtig. Wegen stilistischer und perspektivischer Unterschiede werden deshalb z. B. Evangelien und Propheten als unzuverlässig eingestuft. 
  • Wenn Sprachregeln als unpersönlich und Gott-abwesend gedeutet werden, entsteht ein „sprachliches Gefängnis“: Selbst falls Gott spräche, könne man ihn nicht erkennen. So wird die Bibel per Prinzip als unzureichendes Medium göttlicher Rede etikettiert. 
  • Poythress’ Entgegnung: Sprache ist von Gott gegeben und gerade deshalb fähig, Gottes Wahrheit zu tragen. Impersonalistische Prämissen blenden diese Geber-Dimension aus und erzeugen erst die „Unverständlichkeit“ göttlicher Rede. 

Geschichte, Kultur & Sozialwissenschaften

  • Die Ausweitung unpersönlicher Erklärungsmuster von der Natur- auf die Sozialwissenschaft führt dazu, Geschichte, Gesellschaft, Kultur und Kognition als geschlossene Systeme ohne Gotteswirken zu behandeln. Bibeltexte werden dann als rein kulturelle Artefakte gedeutet. 
  • Diese Prämisse wirkt in der Exegese zirkulär: Man setzt Gottes Abwesenheit voraus, schließt daraus eine „bloß menschliche“ Bibel und bestätigt damit die Ausgangsannahme. So entsteht eine gesellschaftlich gestützte Illusion, die Autorität der Schrift zu unterminieren. 
  • Dieser Struktur-Shift (von Geschichte zu „Struktur“) verstärkt diese Tendenz. Synchrone, systemische Modelle werden als gott-neutrale „Gesetze“ der Sprache/Kultur gelesen; biblische Geschichtsansprüche werden entkernt. 

Neo-orthodoxer Kunstgriff der indirekten Begegnung

Um die moderne, impersonalistische Matrix zu wahren, wird oft ein „Gott der indirekten Begegnung“ postuliert: Die Bibel bleibt menschlich-fehlbar, dient aber als Anlass für eine mystische Erfahrung. Das bewahrt die modernen Annahmen und relativiert die Schrift. 

Christologie als Lackmustest

Wenn „Gesetz“ unpersönlich gefasst ist, kann Jesus nicht als personaler Schöpfer-Wortträger verstanden werden. Seine Lehre gilt dann als kulturgefangen und nicht als unmittelbare Selbstoffenbarung Gottes. Das verschiebt Bibel- und Christusverständnis zugleich.

Theologische Kerndiagnose

  • Impersonalismus ersetzt den persönlichen Gesetzgeber durch unpersönliche Gesetzlichkeit. Das ist, so Poythress, eine religiöse Substitution nach Römer 1 und erzeugt die kulturell „plausible“ Degradierung der Schrift zur Menschenrede. 
  • Wissenschaft „funktioniert“ dennoch, weil sie unbewusst von der göttlichen Ordnung borgt. Der Erfolg der Methode wird aber irrtümlich als Beleg für die vollständige Richtigkeit des unpersönlichen Deutungsrasters genommen und gegen die Bibel gewendet. 
Fazit
  • Impersonalistische Grundannahmen steuern Fragestellung, Methoden und Plausibilitätsrahmen. So kippt die Bibel von Gottes persönlichem Wort zur menschlichen Kulturleistung. Die Verschiebung ist nicht Beweis, sondern Ergebnis der vorausgesetzten Weltsicht. 
  • Wer die impersonalistische Prämisse teilt, wird in der Auslegung konstant gegen biblische Selbstansprüche voreingenommen sein. Wer dagegen den personalen Gott als Urheber annimmt, kann Autorität, Wunder, Offenbarung und Einheit der Schrift kohärent verstehen. 

Input: John Frame zu Alter der Schöpfung und Evolution

John Frame (* 1939) gehört zu den Autoren, die ich in einer jährlichen Reprise wieder lese bzw. mir anhöre. Bei einem Waldspaziergang so geschehen zu Kapitel 10 seiner Systematic Theology (Lehre der Schöpfung). Seine Ehrlichkeit und das nuancierte Abwägen eines solchen Schwergewichts sind mir Modell für die eigene Haltung.

a) Zum Alter der Schöpfung und zur Deutung der Schöpfungstage

Zu seiner Qualifikation und Unsicherheit:

“I have no new insight on these issues, nor even any view on the matter that I could argue with confidence. I would direct readers to the many other scholars who are producing articles and books on these subjects. Frankly, I tend to be persuaded by the last person I have listened to (Prov. 18:17)!”

Übersetzung: “Ich habe keine neue Einsicht in diese Fragen, noch nicht einmal eine Ansicht zu dieser Sache, die ich mit Überzeugung vertreten könnte. Ich würde die Leser an die vielen anderen Gelehrten verweisen, die Artikel und Bücher zu diesen Themen verfassen. Ehrlich gesagt, neige ich dazu, von der letzten Person überzeugt zu werden, der ich zugehört habe (Spr 18,17)!”

“I am even less well equipped than in the last case to deal adequately with the remaining “hot-button” issues, namely, the age of the earth and evolution. The reason, alongside the fact that I tend to leave hot-button issues to other people, is that I don’t have much scientific training, aptitude, or knowledge. Of course, I don’t think theological conclusions should be based on scientific theories. But someone who writes on the age of the earth and on evolution is entering areas of vigorous debate about scientific claims. One cannot deal with these questions in a satisfying way unless he is able to relate his exegetical conclusions to the scientific discussion. In that respect, my treatment of these issues here will be inadequate.”

Übersetzung: “Ich bin noch weniger gut ausgerüstet …, um angemessen mit den verbleibenden ‘heißen Eisen’ umzugehen, nämlich dem Alter der Erde und der Evolution. Der Grund ist, neben der Tatsache, dass ich dazu neige, heiße Eisen anderen Leuten zu überlassen, dass ich nicht viel wissenschaftliche Ausbildung, Begabung oder Training habe. Natürlich denke ich nicht, dass theologische Schlussfolgerungen auf wissenschaftlichen Theorien basieren sollten. Aber jemand, der über das Alter der Erde und über Evolution schreibt, betritt Bereiche lebhafter Debatten über wissenschaftliche Behauptungen. Man kann diese Fragen nicht auf befriedigende Weise behandeln, wenn man nicht in der Lage ist, seine exegetischen Schlussfolgerungen zur wissenschaftlichen Diskussion in Beziehung zu setzen. In dieser Hinsicht wird meine Behandlung dieser Themen hier unzulänglich sein.”

Zu seiner aktuellen Position:

“My exegetical position at the moment is that the earth is young, rather than old. I argued above that the creation narrative suggests a week of ordinary days, and that there is no compelling evidence against that interpretation.”

Übersetzung: “Meine exegetische Position im Augenblick ist, dass die Erde jung ist eher als alt. Ich habe .. argumentiert, dass die Schöpfungserzählung eine Woche gewöhnlicher Tage nahelegt und dass es keine zwingenden Beweise gegen diese Interpretation gibt.”

Zu seiner Zurückhaltung bezüglich Dogmatismus:

“I myself see no reason to suppose that the creation week was longer than a normal week. But I see no reason either to require that view as a test of orthodoxy.”

Übersetzung: “Ich selbst sehe keinen Grund anzunehmen, dass die Schöpfungswoche länger war als eine normale Woche. Aber ich sehe auch keinen Grund, diese Ansicht als Test der Rechtgläubigkeit zu verlangen.”

“But I think it unwise to dogmatize on just how far to take this analogy, that is, how precisely to take the correspondence between God’s workdays and ours.”

Übersetzung: “Aber ich halte es für unklug, darüber zu dogmatisieren, wie weit diese Analogie zu treiben ist, das heißt, wie genau die Entsprechung zwischen Gottes Arbeitstagen und unseren zu nehmen ist.”

Zum Zweck der Genesis-Erzählung:

“In all this discussion, we should remind ourselves that God, speaking through Moses in Genesis 1–2, has a purpose, namely, to display God’s glory in his creative work and to provide background for the narrative of the fall. It is certainly not the primary purpose of the narrative to tell us precisely how God made the world, when he did it, how long it took, and how all of this relates to the theories of modern science.”

Übersetzung: “In all dieser Diskussion sollten wir uns daran erinnern, dass Gott, der durch Mose in Genesis 1-2 spricht, einen Zweck hat, nämlich Gottes Herrlichkeit in seinem Schöpfungswerk zu zeigen und den Hintergrund für die Erzählung vom Sündenfall zu liefern. Es ist sicherlich nicht der primäre Zweck der Erzählung, uns präzise zu sagen, wie Gott die Welt gemacht hat, wann er es tat, wie lange es dauerte und wie all dies zu den Theorien der modernen Wissenschaft in Beziehung steht.”

b) Zur Evolution

Zu seiner wissenschaftlichen Qualifikation:

“Although I am not well equipped to judge scientific evidence, I will simply add that as a layman I am not convinced by the evidence presented to me for evolution.”

Übersetzung: “Obwohl ich nicht gut ausgerüstet bin, wissenschaftliche Beweise zu beurteilen, füge ich einfach hinzu, dass ich als Laie nicht von den mir für die Evolution vorgelegten Beweisen überzeugt bin.”

Zu den Beweisen:

“Evidence for macroevolution, the derivation of all living organisms from the simplest by natural selection and mutation, seems to me to be sketchy at best.”

Übersetzung: “Die Beweise für Makroevolution, die Ableitung aller lebenden Organismen von den einfachsten durch natürliche Selektion und Mutation, scheinen mir bestenfalls dürftig zu sein.”

Zum Grund der Überzeugungskraft der Evolutionstheorie:

“Further, I agree with Phillip Johnson that the real persuasive power of the theory of evolution is not based on evidence, but rather on its being the only viable naturalistic alternative to theism. Of course, that consideration carries no weight with me, nor should it influence any other Christian to view the theory favorably. Indeed, it should make us very open to criticism of the theory.”

Übersetzung: “Weiterhin stimme ich mit Phillip Johnson überein, dass die wirkliche Überzeugungskraft der Evolutionstheorie nicht auf Beweisen beruht, sondern vielmehr darauf, dass sie die einzige tragfähige naturalistische Alternative zum Theismus ist. Natürlich hat diese Überlegung für mich kein Gewicht, noch sollte sie irgendeinen anderen Christen beeinflussen, die Theorie günstig zu betrachten. Tatsächlich sollte es uns sehr offen für Kritik an der Theorie machen.”

Zum Schaden der Evolutionstheorie:

“I agree with Johnson and many others that the theory of evolution has brought great harm to society, leading it to deny the biblical view of human nature as the very image of God, the awful nature and consequences of sin, and our need for the redemption of Christ.”

Übersetzung: “Ich stimme mit Johnson und vielen anderen überein, dass die Evolutionstheorie großen Schaden für die Gesellschaft gebracht hat, indem sie dazu führte, die biblische Sicht der menschlichen Natur als das Ebenbild Gottes zu leugnen, ebenso die schreckliche Natur und Konsequenzen der Sünde und unsere Notwendigkeit für die Erlösung durch Christus.”

c) Zu den Positionen innerhalb des Evangelikalismus und seit den Kirchenvätern

Zu den drei Hauptpositionen unter Evangelikalen:

“The three major views being discussed today among evangelicals are (1) the normal-day view, that the days are around twenty-four hours each, succeeding one another chronologically, (2) the day-age view, that the narrative gives a chronological history of God’s creative acts, but that the “days” are of indefinite duration, most likely periods of many years, and (3) the framework view, that the passage describes God’s creative acts topically, and that the succession of days is a literary device for presenting those topical categories, not asserting a chronological sequence.”

Übersetzung: “Die drei Hauptansichten, die heute unter Evangelikalen diskutiert werden, sind (1) die Normal-Tage-Ansicht, dass die Tage jeweils etwa vierundzwanzig Stunden dauern und einander chronologisch folgen, (2) die Tag-Zeitalter-Ansicht, dass die Erzählung eine chronologische Geschichte von Gottes Schöpfungsakten gibt, aber dass die ‘Tage’ von unbestimmter Dauer sind, höchstwahrscheinlich Perioden von vielen Jahren, und (3) die Rahmenansicht, dass der Abschnitt Gottes Schöpfungsakte thematisch beschreibt und dass die Aufeinanderfolge der Tage ein literarisches Mittel zur Darstellung dieser thematischen Kategorien ist, nicht eine Behauptung einer chronologischen Sequenz.”

Zur Aufrichtigkeit aller drei Positionen:

“This discussion concerns the interpretation of Genesis 1 and 2. The question is not whether we should abandon the teaching of these chapters to accommodate secular science. The question is: what does this passage actually say? It is an exegetical issue. I am convinced that the main advocates of all three views are seeking to be true to the teaching of the passage.”

Übersetzung: “Diese Diskussion betrifft die Interpretation von Genesis 1 und 2. Die Frage ist nicht, ob wir die Lehre dieser Kapitel aufgeben sollten, um der säkularen Wissenschaft entgegenzukommen. Die Frage ist: was sagt dieser Abschnitt tatsächlich? Es ist eine exegetische Frage. Ich bin überzeugt, dass die Hauptvertreter aller drei Ansichten danach streben, der Lehre des Abschnitts treu zu sein.”

Zur historischen Akzeptanz verschiedener Ansichten:

“On the other hand, I am not persuaded that figurative views should be considered heresy, because of the following: (a) Although the literal view seems the most natural way to take Genesis 1, it does not seem to me that the argument is sufficiently strong as to absolutely exclude a figurative view, especially if points 10 and 11 below are taken seriously. (b) There have long been differences among Christians on this matter, and various views have been accepted in the church. Only recently has there been a movement to make the literal view a test of orthodoxy.”

Übersetzung: “Andererseits bin ich nicht davon überzeugt, dass figurative Ansichten als Häresie betrachtet werden sollten, aus folgenden Gründen: (a) Obwohl die wörtliche Ansicht der natürlichste Weg zu sein scheint, Genesis 1 zu verstehen, scheint mir das Argument nicht ausreichend stark zu sein, um eine figurative Ansicht absolut auszuschließen, besonders wenn die Punkte 10 und 11 unten ernst genommen werden. (b) Es gab lange Zeit Differenzen unter Christen in dieser Sache, und verschiedene Ansichten sind in der Kirche akzeptiert worden. Erst kürzlich gab es eine Bewegung, die wörtliche Ansicht zu einem Test der Rechtgläubigkeit zu machen.”

Zur Unabhängigkeit anderer Lehren von der wörtlichen Tagesansicht:

“It is not clear to me that any other doctrines rest logically on a literal view of the days of Genesis. A figurative view does not, I think, imperil our confession of biblical inerrancy or the historicity of Genesis, for the figurative views under discussion claim to be derived precisely from the text. A figurative view of the days does not as such warrant an evolutionary view of man’s ancestry. Nor does it compromise the literal historicity of the fall of Adam and Eve, or any of the truths concerning our new creation in Christ. Normally we do not make literal exegesis a test of orthodoxy, and I do not see why the days of Genesis should be an exception.”

Übersetzung: “Es ist mir nicht klar, dass irgendwelche anderen Lehren logisch auf einer wörtlichen Ansicht der Tage von Genesis beruhen. Eine figurative Ansicht gefährdet, denke ich, nicht unser Bekenntnis der biblischen Irrtumslosigkeit oder die Historizität von Genesis, denn die diskutierten figurativen Ansichten behaupten, präzise aus dem Text abgeleitet zu sein. Eine figurative Ansicht der Tage rechtfertigt als solche keine evolutionäre Ansicht der Abstammung des Menschen. Noch kompromittiert sie die wörtliche Historizität des Falls von Adam und Eva oder irgendeine der Wahrheiten über unsere neue Schöpfung in Christus. Normalerweise machen wir wörtliche Exegese nicht zu einem Test der Rechtgläubigkeit, und ich sehe nicht, warum die Tage von Genesis eine Ausnahme sein sollten.”

Input: John Stott zu theologischen Grundlagen, der Brückenfunktion und der Vorbereitung der Predigt

John Stott (1921-2011; zum Einstieg siehe diese Rezension sowie dieser Artikel) verstand sich als Brückenbauer zwischen Bibel und Gegenwart, ohne die Autorität der Schrift zu relativieren. Sein Amtsverständnis war dementsprechend das eines Pastor-Theologen: betend, studierend, texttreu, gemeindenah. Er rechnete nüchtern mit der Kraft des Wortes Gottes und zielte auf Verstand, Gewissen und Lebensführung. Sein Vorbild ist ein grosser Ansporn für mich.

Hier sind einige Hinweise aus den Kapiteln 2-4 aus seinem Buch “Between Two Worlds: The Art of Preaching in the Twentieth Century: The Challenge of Preaching Today”:

Theologische Grundlagen der Predigt

Theozentrische Grundhaltung: Predige mit der Überzeugung, dass Gott Licht ist (1Joh 1,5), gehandelt hat und gesprochen hat. Ohne diese Gewissheit gibt es keine Botschaft.

Gegenwartsansprache Gottes: Gott spricht weiter durch das, was er gesprochen hat. Predige im Präsens und erwarte Begegnung.

Priorität Textauslegung: Der Text ist Meister, der Prediger Diener. Inhalt, Ton und Ziel folgen der beabsichtigten, grammatisch-historischen Bedeutung des Textes.

Doppelte Autorschaft: „Gottes Wort geschrieben“ heißt göttliche Inspiration durch menschliche Autoren. Lies und predige literarisch sensibel. Beachte Gattung, Ton, Gefühl und Absicht des Textes.

Kirche durch das Wort nähren: Niedergang folgt Predigtverfall. Priorisiere „Gebet und Dienst am Wort“ (Apg 6,4). Ordne Programme dem Lehren unter.

Predigt als Brückenbau

Christus predigen: Beantworte Sinn, Schuld, Leid in Christus. Zeige Erfüllung menschlicher Sehnsucht in ihm.

Übersetzungsleistung: Verbinde unveränderliches Wort mit einer veränderlichen Welt. Übersetze nicht nur Begriffe, sondern Welten.

Ethik aus dem Evangelium: Sprich (auch) über Gemeindeleben, Familie, Gesellschaftsthemen und Sexualethik.

Inkarnatorische Kommunikation: Sei „Mensch des Wortes und Mensch der Welt“. Wähle Bilder, Beispiele und Sprache der Hörenden.

Vorbereitung des Predigers und der Predigt

Lebenslang die Bibel studieren: Lies die ganze Schrift regelmäßig (z. B. jährlich). Sammle Klassiker, Biographien, gute Kommentare. Studiere demütig und erwartungsvoll, dass deine eigene innere Landschaft dabei umgestaltet wird.

Kultur kundig beobachten: Höre deiner Gemeinde zu. Achte auf Nachrichten, Bücher, Filme, Diskurse.

Diszipliniere deine Arbeitsrhythmen: Tägliche Lesestunde, wöchentliche Studieneinheit, monatliche „stille Tage“, jährlicher Rückzug. Sichere Erträge mit Notizen und einem einfachen Ablagesystem.

Hindernisse entlarven und delegieren: Widerstehe der Versuchung, alles zu steuern. Bekämpfe Trägheit. Schaffe Raum für Wort und Gebet.

Literatur: Diese 20 Werke helfen mir, den Krieg in der Ukraine besser zu verstehen

Über die letzten 10 Jahre habe ich mich regelmässig mit Literatur von und über Osteuropa und Russland beschäftigt. Weshalb? Weil Gott mich in eine Zeit hineingestellt hat, in welcher ich a) persönliche Begegnungen mit Menschen aus diesen Ländern habe, b) wir Christen für Notleidende einstehen und von unseren Mitteln geben dürfen, c) es in Familie, Arbeit und Öffentlichkeit immer wieder Aufforderungen zur persönlichen Stellungnahme gibt und d) wir gefordert sind von Ideologien und Konflikten zu lernen.

Zarenreich, Revolution, Sowjetzeit

Jörg Baberowski: Die letzte Fahrt des Zaren. Erzählt den Untergang der Romanows als Schwellenmoment zur revolutionären Gewalt. Mikrogeschichte und Machtanalyse verbinden sich zu einer Studie über das Ende der Autokratie.

Stephen Kotkin: Armageddon Averted. The Soviet Collapse 1970–2000. Erklärung des Zerfalls als Folge institutioneller Erstarrung und elitengetriebener Reformdynamiken mit Nebenwirkungen. Nüchterne, strukturbetonte Gegenlektüre zu „Sieges“-Narrativen.

Dietmar Neutatz: Russland im 20. Jahrhundert. Überblick zu Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur von Spätzarismus bis Post-Sowjet. Gut für Einordnung von Kontinuitäten und Brüchen.

Russische Repression und Lager

Alexander Solschenizyn: Archipel Gulag. Monumentale Anklage gegen das sowjetische Lagersystem, basierend auf Zeugenaussagen und eigener Haft. Zeigt die Strukturen der Gewalt und fragt nach persönlicher Verantwortung und Wahrheit.

Warlam Schalamow: Tagebücher. Notate eines Kolyma-Überlebenden über Entmenschlichung, Moral und Sprache unter Extrembedingungen. Nüchtern, fragmentarisch, ohne Trost; Gegenstück zu heroischen Erzählungen.

Spät- und postsowjetische Erfahrungsberichte

Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Mündliche Reportagen der Katastrophe aus Stimmen von Liquidatoren, Ärzten, Müttern und Funktionären. Erkundet, wie Strahlung Biografien, aber auch Wahrheit und Vertrauen zersetzt.

Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Chor vielstimmiger Erinnerungen an den Zerfall der Sowjetunion. Zeigt Sehnsucht, Verlust und Ambivalenz zwischen „Gewesenem“ und neuer Marktgesellschaft.

Politische Analyse und Warnungen

Garry Kasparov: Winter Is Coming (2015). Warnung vor Putins autoritärem Projekt und vor westlicher Beschwichtigung. Plädiert für klare Kosten, strategische Eindämmung und Solidarität mit Demokraten in Russland.

Alexander Solschenizyn: Russland im Absturz (1999). Diagnose der 1990er-Jahre: moralischer Verfall, Oligarchisierung, Identitätskrise. Fordert kulturelle und geistige Erneuerung statt bloßer West-Imitation.

Ukraine und russisch-ukrainische Geschichte

Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew (2015). Dichte Reportage der Maidan-Zeit als europäischer Zivilisationsmoment. Verbindet Topografie, Menschen und Geschichte zu einem Panorama der Selbstbehauptung.

Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Langzeitgeschichte zweier naher, doch unterschiedlicher Nationen. Erklärt Imperium, Nationenbildung, Sprache und Mythen ohne Polemik.

Polen und Kirche

The Oxford Companion to Polish History. Nachschlagewerk zu Epochen, Personen und Begriffen der polnischen Geschichte. Bietet belastbare Kurzartikel und Kontext für Ostmitteleuropa.

George Weigel: Zeuge der Hoffnung. Johannes Paul II. Biografie mit Fokus auf polnische Prägung, theologische Vision und Rolle im Kampf gegen den Kommunismus. Verbindet geistliche Biografie mit Zeitgeschichte.

1989: Kirche, Zivilgesellschaft, Elitenkollaps

George Weigel: The Final Revolution. These: Die Revolution von 1989 war primär moralisch und geistlich, getragen von einer „Wahrheit macht frei“-Ethik, die Johannes Paul II. verkörperte. Anhand Polens zeigt Weigel, wie kirchliche Netzwerke, Pilgerreisen und die Sprache der Gewissensfreiheit das kommunistische Machtmonopol entlegitimierten.

Stephen Kotkin: Uncivil Society. These: 1989 war weniger Triumph einer starken Zivilgesellschaft als die Implosion der kommunistischen Eliten-Ökonomie („uncivil society“). Kotkin analysiert DDR, Rumänien und Polen und legt dar, wie Zahlungsunfähigkeit, Loyalitätsverfall und innerer Zerfall das System kollabieren ließen.

Alltag und Sozialgeschichte unter dem Staatssozialismus

Tibor Valuch: Everyday Life (v. a. Ungarn unter dem Staatssozialismus). Analyse von Wohnen, Arbeit, Konsum und Familie im Mangelregime. Zeigt formelle Regeln und informelle Netzwerke, die den Alltag trugen, inklusive „zweiter Ökonomie“ und kleinen Arrangements.

Stefan Wolle: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989. Bild der scheinbar stabilen Honecker-Jahre mit Konsumversprechen, Ritualen und Überwachung. Entlarvt die Fassade des „kleinen Glücks“ und macht die stillen Zwänge sichtbar.

Intellektuelle, Ideologie, Gewissen

Czesław Miłosz: Verführtes Denken. Anatomie der geistigen Unterwerfung unter den Totalitarismus. Begriffe wie „Ketman“ zeigen Selbsttäuschung und Anpassung von Intellektuellen.

Michael Novak: The Spirit of Democratic Capitalism. Plädiert für eine freiheitliche Ordnung, die auf drei Säulen ruht: Kultur, Politik, Wirtschaft. Marktwirtschaft braucht Tugenden, Rechtsstaat und Institutionen der Zivilgesellschaft.

Karol Wojtyła: Person und Handlung. Verbindung von Neo-Thomismus und Phänomenologie. Zeigt, wie sich Person im freien Tun selbst bestimmt und in Teilhabe reift.

Buchhinweis: Der Gewöhnungseffekt von mehr Geld

Die deutsche Langzeitstudie zu Glück von Martin Schröder “Wann sind wir wirklich zufrieden?: Überraschende Erkenntnisse zu Arbeit, Liebe, Kindern, Geld. Auf Basis der größten Langzeitstudie mit über 600.000 Befragungen” birgt einige interessante Einsichten. Ich greife den Wunsch “mehr Geld” heraus.

Das zentrale Paradox: Menschen gewöhnen sich schnell an höheres Einkommen. Bereits nach einem Jahr verpufft der positive Effekt einer Gehaltserhöhung zur Hälfte. Was früher als Luxus galt (Restaurant statt Butterbrot), wird zur Normalität.

Konkrete Zahlen:

  • Bei 1000 Euro zusätzlichem Einkommen bleiben nach einem Jahr nur noch etwa 40% des ursprünglichen Zufriedenheitsgewinns
  • Menschen passen ihren Lebensstil automatisch an das neue Einkommen an
  • Der Ökonom Richard Easterlin fand heraus: Menschen können fast alles kaufen, aber das macht sie nicht dauerhaft zufriedener.

1.2 Die Einkommensschwelle: Ab wann Geld nicht mehr glücklich macht

Kritische Schwellenwerte (Pro-Kopf-Haushaltseinkommen):

  • Bis 2000 Euro netto: Jeder zusätzliche Euro bringt noch deutliche Zufriedenheitssteigerung (4 Punkte pro 2000 Euro)
  • 2000-3000 Euro: Deutlich abnehmender Grenznutzen (nur noch 2 Punkte pro weitere 1000 Euro)
  • Ab 3000 Euro: Minimaler Zusatznutzen (1 Punkt pro weitere 1000 Euro)
  • Ab 7000 Euro: Praktisch kein messbarer Zufriedenheitsgewinn mehr

1.3 Warum mehr Geld ab einem bestimmten Punkt nicht hilft

Drei Hauptgründe:

  1. Gewöhnungseffekt: Man gewöhnt sich an alles – sowohl an Luxus als auch an Mangel
  2. Abnehmender Grenznutzen: Wie beim Durst in der Wüste – der erste Liter Wasser rettet das Leben, der dritte ist noch nett, der zehnte bringt nichts mehr
  3. Lifestyle-Inflation: Mit mehr Geld steigen automatisch die Ausgaben und Ansprüche

1.4 Relative vs. absolute Einkommen

Überraschendes Ergebnis: Menschen sind zufriedener, wenn sie mehr als andere verdienen, selbst wenn das absolute Einkommen geringer ist.

Experimentelle Belege: In Befragungen wählten Menschen lieber:

  • 50.000 Dollar, wenn alle anderen 25.000 haben
  • Als 100.000 Dollar, wenn alle anderen 200.000 haben

Implikationen: Es geht nicht um absolute Höhe des Einkommens, sondern um die relative Position in der Gesellschaft.

Buchhinweis: Wie neue Technologien unsere Plausibilitätsstrukturen verändern

Brett McCrackens “Scrolling Ourselves to Death” hat mir zu denken gegeben. Meine wichtigste Erkenntnis kam durch die Erklärung, dass Technologien unsere Plausibilitätsstrukturen verschieben. Was ist damit gemeint?

Definition Plausibilitätsstrukturen

  • Plausibilitätsstrukturen sind kognitive und soziale Filter, die vorab definieren, was als möglich, vernünftig und erwägenswert gilt.
  • Sie wirken individuell und kulturell, entstehen aus einem Geflecht von sozialen, psychologischen, kulturellen und historischen Faktoren und bilden Weltbilder aus, indem sie Alternativen automatisch aussortieren.
  • Diese Strukturen betreffen theologische Inhalte ebenso wie religiöse Erfahrungen und entscheiden darüber, ob Lehren als glaubwürdig oder als abwegig erscheinen.

Historische Fallstudie 1: Die Uhr und das Gottesbild

  • Die mechanische Uhr entstand zur Taktung monastischer Gebetszeiten und prägte bald das gesamte gesellschaftliche Zeitbewusstsein.
  • Sie löste Zeitwahrnehmung aus den natürlichen, von Gott gegebenen Rhythmen und formte Zeit als quantifizierbares, beherrschbares Gut.
  • Diese Verschiebung stärkte ein menschzentriertes Management von Zeit und schwächte das Empfinden göttlicher Vorsehung im Alltäglichen.
  • Das Bild vom „Uhrwerk-Universum“ popularisierte Gott als distanzierten Uhrmacher und förderte deistische Deutungen, die Wunder und göttliche Intervention relativierten.
  • Postman zugespitzt: Das Ticken der Uhr trug möglicherweise stärker zur Schwächung der Gotteshoheit bei als manche aufklärerische Philosophietraktate.

Historische Fallstudie 2: Fernsehen als säkulare „Predigtmaschine“

  • Fernsehen besitzt eine mediale Schlagseite hin zu Emotion, Unmittelbarkeit und Visualität, wodurch komplexe, abstrakte Glaubensinhalte benachteiligt werden.
  • „Säkulares Predigen“ geschieht, wo Botschaften gemeinsame Werte normieren; TV erzeugt „common knowledge“, das nicht nur jeder weiß, sondern von dem jeder weiß, dass es alle wissen.
  • Super-Bowl-Werbung fungiert als kostspielige „Predigt“, die kulturelle Signale massenhaft gleichzeitig setzt und dadurch Verhalten sozial erwartbar macht.
  • Serien und Formate, die Glauben verspotten oder als rückständig inszenieren, verschieben Plausibilitätsstrukturen, indem Skepsis zum kulturellen Standard wird.
  • Auch „christliche TV-Kommunikation“ wird durch das Unterhaltungsformat geprägt, sodass Popularität und „Relatability“ Substanz und Lehre ersetzen und „Konsumenten-Christentum“ fördern.

Historische Fallstudie 3: Internet & Smartphone – Entkörperlichung und De-Konstruktion

  • Das Smartphone kondensiert die Macht des Netzes in ein omnipräsentes Gerät und verschiebt religiöse Praxis in allzeit verfügbare, fragmentierte Konsumformen.
  • Digitale Interaktion erzeugt eine „entkörperte“ Selbstwahrnehmung, in der Persönlichkeit vor allem sprachlich-linguistisch ohne Leiblichkeit konstruiert wird.
  • Diese Entkörperlichung macht bestimmte theologische Aussagen – etwa über Geschlecht und leibliche Differenz – weniger plausibel, weil sie dem online gelebten „Selbst“ widersprechen.
  • Wissen und Vertrauen verschieben sich durch Algorithmen und Online-Communities; Echo-Kammern können säkulare oder antireligiöse Deutungen verstärken.
  • „Deconstruction“ gewinnt Fahrt, weil digitale Räume Zweifel validieren, bündeln und alternative Autoritäten bereitstellen, bevor lokale Gemeinden überhaupt adressieren können.

Gegenwartstechnologie mit Zukunftswucht: Künstliche Intelligenz

  • Studien deuten darauf hin, dass AI-getriebene Automatisierung mit religiösem Rückgang korreliert und sogar das Lesen über AI religiöse Überzeugungen schwächen kann.
  • AI wirkt als weiterer plausibilitätsverschiebender Faktor, der Rationalität, Nützlichkeit und technikzentrierte Problemlösung als Leitlogik gegen Transzendenz ausspielt.

Was bedeutet dies für Gemeinden?

  • Gemeinden müssen Technologien weder naiv instrumentalisieren noch pauschal ablehnen, sondern prüfen, wie Formate Wahrnehmung, Affekte und Imagination prägen.
  • Geistliche Formation, Bibelkompetenz, Beziehungsnähe und die Verkörperung des Glaubens benötigen Praktiken, die der Entkörperlichung und Fragmentierung bewusst entgegenarbeiten.
  • Re-Kontextualisierung hat nicht nur lokal, sondern inmitten globaler, AI-kuratierter Mikrokulturen zu geschehen, in denen Autorität und Gemeinschaft digital verhandelt werden.
  • Christus-Herrschaft bedeutet, Technologien intentional unter die Ziele des Reiches Gottes zu stellen, anstatt die Ziele des Reiches an Plattformlogiken anzupassen.

Buchhinweis: Zur Neurobiologie von Lust, Schmerz und Sucht

Mit Interesse habe ich Anna Lembkes Ratgeber “Dopamine Nation: Why our Addiction to Pleasure is Causing us Pain” studiert.

  • Neurowissenschaftliche Fortschritte (Biochemie, Bildgebung, Computational Biology) haben das Verständnis von Belohnungsprozessen vertieft und erklären, warum „zu viel Lust“ in Schmerz umschlägt.
  • Dopamin wird als zentraler Neurotransmitter im Belohnungssystem eingeführt, mit der Unterscheidung zwischen „Wollen“ (Motivation) und „Mögen“ (Genuss); dopamindefiziente Mäuse suchen keine Nahrung auf, genießen sie aber, wenn man sie ihnen in den Mund legt.
  • Die Suchtpotenz von Substanzen/Verhalten wird u. a. daran gemessen, wie stark und wie rasch sie Dopamin im mesolimbischen Pfad (VTA → Nucleus accumbens → Präfrontalcortex) freisetzen.
  • Vergleichswerte zeigen graduelle Dopaminanstiege: Schokolade (~+55 %), Sex (~+100 %), Nikotin (~+150 %), Kokain (~+225 %) und Amphetamin (~+1000 %); daraus folgt die extreme Suchtpotenz schneller, hoher Ausschläge.
  • Lust und Schmerz sind in überlappenden Hirnarealen verschaltet und folgen einer „Opponent-Process“-Logik (Gegenspieler-Mechanismus): Jede Abweichung vom hedonischen Nullpunkt erzeugt eine gegenläufige Nachreaktion („Was raufgeht, muss runterkommen“).
  • Das Bild einer „Lust-Schmerz-Waage“ verdeutlicht Homöostase: Nach Lust kippt die Waage reflexhaft zur Schmerzseite; mit Wiederholung werden die Gegenkräfte („Gremlins“) größer, schneller und zahlreicher.
  • Toleranz entsteht durch Neuroadaptation: Der Lust-Peak wird schwächer/kürzer, die Schmerz-Nachreaktion stärker/länger; dadurch braucht es mehr vom Reiz für den gleichen Effekt.
  • Langfristig verlagert sich der hedonische Sollwert zur Schmerzseite; Betroffene werden schmerzempfindlicher und lustresistenter.
  • Klinisch zeigt sich dies in opioidinduzierter Hyperalgesie: Langzeit-Opioide verschlimmern Schmerzen, während Reduktion/Absetzen häufig zu Besserung führt.

Sie entwickelt in Kapitel 4 ein Modell für das Dopamin-Fasten, ergänzt durch ein eigenes Erfahrungsbeispiel.

D – Data (Daten erheben):

  • Es werden Produkt, Dosis, Frequenz und Muster exakt erfasst.
  • Eigene Einsicht der Autorin: Der Umfang ihres Romance-Lesens war ein Frühindikator problematischer Nutzung.

O – Objectives (Nutzungsziele):

  • Die subjektiven Funktionen werden validiert (Spass, Zugehörigkeit, Langeweile, Emotionsregulation, Schlaf, Schmerz, Aufmerksamkeit).
  • Bei der Autorin diente das Lesen der Bewältigung familiärer Übergänge, unerfüllter Lebenswünsche und Ehe-/Sexualspannung.

P – Problems (Probleme benennen):

  • Nutzer:innen unterschätzen während des Konsums die Nebenfolgen, weil Hochdopamin-Reize Kausalwahrnehmung trüben und Jugend negative Effekte maskiert.
  • Dennoch kann bereits der soziale Konflikt (Eltern, Partner, Arbeit) als Hebel dienen; echte Ursachenklärung verlangt Konsumpausen.

A – Abstinence (Abstinenz erproben):

  • Empfohlen wird ein 4-Wochen-Stopp, weil 2 Wochen meist noch Entzugs-Dysphorie zeigen (Volkow-Befunde, klinische Erfahrung).
  • Schuckit-Studie: Bei schwerem Alkoholkonsum mit komorbider Depression remittierten nach 4 Wochen Abstinenz ~80 % ohne spezifische Depressionsbehandlung – ein Hinweis auf substanzinduzierte Symptomatik.
  • Dauer variiert mit Potenz, Menge, Dauer, Alter und Substanz; bei Alkohol/Benzodiazepinen/Opioiden sind medizinische Taper erforderlich.
  • Substitution birgt Kreuzsucht-Risiko; ca. 20 % profitieren nicht, was auf eigenständige Störungen hinweist, die parallel zu behandeln sind.

M – Mindfulness (Achtsamkeit kultivieren):

  • Frühabstinenz verstärkt Angst/Leere; statt mit „Ersatz-Drogen“ wird Tolerieren und Beobachten ohne Urteil geübt.
  • Mindfulness wird als metakognitive Beobachtung desselben Organs beschrieben, das beobachtet; Akzeptanz verhindert Verdrängung und ermöglicht Selbstmitgefühl.
  • Subjektive Erfahrung: Nach anfänglicher existenzieller Unruhe weitet sich Wahrnehmung; Gegenwart wird erträglicher und sinnvoller.

I – Insight (Einsicht gewinnen):

  • Eine Konsumentin von Cannabis berichtet nach 4 Wochen: Entzug in Woche 1–2 (Übelkeit, „Blah“), danach deutliche Angstreduktion, Klarheit, Wegfall von Paranoia, soziale Entlastung, finanzielle Vorteile und neu entdeckte nüchterne Freuden.
  • Zentrale Einsicht: Cannabis linderte vor allem Cannabis-Entzug; erst Abstinenz zeigt die wahre Kausalität.

N – Next Steps (Nächste Schritte):

  • Viele möchten nach erfolgreicher Pause zurückkehren – aber moderiert.
  • Fachdebatte: Während AA klassisch Abstinenz fordert, zeigt Erfahrung, dass bei weniger schwerer Sucht kontrollierter Konsum mitunter möglich ist; dennoch wählen viele langfristig Abstinenz, weil Moderation „anstrengend“ bleibt.

E – Experiment (Erneutes Erproben mit Plan):

  • Rückkehr in den Alltag erfolgt mit neu gesetztem „Nullpunkt“ und Strategien für Abstinenz oder Moderation; Trial-and-Error ist einkalkuliert.
  • Risiko „Abstinenz-Verletzungs-Effekt“: Genetisch prädisponierte Tiere und hochpalatabler Konsum (Alkohol/Nahrung) zeigen nach Pausen Binge-Rückfälle; Übertragbarkeit auf nichtkalorische Drogen ist teils unklar.
  • Ubiquität „digitaler Drogen“ (Smartphones) macht Moderations-Kunst zur Schlüsselkompetenz; daraus wird eine Taxonomie der Selbstbindung (self-binding) angekündigt.
  • Abschließend werden die Schritte des „Dopamine Fast“ rekapituliert: Ziel ist die Wiederherstellung von Homöostase und die Erneuerung der Fähigkeit, vielfältige einfache Freuden zu genießen.

Bibel: In Gottes Segen eintauchen durch die Psalmen

Christopher Ash stellt mit seinem Kommentar “The Psalms: A Christ-centered Commentary, Christ and the Psalms” eine wunderbare Ressource zum Eintauchen in das Liedbuch der Bibel bereit. Am Anfang präsentiert er acht Regungen.

1) Psalmen und die Fülle des Heiligen Geistes (Eph 5,18–21; Kol 3,16–17)

  • Die fünf Partizipien in Eph 5,19–21 („redend“, „singend“, „Psalmen singend“, „dankend“, „einander untergeordnet“) sind nicht nur Folgen, sondern Mittel („means participles“) der Geistfüllung.
  • Kol 3,16 zeigt parallel, dass das Singen der Psalmen das Mittel ist, durch das das Wort Christi reichlich wohnt; daher vermittelt der Gesang Gnade und vertieft die Fülle des Geistes.
  • Die praktische Folgerung lautet, dass regelmäßiges, verständiges und herzliches Psalmensingen zu einer reichen Fülle in der Gemeinde beiträgt (Eph 1,23; 3,19; 4,13; Kol 1,19; 2,9–10).

2) Psalmen bauen die Gemeinschaft auf

Das Singen ist wechselseitig („zueinander“), es geschieht im Rahmen von Unterordnung und gegenseitiger Ermahnung und gehört ins gemeindliche Leben (Eph 5,19.21; Kol 3,16).

3) Psalmen vertiefen das Leben in Christus

  • Die Adressaten sind solche, die mit Christus gestorben und auferweckt sind und in denen der Friede Christi regiert (Kol 3,1–4.11.15–17; Eph 5,14.17.20–21).
  • Die Psalmen dienen als Mittel, „alles im Namen des Herrn Jesus“ zu tun und das Evangelium existenziell zu verankern (Kol 3,17).

4) Psalmen fördern eine gottesfürchtige Lebensführung

Psalmengesang steht im Kontext der Ermahnung der Berufung würdig zu leben und der Haustafeln (Eph 5–6; Kol 3–4); er schult Herz, Worte und Verhalten in Weisheit (Eph 5,15–17).

5) Psalmen lehren beten und loben

  • Beten braucht Belehrung, damit wir nach Gottes Willen bitten (1 Joh 5,14) und echt „in Jesu Namen“ beten (Joh 14,14; 16,23.26); die Psalmen sind Gottes gegebene Worte für unser Gebet.
  • Historisch waren die Psalmen das meistkommentierte und am häufigsten rezitierte Buch; im Benediktineroffizium wurden alle 150 Psalmen wöchentlich gebetet.
  • Luther und Calvin betonen, dass der Heilige Geist in den Psalmen selbst der Dichter ist und Gott „uns die Worte in den Mund legt“.

6) Psalmen fassen die Botschaft der ganzen Schrift zusammen

  • Kirchenväter und Reformatoren nennen den Psalter einen „Garten“ aller biblischen Lehren (Athanasius), die „Frucht“ von Gesetz, Geschichte, Prophetie und Ethik (Ambrosius) und eine „kleine Bibel“ (Luther).
  • Daher erscheinen oft NT + Psalmen in Taschenbibeln, weil die Psalmen in neutestamentlichem Licht die Heilsbotschaft kondensieren.

7) Psalmen korrigieren individualistische Frömmigkeit

Der Psalter verankert uns in der „Gemeinschaft der Heiligen“ über Zeiten und Kulturen hinweg und bewahrt vor privatistischen Umgangsformen mit Gott.

8) Psalmen formen das ganze menschliche Leben – Affekte, Wünsche, Abneigungen

  • Die Psalmen spiegeln und ordnen das ganze Spektrum menschlicher Emotionen, sodass wir lernen, „das zu lieben, was Gott gebietet“, und „das zu begehren, was er verheißen hat“ (Collect der anglikanischen Liturgie).
  • Die Neuordnung der Affekte geschieht durch den Geist mittels des Wortes im Gebet; so werden destruktive Emotionen in lebensspendende Sehnsüchte verwandelt (vgl. Phil 2,13).
  • Calvin nennt den Psalter eine „Anatomie“ der Seele; Athanasius spricht von „Therapie und Korrektur“ der inneren Dispositionen durch die Psalmen.
  • Gegenreizung zu emotionsloser Reaktion auf charismatischen Missbrauch: Die Psalmen verbinden Theologie und Gefühl und lehren starke, geordnete Affekte.

Christologische Mitte des Psalters

  • Die Psalmen zeigen die Lebensform des Glaubens, die Jesus fehlerlos gelebt hat, und ziehen uns in seine Nachfolge hinein.
  • Athanasius betont, Christus habe vor seinem Erscheinen diese Lebensform in den Psalmen „erklingen lassen“, damit wir in ihnen Modell und Heilmittel finden.
  • Calvin und der Genfer Gottesdienst heben hervor, dass die Psalmen die Herzen zum Kreuztragen schulen und „kalte Herzen“ zur Anbetung entflammen (vgl. Mt 26,30; Mk 14,26 als wahrscheinlicher Psalmen-Gesang Jesu).

Bibel: Hiob mit neuem Blick lesen

Christopher Ashs Hiobkommentar “Trusting God in the Darkness: A Guide to Understanding the Book of Job” half mir bei meinem erneuten Durchgang durch das Buch Hiob.

  • Ash unterscheidet „Sessel-Fragen“ (theoretische Distanz) und „Rollstuhl-Fragen“ (existentiell unter Leid gestellt). Hiob stellt konsequent „Rollstuhl-Fragen“.
  • Seelsorgerlicher Kontext: Hinter fast jeder Haustür verbirgt sich Schmerz; vier befreundete Pastoren illustrieren unterschiedliche, schwere Leidenswege. Das Buch Hiob ist daher kein akademischer Traktat, sondern „für Leidende“ geschrieben.
  • Charakter des Buches: Hiob ist ein „fireball book“ – radikal ehrlich über das, was Menschen vor Gott wirklich denken und sagen, auch hinter verschlossenen Türen und unter Tränen.
  • Hiob ist sehr lang (42 Kapitel). Die Länge ist theologisch sinnvoll: Rollstuhl-Fragen lassen sich nicht „twittern“. Gott schenkt keinen Instant-Kurzschluss, sondern eine lange Reise durch Erzählung, Spannung und Verzögerung (vgl. die Weite zwischen Hi 1–2 und Hi 42).
  • Hiob ist überwiegend Poesie (ca. 95 %; Prosa in Hi 1–2 und 42,7ff.). Poesie spricht „Herz zu Herz“ (J. I. Packer) und arbeitet an Verstand und Affekten. Sie lässt sich nicht in „saubere“ Sätze pressen, sondern will eingelebt werden.
  • Vier Marker, die die Lektüre steuern:
    1. Hiob ist wirklich untadelig (1,1; 1,8; 2,3).
    2. Satan hat reale Einflusssphäre (als „der Ankläger“, hebr. ha-satan; er agiert, doch nicht autonom).
    3. JHWH ist absolut souverän (Satan ist ein Rebell „an der Leine“, kein Gegen-Gott).
    4. Gott gibt ernste Erlaubnisse (limitiert, aber real).
  • LeitfrageIst Hiobs Glaube echt? Wird er Gott „fluchen“ (1,11; 2,5) oder „preisen“ (1,21)?
  • Vergeltungsschema (gerecht → Segen; gottlos → Fluch) wird narrativ unterlaufen: Der Gerechte leidet ohne Schuldzusammenhang (1,1; 2,3; vgl. 42,7–8).
  • Theodizee-Kurzschluss („Gott kann nicht allmächtig sein“) wird zurückgewiesen: Gott ist allmächtig und erlaubt dennoch Leiden; Satans Macht ist abgeleitet und limitiert.
  • Pastoral: Man darf schockiert sein über Gottes Erlaubnis; das Buch will gerade diese Spannung aushalten, nicht glätten.

Seelsorge: Unterschiedliche Formen von Leid

Es gilt zwischen unterschiedlichen Gründen und Formen von Leid zu unterscheiden. Hier greife ich auf den wertvollen Ratgeber von Timothy Keller “Gott im Leid begegnen” (Kapitel 10) zurück.

  • Jona: Er leidet selbstverschuldet durch Ungehorsam und nationalistischen Hass; Gott benutzt Sturm, Wurm und Ostwind, um sein Herz aufzudecken und ihn zur Umkehr zu wecken.
  • David: Er erfährt Leiden als väterliche Zucht nach Ehebruch und Mord; das Ziel ist nicht Verdammnis, sondern Buße, Demut und Neuordnung seines Lebens vor Gott.
  • Jeremia: Er leidet wegen seiner Treue zur Wahrheit; Verachtung, Stockhiebe und Haft treffen ihn als „Kosten“ prophetischer Wahrhaftigkeit, wodurch Geduld ohne Bitterkeit gelernt wird.
  • Paulus: Er erträgt Misshandlungen, Gefängnis und Lebensgefahr um Christi willen; dieses Leiden gehört zur Nachfolge und ruft zu Vergebung statt Rache und zu beständigem Vertrauen.
  • Maria und Marta (Joh 11): Sie leiden unter universellem Verlust und Tod ihres Bruders; das Leiden ruft zum Trauern „mit Hoffnung“ und zum Blick auf Jesu Auferstehungsmacht.
  • „Söhne Korachs“ (Ps 44): Sie erleben kollektives, nicht offensichtlich verschuldetes Leid; die geistliche Aufgabe ist klagende Treue, wenn Gottes Angesicht verborgen scheint.
  • Habakuk: Er ringt mit dem Rätsel, warum Gott Unrecht zulässt; sein Leiden führt zum „Trotzdem-Glauben“ („der Gerechte wird aus Glauben leben“) und zum Ausharren im Warten.
  • Hiob: Er erleidet geheimnisvolles, disproportionales Leid ohne spezifische Schuld; Ziel ist, Gott um seiner selbst willen zu fürchten und die eigenen Lieben neu zu ordnen.

Wir erkennen unterschiedliche Gründe und Formen.

  • Selbstverschuldetes Leid (Zurechtweisung): Jona, David – Gott deckt verborgene Sünden und blinde Flecken auf und ruft zur Umkehr.
  • Leid wegen Treue (Verfolgung/Betrug): Jeremia, Paulus – Standhaftigkeit und Vergebung werden geübt, ohne in Opferstolz oder Rachsucht zu fallen.
  • Universelles Verlustleid (Tod/Verfall): Maria und Marta – echte Klage wird mit eschatologischer Hoffnung verbunden.
  • Rätselhaftes Leid (Mysterium): Hiob, Ps 44, Habakuk – Gottvertrauen reift ohne „Warum“-Antwort, indem man Gott um seiner selbst willen ehrt.