Gedicht: Warum muss mein Junior mit 14 ein iPad für die Schule haben? Eine Wehklage

Online-Ablage. Papierlose Klassenführung. Digitalisierte Erlösung.
Es reisst unsere Hirne in den Untergang.
Wahn-Sinn.
Sag ich als (versteckter) Apple-Fan.

Süchtig machende Algorithmen.
Aufgeheizte Frontallappen.
Jungs, bei denen die Rakete nur noch innerlich explodiert.
Ich übergebe mich gerade mal virtuell.

Die Expertinnen sagen: Die Jugendlichen können nicht damit umgehen bis 20.
Trotzdem. Muss. Es. Sein.
Grimm.
Ich will aussteigen, meine aus-stecken.

Es kostet: Nerven. Schlaf. Geld. Beziehung.
Darunterbleiben.
Die Übersetzung des hebräischen Wortes, in alt-deutsch “aus-harren”.
Noch 10 Jahre Kampf? 10 Jahre? Mein restliches Leben.

Also kauft meine Frau das iPad.
(Junior) “Es macht keine Freude, wenn es nicht mir gehört.”
Er kann es ausleihen.
Spassver-derb-er(in).

Opfersprache, Herr Papa.
Mich be-elendet es.
Ich schrei(b) es raus.
Herr, lass neue Ideen regnen.

Input: Von einem, der alles hatte – ausser dem, was er wirklich brauchte

Die beiden Bibelseminare zu Philipper 3,5-9 (hier und hier) sprechen in unser Leben und unsere Zeit. David Jany umreisst die radikale Verschiebung der Prioritäten durch die Wiedergeburt bei Paulus.

Hier sind einige Schlüsselaussagen:

  1. Man kann sich – wie Paulus – mit grosser Überzeugung für das Falsche einsetzen. Man kann sich auch für das Richtige so einsetzen, dass es zerstörerisch wird.
  2. Vielleicht denkst du: Wenn es doch um menschliche Leistung geht, bin ich vorne dabei. Doch: Glauben ist für die, welche es anders nicht hinkriegen. 
  3. Paulus beschreibt in einem achtfachen Stakkato die ausgezeichnete Ausgangslage seines Lebens: Eindrücklicher Start, Nationalität, Abstammung, Erziehung, Standard/Lebensstil, Ernsthaftigkeit, Moral. Wenn es um menschliche Leistung geht, bemerken wir grosse Unterschiede. Viele starten schon in ihrer Familie mit grossen Defiziten. 
  4. Die zeitgenössische Psychologie beliefert uns mit möglichen «Zutaten» für die Anforderung es im Leben geschafft zu haben: Gesunde Bindung, Grundvertrauen, Selbstkonzept, Ablösung von den Eltern, sich in der Geschlechtlichkeit annehmen, stabile Partnerschaft, finanzielle Unabhängigkeit. Die Realität ist jedoch: Da gehen überall Dinge schief! Man darf an solchen Aufgaben scheitern. Das zählt alles in Gottes Augen nichts.
  5. Was früher als Gewinn abgebucht wurde, ist aus heutiger Perspektive Verlust; umgekehrt wird Verlust zum Gewinn.
  6. Die nicht zu toppende neue Grösse lautet: Jesus erkennen. Das ist viel mehr als das Motto «Jesus gehört jetzt auch noch zu meinem Leben – neben den vielen anderen Dingen.»
  7. Nur wenn Jesus der einzige Wert ist, wird mein Leben krisenfest; wenn z. B. der Wohlstand weg ist oder die Gemeinde mich nicht mehr braucht.

An-Fragen

  • Wie stehe ich im Leben? Wann hat man es in meiner Wahrnehmung «geschafft»?
  • Warum glaube ich an Jesus? Etwa weil ich denke, dass ich es geschafft habe?
  • Wie verändert mich das «aber» der Wiedergeburt? Was hat mir im Rückblick früher viel bedeutet?
  • Worauf stütze ich mich? Auf wen sehe ich herab, weil der andere nicht darüber verfügt?
  • Wo stehe ich in Versuchung, trotzdem wieder auf menschliche Vor-Leistung zu vertrauen?

Zitat der Woche: Wie unterscheiden sich der neue Himmel und die neue Erde von der jetzigen?

Neos bedeutet neu in der Zeit oder im Ursprung, und kainos bedeutet neu in der Qualität: erneuert. Das Wort, das sowohl in 2 Petrus 3,13 als auch in Offenbarung 21,1 für den “neuen Himmel und die neue Erde” verwendet wird, ist kainos, ebenso wie die Erklärung Christi in Offb 21,5, dass “ich alles neu mache”. Es ist jedoch gefährlich, ein Argument an einer einzigen Etymologie oder Wortwahl festzumachen, daher sollten wir das Thema weiter vertiefen. Die Bibel gibt uns ein Modell für eine Zeitlichkeit, die Kontinuität und Bruch “diagonalisiert” (d. h. über entweder oder weit hinausgeht). Obendrein stammt das Beispiel aus dem Kontext der neuen Schöpfung. Das Beispiel ist natürlich die Auferstehung Christi. Steht die auferstandene Existenz Christi in Kontinuität mit seinem früheren, vor der Kreuzigung geführten Leben? Ja. Seine Wunden sind immer noch sichtbar, seine Jünger können ihn immer noch erkennen (meistens!), und er kann immer noch Fisch essen und auf seinen eigenen Füßen die Straße entlanggehen. Aber die auferstandene Existenz Christi steht ausdrücklich in nicht-linearer Kontinuität mit seinem Leben vor der Auferstehung in dem Sinne, dass er jetzt in verschlossenen Räumen erscheinen kann und “nie mehr sterben wird” (Röm 6,9). Die auferstandene Existenz Christi sollte also ein Modell für das Verständnis der Beziehung zwischen dem gegenwärtigen Himmel und der Erde und dem neuen Himmel und der neuen Erde sein. Wenn Paulus in 1. Korinther 15 unter der Leitung und durch die Inspiration des Heiligen Geistes über das Wesen des Auferstehungsleibes nachdenkt, geht er über die einfache Dichotomie von Kontinuität und Bruch hinweg: “Der Leib, der gesät wird, ist vergänglich, er wird unvergänglich auferweckt; er wird gesät in Unehre, er wird auferweckt in Herrlichkeit; er wird gesät in Schwachheit, er wird auferweckt in Kraft; er wird gesät als natürlicher Leib, er wird auferweckt als geistlicher Leib” (1 Kor 15,42-44). Die Auferstehung ist nicht der Tod des materiellen und die Geburt des geistlichen Leibes, sondern die Auferweckung des “geistlichen Leibes”. Wenn wir versuchen, diesem Modell der Auferstehung Christi treu zu bleiben, ist die Beziehung zwischen der alten und der neuen Schöpfung so etwas wie eine disjunktive Kontinuität oder eine verwandelte Dauerhaftigkeit. Aber “Kontinuität” allein wird der Sache nicht gerecht; die neue Schöpfung ist eine Intensivierung, eine Steigerung und Erweiterung der alten. Wie Paulus das Verhältnis zwischen irdischer Weisheit und Gottes Weisheit in 1. Korinther 1 kurz skizziert, gibt es sowohl radikale Veränderung als auch radikale Kontinuität.

Christopher Watkin. Biblical Critical Theory: How the Bible’s Unfolding Story Makes Sense of Modern Life and Culture. S. 568f.

Buchhinweis: Ein säkulares Zeitalter – ein Meisterwerk Seite für Seite vorgenommen

Regelmässig kehre ich zum epischen Werk «Ein säkulares Zeitalter» von Charles Taylor zurück, zuerst mit dem Hörbuch im Original (hier mehr zu meinen Lernritualen mit Hörbüchern). Die ausgezeichnete Übersetzung steht seit Jahren in meinen Regalen. Das Buch gehört zu den Wälzern, für die mir Zeit lasse. Nichts geht über ein langsames, von Seite zu Seiten vorarbeitendes Lesen mit dem Stift in der Hand. Regelmässig kehre ich an Kapitelanfänge und -ende zurück, weil Taylor dort die Frage für das nächste Teilstück jeweils stellt, auf vorhergehende Überlegungen zurückgreift und gelegentlich das Erarbeitete zusammenfasst. Hier habe ich Hinweise zur Lektüre von Sachbüchern sowie Fragen zum Verdauen formuliert.

Daneben schrecke ich nicht davor zurück, mich immer wieder mit Zusammenfassungen zu behelfenWikipedia lässt sich sehen. Zum 15. Kapitel, das ich gegenwärtig bearbeite, wird folgendes Summary geboten:

Im 15. Kapitel beschäftigt sich Taylor mit der Frage, warum es gegenwärtig kaum vorstellbar ist, an Gott zu glauben, während es um 1500 noch kaum vorstellbar war, nicht an Gott zu glauben. Um dieser Frage nachzugehen, beleuchtet er ein Phänomen der Gesellschaft, das er den immanenten Rahmen nennt: Man erklärt sich die Welt rein naturwissenschaftlich, ohne auf externe Entitäten (Gott, Kräfte und andere Elemente der verzauberten Welt) zurückzugreifen. Damit geht ein Prozess der Verinnerlichung einher: Anstatt z. B. von dämonischer Besessenheit zu sprechen, redet man von psychischer Krankheit. Die Dinge verlagern sich also in das Innere, in die Psyche hinein, die dadurch mehr Tiefe erhält, wohingegen die äußeren Einflussfaktoren der externen Welt entfallen.

Eine wichtige Überzeugung des Denkmodells vom immanenten Rahmen ist die Auffassung, dass die Wissenschaften Gott widerlegt haben oder zumindest Religion überflüssig ist. Die Argumente für diese Meinung schätzt Taylor als äußerst schwach ein. Daher geht er der Frage nach, warum diese Anschauung so populär ist, obwohl sie sich argumentativ nicht gut stützen lässt. Taylor erklärt sich das über Milieus und deren Vorbilder, die diese Position vertreten. Sie wirkt identitätsstiftend und verbindet Menschen, ungeachtet ihrer argumentativen Schwäche. Es entwickelt sich ein exklusiver Humanismus, der sich vom Christentum abgrenzt. Nach dem Tod Gottes sieht man sich einem kalten Universum gegenüber, dem man erst selbst einen Sinn geben muss, weil es in sich keinen Sinn hat. Mit Gott ist auch der geordnete, sinnvolle Kosmos gestorben. In diesem Narrativ fühlt man sich wie ein Erwachter, der aus dem Stadium der Kindheit zum Stadium des Erwachsenen übergegangen ist. Man fühlt sich nun nicht mehr naiv, sondern man kann alles erklären, hat alles unter Kontrolle und trotzt mutig den Sinnlosigkeiten der Welt. Dieses Narrativ scheint so grundlegend zu sein, dass selbst auf der Insel des festen Glaubens diese Vorstellung in Form von Zweifel sich einschleicht. Gott kommt primär im Modus des Vermissens zur Sprache.

Ausführliche Kapitelzusammenfassungen befinden sich auf diesem Blog

Er ist nun soweit, dass er auf die Frage zurückkommt, die er in der Einleitung gestellt hat: “Warum ist es im modernen Westen (in vielen Milieus) so schwer, an Gott zu glauben, während es um 1500 praktisch unmöglich war, es nicht zu tun?” Eine offensichtliche Antwort auf diese Frage ist, dass Taylor dies in gewissem Sinne schon die ganze Zeit beschrieben hat. Taylor führte uns durch den Übergang vom porösen Selbst, das für Geister, Kräfte und Bedeutungen von außen offen ist, zum abgepufferten Selbst, das jetzt mit einem tiefen Innenleben abgeschlossen ist. Dies bringt eine scharfe Unterscheidung zwischen dem Innenleben und der äußeren Welt mit sich, die die frühere Erfahrung des Selbst nicht erkannt hätte. Eng verbunden mit dieser Verschiebung ist das Zunehmen der “Disziplin”, vor allem durch den Prozess der Reform, der ein geordnetes, produktives, gut erzogenes Volk hervorbringen sollte: “Dazu gehörte die Entwicklung von Disziplin, von Selbstbeherrschung, besonders in den Bereichen der Sexualität und des Zorns.” Wir sehen eine viel schärfere Unterscheidung zwischen dem “Privaten” und dem “Öffentlichen”, und es gibt einen “Rückzug aus früheren Formen des promiskuitiven Kontakts mit anderen”. Diese Veränderungen führen dazu, dass das moderne Individuum nun von der Gesellschaft losgelöst ist und als freier, rationaler Akteur in der modernen moralischen Ordnung handelt. Die Gesellschaft wird nicht mehr als in einer transzendenten Quelle begründet angesehen oder als seit jeher existierend, sondern vielmehr als in der menschlichen Entfaltung (flourishing) gründend.

Zum Buch kann ich zudem zwei Essaybände empfehlen:

  1. James K. A. Smith. How (Not) To Be Secular. Reading Charles Taylor.
  2. Collin Hansen. (Ed.) Our Secular Age: Ten Years of Reading and Applying Charles Taylor.

Zitat der Woche: Die Grundideen des Stoizismus

Die Unterscheidung zwischen stoizistischem Gedankengut und der biblischen Weltanschauung ist subtil (siehe dieser Beitrag). Ähnlich ist es auch um die klassische Tugendethik bestellt (hier näher ausgeführt).

Der Psychologe und Philosoph Daniel Robinson (1937-2018) fasst die wichtigsten Ideen dieser antiken Weltsicht so zusammen:

  1. Ausgangsfrage: Was setzt sich denn am häufigsten über die Ratschläge der Vernunft hinweg? Die Antwort darauf: Emotionen – Leidenschaften, Wut, alles, woran wir ein so starkes emotionales Interesse haben, dass wir dafür Dinge tun, egal, was die Ratschläge der Vernunft empfehlen würden.
  2. Ontologie: Die stoische Ontologie ist physikalistisch, aber auf eine interessante und subtile Weise. Wenn wir Platons Standard der Existenz akzeptieren – damit etwas existiert, muss es fähig sein, zu handeln oder auf es einzuwirken -, dann ist die Schlussfolgerung, dass nur physische Objekte diesen Standard erfüllen.
  3. Grundüberzeugung: Die gesamte physische Welt wird von Gesetzen bestimmt. Die menschlichen Angelegenheiten müssen sich diesen gleichen Prinzipien der Gesetzmäßigkeit annähern und ihnen gehorchen.
  4. Lebensführung: Die stoische Darstellung stützt sich auf den Begriff des oikeion, der natürlichen Angemessenheit, einer Angemessenheit, die die Ordnung der Natur selbst zum Ausdruck bringt. Die Natur als Ausdruck des Logos ist ein geordnetes Reich, das von Gesetzen beherrscht wird, die kollektiv festlegen, was für die Wesen, aus denen es besteht, “richtig” ist.
  5. Menschsein: Es gibt nur ein Lebewesen, das über Sprache verfügt, und daher kann auch nur ein Lebewesen mit den Abstraktionen umgehen, die für die Rechtsstaatlichkeit und ein ethisches Leben von zentraler Bedeutung sind: der Mensch.
  6. Emotionen: Emotion und Leidenschaft sind das, was der Vernunft am meisten widerspricht. Nur der Mensch ist in der Lage, seine Lebendigkeit zu beherrschen und schließlich als vollkommen rationales Wesen aufzutreten, das nun am universellen Logos teilhat. Die richtige Haltung ist die der Apathie, nicht “Apathie” im Sinne von Gleichgültigkeit, sondern Resignation angesichts der Tatsache, dass die kosmische Ordnung bestimmend ist.
  7. Staat: Es gibt eine Ordnung und einen rationalen Plan für die Dinge. Nichts geschieht ohne Ursache, alles ist Ausdruck des übergreifenden Logos. Der Einzelne muss seinen Platz verstehen, zunächst innerhalb der Familie, dann innerhalb der bürgerlichen Gemeinschaft. Die letzte moralische Gemeinschaft ist die Gemeinschaft der sprechenden, denkenden und begründenden Wesen, die über die natürlichen Anlagen und Kräfte verfügen, die sie für ein Leben im Rechtsstaat qualifizieren.

Aus: Daniel N. Robinson. The Great Ideas of Philosophy. Kapitel 15.

Input: Welche Kirchen die meisten Besucher unter 16 Jahren haben

Christianity Today berichtet über eine kürzlich erschienene Studie der Church of England.

Die Gemeinden der Church of England, die die meisten Kinder unter 16 Jahren als Besucher haben, sind in Fragen der Sexualität konservativ, wie eine Studie von Christian Concern ergab.

Die Studie untersuchte 33 Kirchen und stellte fest, dass 20 von ihnen (61 %) die historische Auffassung der Kirche zur Ehe als lebenslange Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau unterstützen. Keine der Kirchen oder ihre Leitung hat sich öffentlich für eine Änderung der kirchlichen Lehre zur Ehe ausgesprochen.

… (Zitat der einer Beauftragten) Das völlige Fehlen von Kirchen, die öffentlich revisionistische Ansichten zur Ehe unterstützen, zeigt, dass es für Kirchen im 21. Jahrhundert durchaus möglich ist, junge Menschen zu erreichen und zu halten und gleichzeitig historische, orthodoxe Ansichten zur Sexualität zu lehren.

Junge Menschen werden mit Botschaften bombardiert, die Verwirrung darüber stiften, wer sie sind. Sie haben den Schaden gesehen, den zerbrochene Ehen, Pornografie und sexuelle Befreiung angerichtet haben, und sie wollen etwas anderes. Treue, liebevolle christliche Kirchen und Jugendgruppen, die keine LGBT-Ideologie predigen, sind für sie Orte des Trostes und der Heilung.

VD: JdO

Weiterlesen:

Zitat der Woche: Die bahnbrechende soziale Vision des christlichen Glaubens

Warum konvertierten in der römischen Welt immer mehr Menschen zum Christentum, obwohl es die am meisten verfolgte aller Religionen war und erhebliche soziale Nachteile mit sich brachte?

1. Abstammung spielt keine Rolle mehr

Die Christen glaubten, dass es nur einen wahren Gott gab und dass jeder an ihn glauben sollte. Das bedeutete, dass ihr Glaube nicht nur unabhängig von ihrer Abstammung war – er war viel grundlegender. Es gab Ihnen ein Band mit allen anderen Christen, das tiefer war als jedes andere

2. Starkes Engagement für die Armen und Ausgegrenzten

In jener Zeit wurde es als normal angesehen für die Armen und Bedürftigen der eigenen Familie und des eigenen Stammes zu sorgen, aber niemand fühlte sich verpflichtet, für alle Armen und Bedürftigen zu sorgen, schon gar nicht für Barbaren.

3. Nicht auf Vergeltung ausgerichtet, geprägt von der Verpflichtung zur Vergebung

Die frühen Christen zeichneten sich dadurch aus, dass sie, wenn man sie angriff oder tötete, sie keine Vergeltung organisierten oder Rache nahmen. Sie waren dafür bekannt, dass sie den Tod in Arenen oder durch Hinrichtung erlebten, während sie für ihre Verfolger beteten.

4. Entschieden und praktisch gegen Abtreibung und Kindstötung

Die Christen lehnten sowohl Abtreibung als auch Kindermord entschieden ab, aber nicht nur aus Prinzip. Sie fanden und nahmen Säuglinge auf, die zum Sterben weggeworfen oder von Sklavenhändlern erbeutet worden waren. Die frühe Kirche war “pro-life”, insbesondere in dem Sinne, dass sie keine Abstufungen des menschlichen Wertes anerkannte. In einer stammesgebundenen, sozial geschichteten Scham- und Ehrenkultur war das schockierend.

5. Revolutionäre Veränderung der Sexualethik

In der römischen Welt war Sex lediglich Begierde. Er diente der sozialen Ordnung. Verheiratete Frauen durften nur mit ihren Ehemännern Sex haben. Aber Männer – auch verheiratete – konnten Sex mit jedem Mann oder jeder Frau haben, solange es sich um jemanden von geringerer Ehre und Klasse handelte. Die revolutionäre Lehre des Christentums löste Sex und Ehe von der sozialen Ordnung und verband sie mit dem Kosmischen – mit Gottes rettender Liebe und Erlösung.

Aus: Tim Keller. How to Reach the West Again. (Online-PDF). S. 26-28.

Zitat der Woche: Bei einem Denker mehrere Jahre in die Schule gehen

Der Bavinck-Experte James Eglinton wird von Collin Hansen im hörenswerten Interview gefragt, ob er in bestimmten Punkten nicht mit Herman Bavinck, über den er promoviert hat, übereinstimmte. Eglinton bejaht und legt eine Haltung zu Tage, der ich mich nur anschliessen kann:

Ich habe anfangs versucht, von ihm zu lernen und zu lernen, ihn zu lesen, indem ich bei ihnen in die Lehre ging. … Was sollte ich also (als 25-Jähriger9 auf die Suche nach abweichenden Punkten gehen? … Wer bin ich schon, dass ich das beurteilen konnte, zumindest in diesem Stadium, vielleicht sogar heute? So wollte ich am Anfang nur zuhören und versuchen, mir das Recht zu verdienen, überhaupt ein Gesprächspartner zu werden. Um das zu tun, wollte ich ein paar Jahre damit verbringen, ihn so aufmerksam wie möglich zu lesen, um zu sehen, wie er Gedanken und Argumente miteinander verbindet, denn das ist es, was viele dieser großen Denker großartig macht, nämlich dass sie intellektuell wirklich kreativ sind. Sie können Verbindungen herstellen, die einen überraschen. Wer mit einem starren Raster daher kommt, das er sich mit 25 Jahren angeeignet hat, und jeden danach beurteilt, ob er in dieses Raster passt, … wird nicht viel erreichen. Also wollte ich versuchen, mir das Recht zu verdienen, mich mit ihm unterhalten zu können, indem ich versuchte, ihn gut genug zu verstehen. Denn wenn man jemanden nicht versteht, zählt die Kritik nicht viel, denke ich, und das versuche ich auch meinen eigenen Studenten beizubringen. Es ging mir also nicht so sehr um Zustimmung oder Ablehnung.

Ursprünglich wollte ich versuchen, ein Gesprächspartner zu werden, und nachdem ich das getan hatte, denke ich, dass das Gespräch, das ich mit ihm führe – und er ist wunderbar, er ist mein theologischer Hauptgesprächspartner im Leben, denke ich -, mir sehr bewusst macht, dass er ein Kind seiner Zeit ist und ich ein Kind meiner Zeit bin. Und es gibt so viel mehr als nur Meinungsverschiedenheiten oder Übereinstimmungen. Es gibt so viel über die Welt, die er bedachte, das einfach nicht die Welt darstellt, in der ich lebe. Er war sehr aktiv an den niederländischen Kolonialprojekten beteiligt, ein großer Befürworte. Das ist eine so fremde Welt für mich, dass ich, wenn ich dies lese, einfach nicht wirklich andocken kann. Es ist so fremd für mich. … Natürlich gibt es Meinungsverschiedenheiten, aber ich versuche, sie zu verstehen, und zwar durch ihn als meinen geschätzten und vertrauten Gesprächspartner. Aber auch die Art und Weise, wie ich durch dieses Gespräch zu verstehen suche. Es hat mir geholfen zu verstehen, was er war, dass er mit sich selbst nicht einverstanden war, dass es eine Entwicklung in seinen Gedanken gab, dass er, als er wusste, dass er sterben würde, nach seinem Herzinfarkt begann, Teile seines schriftlichen Nachlasses zu zusammenzustellen, von denen er dachte, dass sie von den Christen der kommenden Generationen gelesen werden müssten. Und es gibt Dinge, von denen er glaubte, dass sie nicht unsere oberste Priorität darstellen. Zudem lässt er auch vieles in seinem Werk offen, von dem er glaubte, dass es weiterentwickelt, herausgefordert und verändert werden muss. Ich habe also nicht versucht, einfach nur zu widersprechen oder zuzustimmen, sondern ich denke, dass er in diesem Gespräch den Eindruck erweckt hat, dass er nach Leuten sucht, die den Staffelstab übernehmen und weitermachen; die einige seiner Gedanken in Frage stellen, mit losen Enden aufräumen, Dinge korrigieren, andere vorantreiben, die er unvollendet gelassen hat.

Input: Missionarischer Ansatz im nachchristlichen Westen

In seiner bemerkenswerten Vorlesung 2017 zu Lesslie Newbigin (1909-1998) skizzierte Timothy Keller einen missionarischen Ansatz im nachchristlichen Westen. Bemerkenswerterweise hielt Keller diese Vorlesung trotz Aberkennung des Kuyper-Preises in einem fensterlosen Saal im Untergeschoss des Universitätsgeländes und schikanösen Eingangskontrollen (beschrieben in der kürzlich erschienenen Biografie “Timothy Keller: His Spiritual and Intellectual Formation”, S. 245-251). Es ist eindrücklich, dass er fern von einem beleidigten Fernbleiben eine Vorwärtsstrategie wählte – geöffnete Türen nützen, wo und in welcher Form sie sich ihm auch immer boten.

Die Headlines zum skizzierten apologetischen Ansatz

  1. Entwicklung einer einschneidenden Apologetik: Skeptiker sollen erkennen, weshalb ihr Ausschluss des Christentums als Option auf dem Markplatz der Meinungen ihre angebliche Inklusivität Lügen straft.
  2. Vertikale mit horizontalen Linien verknüpfen: Sozialkritik kann nicht losgelöst geistlichen Gesichtspunkten gehen. Rechtfertigung führt zu sozialer Gerechtigkeit.
  3. Entwicklung der Kritik von innen statt von aussen: Aktive Kontextualisierung bedeutet, die Gegenwartskultur zu kennen, sie von diesem Standort aus herauszufordern und sich dann auf das Evangelium zu berufen.
  4. Soziale Kategorien überwinden: Die christliche Gemeinde sollte die existierenden Kategorien überwinden – so wie die ersten Christen Abtreibung durch Adoption widerstanden und durch eine restriktive Sozialethik Frauen und Mädchen stärkten.
  5. Integration in die Arbeit: Laien tragen eine christliche Weltsicht in ihren Arbeitsplatz hinein. Jüngerschaft wird damit zum öffentlichen Anliegen.
  6. Information durch die weltweite Kirche: Die westlichen Gemeinden dürfen sich nicht isolieren, sondern die Sichtweisen der Kirche in anderen Erdteilen, besonders der verfolgten Kirche, integrieren.
  7. Unterschied zwischen Religiosität und Gnade wahren: Soziale Veränderung geschieht durch Gottes Gnade, nicht durch das Aufrichten neuer Regeln.

Hier geht es zum Livemitschnitt von Kellers Vorlesung. Manche Prinzipen finden sich in seinem Schlüsselwerk Center Church wider.

Zitat der Woche: Reduktionistische Ansätze zur Erklärung von Leid

Für Menschen, die glauben, „sitzt Gott im Sattel, und seine Liebe wird die Welt zurechtbringen. Für die Säkularen dagegen sind wir die, die alles machen müssen. … Christen dürfen, ja sollen ihr Leid in Tränen und Fragen fassen. … Anders als die Buddhisten glauben Christen, dass Leid real ist, und keine Illusion. … Anders als die Karma-Gläubigen finden Christen Leid oft ungerecht und unverhältnismäßig. … Anders als die dualistische (und zum Teil auch die moralistische) Position sieht der christliche Glaube im Leiden kein Mittel, durch standhaftes und tapferes Ertragen des Schmerzes seine Sünden „abzuarbeiten“.

Anders als der Fatalismus lehrt das Christentum, dass Leid schrecklich ist; anders als der Buddhismus, dass es real ist; anders als die Karma-Lehre, dass es oft ungerecht ist – und anders als der Säkularismus, dass es einen Sinn hat. Leid ist sinnvoll, und richtig betrachtet kann es uns wie einen Nagel tief in das Liebesherz Gottes hineintreiben und uns mehr innere Stabilität und Kraft geben, als wir uns vorstellen können.

Der Buddhismus sagt: Akzeptiere das Leiden. Die Karma-Lehre sagt: Zahle es ab. Der Fatalismus sagt: Trage es wie ein Held. Der Säkularismus sagt: Meide es oder repariere es. Aus der christlichen Sicht haben all diese Leidenskulturen ihr Fünkchen Wahrheit. Es stimmt: Der Leidende sollte nicht zu sehr an den Gütern dieser Welt hängen. Und die Bibel sagt, dass das meiste Leid in der Welt daher kommt, dass die Menschen sich von Gott abgewandt haben. Wir sollten in der Tat das Leid tragen und uns nicht von ihm unterkriegen lassen. Und es ist richtig, wenn wir Dinge, die zu Leid führen, nicht einfach passiv hinnehmen, sondern daran arbeiten, sie zu ändern. Die vorsäkularen Kulturen waren angesichts von Umständen und Ungerechtigkeiten, die zu Leid führen und die man ändern kann, oft zu passiv. 

Timothy Keller, Gott im Leid begegnen (Hörbuch),  S. 37f