Biografie: Thomas Sowells intellektuelle Odyssee

Fasziniert vertiefte ich mich mit dem biografischen Hintergrund des US-Ökonomen Thomas Sowell (* 1930). Hier sind einige Lebensereignisse und intellektuelle Wendestellen:

·  1929: Geboren in North Carolina, sein leiblicher Vater Henry starb vor seiner Geburt. 

·  Frühe Kindheit: Von seiner Tante Molly (Mamie Sowell) adoptiert, da seine leibliche Mutter als Alleinerziehende mit vier weiteren Kindern nicht für ihn sorgen konnte. 

·  Vor 1933: Seine Adoptiv-Cousine Bertie brachte ihm vor seinem vierten Lebensjahr das Lesen bei. 

·  1936: Begann die Schule mit 7 Jahren (ein Jahr später als üblich wegen einer Krankheit). 

·  1939: Umzug mit der Adoptivfamilie nach Harlem, New York, im Alter von fast 9 Jahren. 

·  Frühe New Yorker Jahre: Wurde einem Jungen namens Eddie Mapp vorgestellt, der ihn in die öffentliche Bibliothek einführte – ein entscheidender Wendepunkt in seinem Leben. 

·  Schulzeit in New York: Wurde trotz anfänglicher Anpassungsschwierigkeiten in eine spezielle Klasse für fortgeschrittene Schüler (die “r-Klasse”) eingestuft. 

·  Jugend: Erhielt die Genehmigung, die besser angesehene Junior High School 43 zu besuchen, die in einer besseren Gegend lag. 

·  Schulkonflikt: Hatte in der 8. Klasse einen Konflikt mit einem Lehrer (Mr. Leonard), der zu seiner Versetzung in eine normale Klasse führte. 

·  Highschool: Bestand die Aufnahmeprüfung für die elitäre Stuyvesant High School. 

·  Studienabbruch: Nach einer Krankheit konnte er den verpassten Stoff nicht aufholen und begann, die Schule zu schwänzen. 

·  1946: Mit 16 Jahren verließ er die Schule und nahm eine Vollzeitstelle als Western Union-Bote an. 

·  Januar 1948: Mit 17 Jahren verließ er das Haus seiner Adoptivmutter mit einem kleinen Koffer, der alles enthielt, was er besaß. 

·  1948-1949: Erlebte wiederholte Arbeitslosigkeit und musste unermüdlich nach Arbeit suchen; in einer besonders schwierigen Zeit verpfändete er seinen einzigen Anzug, um Essen kaufen zu können. 

·  Bildungswillen: Besuchte trotz finanzieller Not die Abendschule an der Washington Irving High School. 

·  Intellektuelle Neugier: Kaufte trotz extremer Armut eine alte Enzyklopädie für 1,17 Dollar und las regelmäßig die New York Times. 

·  Ideologische Prägung: Kam erstmals mit den Ideen von Karl Marx in Berührung, die ihn für das nächste Jahrzehnt beeinflussen sollten. 

·  1950: Zog nach Washington, D.C. und nahm Kontakt zu seiner leiblichen Familie auf. 

·  30. Oktober 1951: Wurde zum Militärdienst einberufen und dem Marine Corps zugeteilt. 

·  Militärzeit: Wurde nach guten Testergebnissen zur Fotografenschule an der Naval Air Station in Pensacola, Florida, geschickt. 

·  Nach dem Militär: Kehrte zum Studium zurück und begann an der Howard University zu studieren, während er gleichzeitig Vollzeit arbeitete. 

·  Studienfokus: Reduzierte seine Kurslast von 15 auf 9 Stunden, als er erkannte, dass sein ursprünglicher Plan zu anspruchsvoll war. 

·  Kritisches Denken: Empfand die Howard University als intellektuell nicht anspruchsvoll genug und schrieb einen kritischen Brief an den Dekan über die niedrigen akademischen Standards. 

·  Aufstiegswille: Bewarb sich an Harvard, Yale, Wisconsin und Columbia, wobei Harvard ihm schließlich ein kleines Darlehen anbot. 

·  Harvard-Anfang: Seine akademische Situation war zunächst äußerst prekär; bei den Zwischenprüfungen erhielt er zwei Ds und zwei Fs. 

·  Studienmethodik: Änderte radikal seine Studienmethoden, schlief nach dem Abendessen ein und wachte mitten in der Nacht auf, um zu studieren. 

·  Harvard-Erfolg: Schloss sein Studium mit magna cum laude ab, wobei sein Interesse an der marxistischen Wirtschaftstheorie zu einer hervorragenden Abschlussarbeit führte. 

·  Weiterbildung: Nahm ein Angebot der Columbia University für ein Graduiertenstudium an. 

·  University of Chicago: Dank einer starken Empfehlung erhielt er ein Stipendium und wurde von Milton Friedman betreut. 

·  Ideologische Wende: Während eines Sommerpraktikums im Arbeitsministerium begann er, seine marxistischen Überzeugungen zu überdenken, nachdem er empirische Hinweise darauf entdeckte, dass der Mindestlohn in Puerto Rico Arbeitsplätze vernichtete. 

·  Lehrtätigkeit: Begann als Dozent am Douglas College in New Jersey und stellte hohe akademische Anforderungen an seine Studentinnen. 

·  Howard-Rückkehr: Kehrte als Dozent an die Howard University zurück, wo er strenge Maßnahmen gegen Betrug einführte. 

·  Wirtschaftserfahrung: Nahm eine Stelle bei AT&T an, dem damals weltgrößten Unternehmen. 

·  Cornell-Zeit: Nahm ein Angebot der Cornell University an, obwohl dies einen Gehaltsrückgang von fast 25% bedeutete. 

·  1966-68: Sorge um Sohn John, der bis fast vier Jahre kaum sprach, trotz erstaunlicher kognitiver Fähigkeiten. 

·  1968: Organisierte eine Rockefeller-finanzierte Sommerschule für Top-Studierende historisch schwarzer Colleges und erzielte beeindruckende Leistungssteigerungen. 

·  1969: Nach Konflikten an Cornell wechselte er zur Brandeis University. 

·  1970: Erhielt eine Associate-Professur mit Tenure an der UCLA. 

·  1970: Schrieb in rasantem Tempo ein Einführungslehrbuch (Principles of Economics). 

·  1972-1974: Leitete das Ethnic Minorities Research Project am Urban Institute in Washington. 

·  1974: Kehrte zur UCLA zurück und startete kleinere, unabhängige Forschungsprojekte. 

·  1975: Begann die Arbeit an seinem bedeutendsten Werk Knowledge and Decisions

·  1975: Nahm an einer Debatte über Affirmative Action im Weißen Haus teil und argumentierte mit frischen Forschungsergebnissen gegen die vorherrschenden Annahmen. 

·  1978: Vollendete den ersten Entwurf von Knowledge and Decisions – das längste, anspruchsvollste und aus seiner Sicht beste Buch. 

·  1980: Wurde Senior Fellow am Hoover Institution – seine längste und erfüllendste berufliche Position, die ihm ermöglichte, sich vollständig auf Forschung zu konzentrieren. 

·  1980: Mediale Aufmerksamkeit während des Präsidentschaftswahlkampfs, obwohl seine tatsächliche Beteiligung am Reagan-Wahlkampf minimal war. 

·  1981: Organisierte die “Black Alternatives Conference”, um der medialen Fiktion einer monolithischen schwarzen politischen Meinung entgegenzuwirken. 

·  Ab 1982: Unternahm internationale Reisen (1984 und 1987 Weltumrundungen) für seine geplante Trilogie über Kultur und Migration. 

·  1987: Setzte sich für die Supreme-Court-Nominierung von Robert Bork ein und sagte als Zeuge vor dem Senats-Justizausschuss aus. 

·  1993: Begann sein unerwartetes Forschungsabenteuer zu “Late-Talking Children”, inspiriert durch die Erfahrungen mit seinem Sohn, und veröffentlichte 1997 ein Buch zu diesem Thema.

Umfassend in Sowells “A Personal Odyssey”.

Buchhinweis: Transportierte Moral in der Kinderliteratur von 100 Jahren

Dank KI-Möglichkeiten konnte ich eine Idee umsetzen, nämlich Ida Bindschedlers Heimtroman “Die Leuenhofer”, angelehnt an ihre eigene Lehrtätigkeit im Limmtattal der 1860er. Welche Moral wird im Werk transportiert? Hier eine Auswahl:

Armut

  • Armut wird nicht stigmatisiert, sondern als normale Lebensrealität mancher Familien dargestellt
  • Den kranken Georg Hammerbach, der aus einfachen Verhältnissen stammt, verteidigt Herr Schwarzbeck trotz des Verdachts
  • Nuschka wird trotz ihrer ärmlichen Herkunft (als Waise eines Kunstreiters) in die Gemeinschaft integriert
  • Gegenseitige Unterstützung in finanziellen Notlagen wird als selbstverständlich dargestellt (z.B. die Spende für den alten Mann mit dem Äffchen)

Bildung

  • Bildung wird als Weg zu persönlicher Entfaltung und besseren Lebenschancen hochgeschätzt
  • Lernschwierigkeiten (wie bei Nuschka oder Alwine) werden nicht verurteilt, sondern mit Geduld begegnet
  • Praktische Fähigkeiten werden ebenso wertgeschätzt wie schulisches Wissen (Nuschkas artistische Fähigkeiten)
  • Herr Schwarzbeck fördert kritisches Denken und moralische Reflexion neben Faktenwissen

Familie

  • Die Familie wird als primärer Ort der Geborgenheit und emotionalen Sicherheit dargestellt
  • Trennung von der Familie (Annelis Mutter arbeitet in der Stadt) wird als schmerzhafte Belastung für Kinder gezeigt
  • Großeltern übernehmen wichtige Erziehungs- und Betreuungsaufgaben (Annelis Großmutter)
  • Familiäre Bindungen werden über materielle Werte gestellt
  • Der Verlust von Familienmitgliedern (Georgs Tod, Annelis verstorbener Vater) wird als tiefgreifende emotionale Erschütterung dargestellt
  • Die Schulgemeinschaft übernimmt teilweise familiäre Funktionen

Umweltkatastrophe

  • Naturkatastrophen wie Hochwasser werden als ernsthafte Bedrohung, aber auch als Teil des Naturzyklus gesehen
  • Gemeinschaftliche Anstrengungen zur Bewältigung von Naturkatastrophen werden positiv bewertet
  • Mut und Selbstaufopferung in Notsituationen werden als vorbildlich dargestellt (Johanna Sebus, Ottilies Rettung)
  • Respekt vor den Naturgewalten wird vermittelt
  • Praktisches Wissen über die lokale Umgebung und ihre natürlichen Gefahrenstellen ist wichtig

Solidarität im Dorf

  • Starker Zusammenhalt innerhalb der Dorfgemeinschaft in Krisensituationen (Hochwasser, Krankheit)
  • Gegenseitige Hilfe und Unterstützung werden als selbstverständlich betrachtet
  • Gemeinsames Erleben stärkt den Zusammenhalt (Schulausflug, Examenfeier, Theateraufführung)
  • Die “Leuenhofer” entwickeln eine starke Gruppenidentität über ihre Schulzugehörigkeit
  • Reintegration von Ausgegrenzten wird als gemeinschaftliche Aufgabe gesehen (Georgs “Ehrenrettung”)

Rücksicht für Benachteiligte

  • Besondere Fürsorge für körperlich oder seelisch Schwächere wird als ethische Pflicht betrachtet
  • Herr Schwarzbeck fördert aktiv die Integration von Außenseitern (Nuschka, Georg)
  • Die Kinder lernen, über anfängliche Vorurteile hinauszuwachsen (gegenüber Nuschka, den Ferlikonern)
  • Mitgefühl für das Leid anderer wird den Kindern vermittelt (Anneli, Georg, der alte Mann mit dem Äffchen)
  • Die Gemeinschaft nimmt Rücksicht auf individuelle Schwächen (Alwines Prüfungsangst)
  • Besonders verletzliche Menschen verdienen besonderen Schutz (kranke Kinder, alte Menschen)
  • Ungerechte Vorwürfe gegen Benachteiligte werden als besonders schwerwiegend bewertet

Respekt gegenüber älteren Menschen

  • Ältere Menschen werden als Wissensträger und Ratgeber geschätzt (der alte Bezold mit seinen Geschichten)
  • Die Spitalbesuche zeigen, dass ältere Menschen Zuwendung und Unterhaltung brauchen
  • Die Kinder lernen, dass ältere Menschen trotz körperlicher Einschränkungen wertvoll sind
  • Die Bedürfnisse älterer Menschen werden ernst genommen (das Vorlesen für die Spitalleute)
  • Anfängliche Abneigung (gegen Frau Kradolfer) weicht echtem Interesse und Respekt
  • Generationenübergreifende Beziehungen werden als bereichernd für beide Seiten dargestellt

Verhältnis zum Besitz

  • Eigentum sollte respektiert, aber nicht überbewertet werden
  • Diebstahl wird eindeutig als moralisch falsch bewertet
  • Teilen wird als wichtiger Wert vermittelt (die Birnen, die Examenwecken)
  • Bescheidenheit wird positiv bewertet (der “brave Mann” lehnt die Belohnung ab)
  • Materielle Gegenstände haben einen untergeordneten Wert im Vergleich zu Freundschaft und Ehre
  • Großzügigkeit wird gewürdigt (die Kinder verzichten auf Essen und Leiterwagen für den alten Mann)

Autoritätsfiguren

  • Herr Schwarzbeck wird als gerechte, verständnisvolle, aber auch fordernde Autorität dargestellt
  • Der Pfarrer ist eine respektierte, aber zugängliche und manchmal humorvolle Figur
  • Eltern haben natürliche Autorität, die auf Liebe und Fürsorge basiert
  • Autoritätspersonen dürfen Fehler machen und Schwächen zeigen
  • Autoritätspersonen haben eine besondere Verantwortung für Schwächere
  • Autoritäten verdienen Respekt durch ihr Verhalten, nicht nur durch ihre Position

Konflikte lösen

  • Dialogbereitschaft wird als Grundlage für erfolgreiche Konfliktlösung dargestellt
  • Vermittlung durch Dritte (Herr Schwarzbeck, der Pfarrer) hilft bei verfahrenen Situationen
  • Gemeinsame Erlebnisse führen zur Überwindung von Feindschaften (Ferlikoner und Heimstetter)
  • Persönlicher Kontakt entschärft Konflikte, die auf Vorurteilen beruhen (beim Treffen an der Ferlikoner Brücke)
  • Die Übernahme von Verantwortung für eigene Fehler wird als wichtig für die Konfliktlösung betrachtet
  • Gegenseitiges Verständnis entwickelt sich durch das Erkennen gemeinsamer Interessen (Rettung des Kasperli)
  • Kompromissbereitschaft wird als Stärke, nicht als Schwäche bewertet
  • Statt Vergeltung zu üben, sollen Kinder nach konstruktiven Lösungen suchen (statt der Katzenmusik für Herrn Heuerlein)
  • Vorschnelle Urteile führen zu unnötigen Konflikten (Georgs Fall zeigt dies deutlich)

Rituale in der Jahreszeit/Brauchtum

  • Jahreszeitliche Rituale strukturieren das Gemeinschaftsleben und schaffen Identität
  • Das Fastnachtsfeuer auf dem Hügel verbindet die Generationen und schafft lokale Identität
  • Nikolaustag mit dem Duft von Tannenzweigen und den ersten Tirgel (Honigküchlein) leitet die Weihnachtszeit ein
  • Weihnachten mit Christbaum, Lichtern und Geschenken als wichtigstes Familienfest
  • Die besonderen Examentage mit ihren Traditionen (Examenwecken, Kaffeetrinken im Schulzimmer)
  • Das Sammeln von Frühlingsblumen markiert den Beginn des neuen Jahreszyklus
  • Die Theateraufführung im Spital als gemeinschaftsbildendes Ritual
  • Saisonale Spiele der Kinder folgen traditionellen Mustern (Marbel- und Kreiselspiel im Frühling)

Verhältnis zum Staat/Behörden

  • Autoritäten werden respektiert, aber nicht unkritisch hingenommen
  • Der Schulvorstand und die Schulpflege werden als wohlwollende, aber distanzierte Institutionen dargestellt
  • Der Gemeindepräsident wird als respektierte, aber zugängliche Amtsperson gezeigt
  • Lokale Behörden sind im Alltag präsenter und wichtiger als entfernte staatliche Institutionen
  • Behörden werden durch konkrete Personen repräsentiert, nicht als abstrakte Entitäten wahrgenommen
  • Die Städtchen-Verwaltung kümmert sich um praktische Belange (Straßen, Brücken, Hochwasserschutz)
  • Der Polizeidiener Freudweiler ist Teil der Gemeinschaft, nicht bloß Vertreter staatlicher Gewalt
  • Staatsbürgerliche Bildung wird durch patriotische Lieder und Geschichten über die Schweiz vermittelt

Umgang mit Fremden

  • Anfängliches Misstrauen gegenüber Fremden (Nuschka) kann durch Kennenlernen überwunden werden
  • Die Integration von Nuschka zeigt, dass Fremdheit nicht dauerhaft sein muss
  • Vorurteile gegenüber “Fremden” (Kunstreiter, Seiltänzer) werden kritisch reflektiert
  • Fremdes weckt sowohl Neugier als auch Unbehagen (die Kinder sind fasziniert und verunsichert von Nuschka)
  • Das Kennenlernen fremder Lebensweisen (Nuschkas Artistenleben) erweitert den Horizont der Kinder
  • Die Feindschaft zwischen Heimstetter und Ferlikoner Kindern basiert auf Unkenntnis des “Fremden”
  • Der alte Mann mit dem Äffchen wird trotz seiner Fremdheit mit Mitgefühl behandelt
  • Hans Mössmer, der aus der Ferne zurückkehrende ehemalige Schüler, wird herzlich willkommen geheißen
  • Die fremde Frau Breitenstein zeigt durch ihren Brief, dass Fremde nicht notwendigerweise kalt oder abweisend sind

Predigt: Gottes Wort in der Post-Truth-Gesellschaft

John Stotts Auslegung (1967) zu 2Tim 3,15-17:

VersWortlautHauptbeobachtungen Stotts
15a
«und weil du von Kindheit an die heiligen Schriften kennst …»
– Hēra brephous → „seit dem Säuglingsalter“: Der Glaube beginnt im Elternhaus (Lois & Eunike).
– Hierá grám­mata betont die Heiligkeit des AT als göttliche Offenbarung.
Familiäre Katechese: Frühkindliche Schriftprägung ist Gottes gewöhnlicher Weg, Leiter hervorzubringen.
15b
«… die Kraft haben, dich weise zu machen zur Rettung …»
– Schrift besitzt dynamis: innere Wirksamkeit.
– sophisai (Aorist‑Inf.): Ziel ist Heilsweisheit, nicht akademisches Wissen.
– Rettung = ganze Heilsordnung (Rechtfertigung – Heiligung – Verherrlichung).
Zielrichtung der Bibel: soteriologisch, nicht primär naturwissenschaftlich; sie zeigt Gottes Weg zum Heil.
15c
«… durch den Glauben an Christus Jesus.»
– Schrift alleine rettet nicht; sie führt zu Christus.
– AT und apostolische Botschaft bilden eine Einheit, weil beide auf den Messias verweisen.
Christozentrik: Die Bibel ist kein Selbstzweck (keine „Bibliolatrie“), sondern Zeuge für den einen Retter.
16a
«Alle Schrift ist von Gott gehaucht(theopneustos)…»
– Ein einziges Wort: theo‑pneustos = „gottgehaucht“, besser «ausgehaucht» als «einge­haucht».
– Umfasst mind. das ganze AT; wohl auch die apostolische Lehre («was du von mir gelernt hast»).
Inspiration: Ursprung bei Gott, Vermittlung durch Menschen ohne Aufhebung ihrer Persönlichkeit → höchste Autorität.
16b
«… und nützlich(ōphelimos)…»
– Göttlicher Ursprung begründet menschlichen Nutzen.
– Nutzen wird vierfach entfaltet.
Korrelation: Weil schriftgöttlich, darum praktisch verwertbar.
16c
1. «zur Lehre(didaskalia)»
Vermittelt positive Glaubens­inhalte; baut christliche Dogmatik auf.Orthodoxie sichern
16d
2. «zur Überführung(elegchos)»
Entlarvt Irrtum, korrigiert falsche Weltanschauungen.Apologetik/Pole­mik gegen Häresien
16e
3. «zur Zurechtweisung / Wieder­herstellung (epanorthōsis)»
Richtet fehlgeleitetes Verhalten wieder auf; moralische Rehabilitation.Ethik – Umkehr ermöglichen
16f
4. «zur Erziehung in Gerechtigkeit (paideia)»
Kontinuierlicher Trainings­prozess – Formung des Charakters gemäß Gottes Maßstab.Spiritual Formation
17
«damit der Mensch Gottesvollkommen sei, ausgerüstet zu jedem guten Werk.»
– Anthrōpos theou: ursprünglich Propheten­titel → heute jeder, der Gott gehört; besonders Leiter.
– artios = vollkommen, ganz; exērtismenos = vollständig ausgerüstet (Militär‑/Sport­bild).
Endziel: Ganzheitliche Reife (Glaube + Verhalten) → praktische Dienstbefähigung in Gemeinde & Welt.

Zusammenfassung der Auslegung

  1. Historischer Kontext
    • Timotheus’ lebenslange Schriftprägung steht als positives Gegenbild zur kultischen Scheinfrömmigkeit (3,5) und zur Irrlehre (3,13).
    • Paulus betont Kontinuität: Seine apostolische Lehre ent-spricht den alttestamentlichen Schriften, ist also keine Neuerfindung.
  2. Natur der Schrift
    • Sie ist theopneustos: Ursprung bei Gott, vermittelt durch Menschen – Autorität und Irrtums­losigkeit in allem, was sie lehrt über Glauben und Leben.
    • „Inspiration“ wird besser als Exspiration (Gottes Aushauchen) verstanden.
  3. Zweck der Schrift
    • Soteriologisch: führt zu „Weisheit, die rettet“ – Zentrum ist Jesus Christus.
    • Didaktisch & pädagogisch: vierfache Nützlichkeit (Dogmatik, Apologetik, Ethik, Formung).
    • Teleologisch: Ziel ist der vollständig zugerüstete Mensch Gottes, fähig zu jedem guten Werk – also Dienst‑ und Kulturverantwortung.
  4. Praktische Impulse nach Stott
    • Kirchliche Leiterschaft: Dienst ohne solide Schriftbasis ist illegitim.
    • Erziehung & Familie: Eltern tragen Hauptverantwortung, Kindern früh die Bibel nahezubringen.
    • Gemeindliche Jüngerschaft: Predigt und Unterricht müssen gleichermaßen lehrhaft, korrigierend, aufbauend und formend sein.
    • Mission & Gesellschaft: In einer „post‑truth culture“ bleibt die gottgehauchte Schrift das verlässliche Fundament für Wahrheit, Menschenwürde und verantwortliches Handeln.

Vortrag: Gesamteinschätzung von Karl Barths Theologie

Wie ist Karl Barths Theologie einzuordnen? Hier der Abriss einer stark eher an Cornelius van Tils radikaler Kritik anschliessender, jedoch eigenständiger Vorlesungsreihe von Jim Cassidy und Lane Tipton.

I. Barths theologische Ontologie und Offenbarungsverständnis

A. Offenbarungslehre: direkt oder indirekt?

  • Van Til kritisiert bei Barth, dass Offenbarung für ihn nur indirekt zugänglich sei, obwohl sie in “Gottes Zeit” direkt stattfindet.
  • Barth entwickelt eine dialektische Zwei-Sphären-Struktur:
    • “Historie” (unsere gewöhnliche Zeit): Hier ist Gott völlig verborgen
    • “Geschicht(e)” (Gottes Zeit für uns): Hier ist Gott völlig offenbart
  • Die beiden Sphären sind dialektisch aufeinander bezogen, können jedoch nie identisch werden.
  • Für Barth findet wahre Offenbarung nur in Jesus Christus statt, nicht in der Schrift oder Natur.
  • Die Bibel ist für Barth nicht selbst Offenbarung, sondern nur Zeugnis der Offenbarung.

B. Barths aktualistisches Gottesverständnis

  • Gott hat sein Sein in seiner Tat der Gnade in Jesus Christus.
  • Es gibt keinen Gott “hinter” dem Gott, der sich in Jesus Christus offenbart.
  • Gottes Sein ist mit seiner Offenbarungstat identisch.
  • Van Til nennt dies “Aktivismus”: Für Barth konstituiert die Tat Gottes sein Wesen.
  • Barth lehnt die traditionelle metaphysische Gotteslehre ab, nach der Gott ein unveränderliches, selbstgenügsames Wesen besitzt.

C. Korrelativismus

  • Van Til kritisiert bei Barth einen “Korrelativismus”: Gott und Mensch bestimmen sich gegenseitig in Jesus Christus.
  • Gott und Mensch haben eine wechselseitige Beziehung, in der beide aufeinander angewiesen sind.
  • In Jesus Christus sind Gott und Mensch vollständig identifiziert – in “Gottes Zeit für uns”.
  • Die Beziehung zwischen Gott und Mensch in Jesus Christus ist christologisch qualifiziert.
  • Für Barth gibt es keinen Gott “in sich selbst” unabhängig von seiner Beziehung zum Menschen.

II. Barths Christologie und Soteriologie

A. Kein Übergang von Zorn zu Gnade

  • Van Til kritisiert, dass es in Barths Theologie keinen historischen Übergang vom Zorn Gottes zur Gnade gibt.
  • Bei Barth findet der Sühneopfertod Christi nicht in unserer Zeit, sondern in Gottes Zeit für uns statt.
  • Die Kreuzigung und Auferstehung sind keine sequentiellen historischen Ereignisse, sondern ein einziges Ereignis in “Gottes Zeit”.
  • Für Barth ist die Rechtfertigung nicht etwas, das in der Zeit geschieht, sondern etwas, das in Gottes Zeit für uns bereits geschehen ist.
  • Der Mensch begegnet Gott nicht in unserer Zeit, sondern nur in der besonderen Geschichte Gottes.

B. Barths angeblicher Universalismus

  • Van Til argumentiert, dass Barths Gnadenlehre zu einem Universalismus führt.
  • In Jesus Christus versöhnt Gott sich mit der Menschheit in der Menschheit Christi.
  • Christi Menschheit ist nicht nur seine eigene, sondern die Menschheit aller Menschen.
  • Christus ist sowohl der Erwählte als auch der Verworfene, wodurch die doppelte Prädestination aufgehoben wird.
  • Barth qualifiziert seinen Universalismus: Man könne nicht behaupten, dass alle Menschen gerettet werden, aber auch nicht das Gegenteil.
  • Van Til sieht diese Qualifizierung als konsistent mit Barths dialektischem Denkansatz.

C. Barths Ablehnung des Werkbundes

  • Barth lehnt die reformierte Lehre vom Werkbund (Bund der Werke) ab.
  • Für Barth gibt es keine Zeit der Unschuld Adams vor dem Fall – der erste Mensch war sofort der erste Sünder.
  • Barth versteht Adam als Symbol für jeden Menschen, nicht als historische Person mit ursprünglicher Gerechtigkeit.
  • Der Gnadenbund ist für Barth der einzige Bund, der existiert hat und existieren kann.
  • Jesus Christus ist der wahre Mensch, der in unmittelbarer Beziehung zum Sein Gottes steht.

III. Barths Schöpfungslehre

A. Genesis 1,1 und das Problem der mythischen Kosmologie

  • Für Barth ist Genesis 1,1 von heidnischer Mythologie beeinflusst und daher kein verlässliches Zeugnis.
  • Barth wendet sich stattdessen dem “Wort Gottes” zu, das Jesus Christus selbst ist.
  • Für Barth entspricht “Himmel” dem Sein und Handeln Gottes, “Erde” dem Sein und Handeln des Menschen.
  • Die Verbindung von Himmel und Erde entspricht dem Bund, in dem göttliches und menschliches Sein und Handeln zusammentreffen.

B. Das “Wort Gottes” bei Barth

  • Das Wort Gottes in seiner grundlegenden Form ist für Barth nicht die Schrift, sondern Jesus Christus selbst.
  • Die Schrift und die Predigt sind nur Zeugnisse des Wortes Gottes, nicht das Wort Gottes selbst.
  • Das Wort Gottes befasst sich mit Gott und dem Menschen, nicht mit einer Kosmologie von Himmel und Erde.
  • Es vermittelt eine Ontologie des Menschen, der unter dem Himmel und auf der Erde lebt.

C. Teilhabe an Jesus Christus

  • Für Barth nimmt Jesus Christus als “wahrer Mensch” unmittelbar am aktualisierten Wesen Gottes teil.
  • Adam und Eva nehmen indirekt am Sein Jesu Christi teil – sogar bevor sie ihn kennen oder an ihn glauben.
  • Dies führt zu einer ontologischen Bestimmung des Menschen durch Jesus Christus.
  • Wahrer Mensch zu sein bedeutet, an Jesus Christus teilzuhaben.

IV. Vergleich und Kritik

A. Die tiefere protestantische Konzeption vs. Barths modernistische Konzeption

  • Die tiefere protestantische Konzeption (Van Til, Vos, Klein, etc.) betont:
    • Gottes unveränderliches Sein unabhängig von der Schöpfung
    • Die “Indoxation” des Geistes und “Inkoronation” des Sohnes im himmlischen Tempel
    • Gottes Herablassung zu Adam im Werkbund
  • Barths modernistische Konzeption lehnt all dies ab und ersetzt es durch:
    • Gottes Sein als bestimmt durch seine Beziehung zur Schöpfung in Jesus Christus
    • Das “Wort Gottes” als primordiales Ereignis der Gnade
    • Den Gnadenbund als einzigen Bund

B. Van Tils Kritik an Barths Korrelativismus im Christusereignis

  • Van Til erkennt mit bemerkenswerter Klarheit Barths aktualisierte Gotteslehre und die wechselseitige Beziehung zwischen Gott und Mensch in Jesus Christus.
  • Er sieht den Universalismus als inhärent in Barths Gnadenkonzeption.
  • Van Til betont, dass für Barth Jesus Christus sowohl der Grund des Wissens als auch des Seins für den Menschen ist.

C. Van Til über Barth und den nachvatikanischen Katholizismus

  • Van Til sieht Ähnlichkeiten zwischen Barths Theologie und dem nachvatikanischen Katholizismus (Rahner, Küng).
  • Beide betonen die Teilhabe der Menschheit an der ontologischen Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus.
  • Beide lehnen die tiefere protestantische Konzeption des Werkbundes ab.
  • Barths Aktualisierungslehre und Rahners sakramentale Lehre stehen gemeinsam im Gegensatz zur konfessionellen reformierten Theologie.

Theologische Gesamteinschätzung

  1. Barths Theologie ist eine radikale Neuformulierung des christlichen Glaubens, die mit traditionellen reformierten Überzeugungen bricht.
  2. Barth entwickelt eine dialektische Theologie, die versucht, sowohl Gottes Transzendenz als auch seine Immanenz in Jesus Christus zu bewahren.
  3. Van Til und andere reformierte Kritiker sehen in Barths Korrelativismus eine gefährliche Aufweichung des Unterschieds zwischen Schöpfer und Geschöpf.
  4. Barths Ablehnung des Werkbundes und seine Neuinterpretation von Adam untergraben die klassische reformierte Bundestheologie.
  5. Barths Christozentrismus führt zu einem “aktualisierten Anthropozentrismus”, der für Van Til und andere Kritiker problematisch ist.
  6. Trotz Barths Rhetorik gegen den Katholizismus gibt es tiefe Ähnlichkeiten zwischen seiner Theologie und dem transzendentalen Thomismus.
  7. Barths dialektische Methode erlaubt ihm, “Ja” und “Nein” gleichzeitig zu sagen, was für reformierte Kritiker unzulässige logische Widersprüche darstellt.
  8. Die Stärke von Barths Theologie liegt in ihrer christologischen Konsequenz; ihre Schwäche in der Ablehnung direkter Offenbarung in Schrift und Natur.
  9. Barth versucht, die Souveränität Gottes zu bewahren, untergräbt sie aber paradoxerweise durch seinen Korrelativismus.
  10. Die Grundfrage bei der Beurteilung Barths bleibt, ob seine dialektische Methode eine legitime Weiterentwicklung oder eine inakzeptable Verzerrung der reformierten Tradition darstellt.

Vortrag: Aleksandr Solzhenitsyn – Biografie, Werk, Lernfelder

In zwei Einheiten trug ich zu Biografie (52 Minuten), Werk und Lernfeldern (45 Minuten) von Aleksandr Solzhenitsyn (1918 – 2008) vor. Vor einigen Jahren habe ich zudem einen einführenden Text verfasst. Als Einführung in sein umfangreiches Werk kann ich insbesondere “The Solzhenitsyn Reader: New and Essential Writings, 1947-2005” empfehlen.

Dies sind einige Lernpunkte, die ich mitnehme:

Ehe und gemeinsame Ausrichtung

  • Solženičyns erste Ehe scheitert an zehnjähriger Entfremdung, weil Krieg, Lager, Heimlichkeiten und ideologische Gräben den gemeinsamen Boden zerstören.
  • Die zweite Ehe (ab 1973) hatte eine andere Grundlage, weil Alexander und Natalja ihre Verbindung bewusst auf dasselbe Ziel ausrichteten. Als Christen steht uns das stärkste einende Ziel vor Augen. Ausdruck dafür ist das gemeinsame Gebet.

Selbstführung unter äußerstem Druck

  • Im Gulag lernt Solzhenitsyn, dass die „letzte Freiheit des Menschen“ darin besteht, innerlich Stellung zu seinen Umständen zu beziehen, auch wenn alle äußeren Parameter festgelegt sind.
  • Die Formel „Nicht mit der Lüge leben“ bleibt eine Minimalstrategie für Christen in jeder Phase.
  • Besonders eindrücklich sind die fix in den strengen Alltag der Zwangsarbeit eingebauten Memorier-Einheiten.

Reue und Selbstbeschränkung

  • Der Schriftsteller erklärt in der Templeton-Rede, Russlands Tragödien seien entstanden, „weil die Menschen Gott vergessen haben“ und somit die Fähigkeit zur Reue verloren haben.
  • Er fordert sowohl Individuen als auch Staaten zu bewusster Selbstbeschränkung auf, weil dies erst Fokus auf das Wichtigste ermöglicht bzw. Energie freisetzt.

Langzeitprojekte und eiserne Disziplin

  • Das zwanzigjährige Quellen- und Schreib­unternehmen Das Rote Rad zeigt, dass Großziele eine fein getaktete Alltags­routine verlangen – bei Solženičyn begann sie um 5 Uhr morgens und dauerte fast 17 Stunden.

Umgang mit Kritik und Rufmord

Der Schriftsteller beschreibt seine Existenz im Exil „zwischen zwei Mühlsteinen“ von Ost und West. Diese Spannung kann jedoch Kritik als Entscheidungspunkt für die “Triage” lesen: Was gilt es beizubehalten, was muss ich korrigieren?

Rückkehr und Versöhnung

1994 reist er im Regionalzug von Wladiwostok nach Moskau, um sich der Heimat zu stellen und die Stimmen einfacher Leute einzusammeln, obwohl er weiß, dass das Parlament ihn ignorieren wird.

Politische Verantwortung von unten nach oben

Der Besuch der Appenzeller Landsgemeinde inspiriert Solschenizyn lebenslang, direkte Demokratie und Selbstverwaltung als Zukunftsmodell für Russland zu skizzieren.

Warnung vor ideologischer Sattheit

In „A World Split Apart“ ruft er Harvard-Absolventen auf, materielle Sicherheit nicht mit Sinn zu verwechseln. Ebenso betonte er, dass ein Rechtssystem ohne entsprechende Moral zur Aushöhlung und Ausnützung führt.

Konflikt mit der Ukraine

Seine Analyse des drohenden Russland-Ukraine-Konflikts zeigt, wie historisches Tiefenwissen politische Weitsicht ermöglicht.

Input: Parallele Polis und politischer Realismus

Der tschechische Dissident Vaclav Benda (1946-1999) dient mir in mehreren Belangen als Vorbild. In einer Diskussion (2020) wird dessen Relevanz als Denker für das 21. Jahrhundert thematisiert. Teilnehmer waren der US-Politikwissenschaftler Prof. Flagg Taylor (Herausgeber der amerikanischen Edition), der tschechische EU-Abgeordnete und Ex-Dissident Alexandr Vondra sowie der polnische Moderator Maciej Zakrocki. Dies sind die vorgetragenen Argumente:

Bendas Platz in der tschechischen Dissidentenbewegung

  • Chartá 77 umfasste laut Vondra drei Flügel: einen liberal-künstlerischen (z. B. Václav Havel), einen sozialistisch-linken (z. B. Petr Uhl) und einen katholisch-konservativen – dessen prägnanteste Stimme Václav Benda war.
  • Benda vertrat einen kompromisslosen antikommunistischen Standpunkt; er charakterisierte den Kommunismus als „Antichrist“ und lehnte jede Hoffnung auf Reformen von oben ab.
  • Das Benda-Familienhaus in Prag fungierte als legendärer Treffpunkt für Dissidenten, junge Aktivisten und Samisdat-Redakteure und symbolisiert die praktische Umsetzung seines Denkens.

Kernidee: Die „Parallel Polis“

  • Benda sah die entscheidende Stärke totalitärer Systeme in der Atomisierung der Gesellschaft und reagierte darauf mit dem Konzept einer „Parallelen Polis“.
  • Diese soll freiwillige Räume (Bildung, Kultur, Religion, Soziales) schaffen, in denen Menschen Gemeinschaft und Freiheit konkret erleben und politische Verantwortung einüben.
  • Er betonte, dass die Parallelgesellschaft kein Ghetto, sondern ein Trainingsfeld für eine künftige Demokratie sein müsse, bereit, historische Fenster der Freiheit zu nutzen.

Gründe für seine heutige Relevanz

  • Vondra und Taylor argumentieren, dass konservative Milieus im Westen heute einen ähnlichen Konformitäts- und Ideologiedruck spüren wie Dissidenten unter dem Kommunismus (Cancel Culture, radikaler Relativismus, Allianz von Big Business und Kulturlinken).
  • Bendas Betonung radikaler persönlicher Verantwortung, kultureller Verwurzelung und geistiger Unabhängigkeit bietet ein Gegenmodell zu sowohl kollektivistischer als auch extrem individualistischer Entwurzelung.

Familie, Bildung und Kultur als Widerstandszonen

  • In seinen Essays beschreibt Benda die Familie als letzte Bastion gegen totalitäre Vereinnahmung und warnt vor politischer Eindringtiefe in intimste Lebensbereiche.
  • Er fordert, konservative Politik müsse Schulen, Universitäten und Kulturbetriebe ernst nehmen; das Vernachlässigen dieser Felder führt laut Vondra zu langfristigen Niederlagen.
  • Die Samisdat-Seminare und Untergrund-Hochschulen werden als Beleg dafür präsentiert, wie kulturelle Bildung Freiheitsräume öffnet und Identität stärkt.

Politisches Wirken nach 1989

  • Benda gründete die Christdemokratische Partei (KDS) und bewies politischen Realismus, indem er ihre Fusion mit der liberal-konservativen ODS vorantrieb, um die Kräfte rechts der Mitte zu bündeln.
  • Durch diese Bündelung trug er zu Erfolgen wie Lustrationsgesetzen, Eigentumsrestitution und Aufbau einer starken Mittelschicht bei.
  • Seine pragmatische Koalitionsfähigkeit illustriert, wie Minderheitenpositionen bei klaren Prinzipien maximalen Einfluss entfalten können.

Persönliche Tugenden und Vorbildfunktion

  • Taylor hebt hervor, dass Benda die Versuchungen von Stolz (moralische Selbstgerechtigkeit) und Verzweiflung (resignativer Pessimismus) gleichermaßen vermied.
  • Er verband Magnanimität – den Mut, Großes zu wagen – mit Demut und Dialogbereitschaft, selbst gegenüber politisch entgegengesetzten Personen wie dem Trotzkisten Petr Uhl.
  • Diese Haltung gilt den Diskussionspartner als Leitfigur für heutige Konservative, um geistige Standfestigkeit mit gesprächsoffener Bescheidenheit zu verbinden.

Leitgedanke für die Zukunft

  • Benda formulierte 1987: „Unsere Sprache muss Ja-Ja oder Nein-Nein sein“ – klare, wahrhaftige Rede sei Voraussetzung, damit die Parallel Polis im Moment einer Krise gehört werde.
  • Die Diskussion schließt mit dem Appell, Bendas Schriften als praktisches Handbuch für kulturellen Selbsterhalt, politische Kreativität und hoffnungsvolle Standhaftigkeit zu lesen.

Input: Soziologische These zu entscheidungsstarken und -schwachen Menschen

Die als “reaktionär-feministische” Journalistin Louise Perry (* 1992) entwickelt folgende Argumentation zur “Agency” von Menschen im sehenswerten Podcast “Why Women Are Struggling To Find A Man” (Ab Minute 8:27):

  • Menschen unterscheiden sich stark in ihrer Fähigkeit Initiative zu ergreifen. Sie liegt eher auf einer Glockenkurve und ist eine Mischung aus Eigenschaften wie Fleiß, Durchsetzungsvermögen und Intelligenz.
  • Extrem entscheidungsstarke Personen – Elon Musk dient als Beispiel – beugen die Welt ihrem Willen; die meisten Menschen folgen dagegen vorgefertigten Lebensskripten.
  • Weil Eliten oft zu dieser agentischen Minderheit gehören, fehlt ihnen Empathie für jene, die „einfach nicht nur weniger essen und mehr Sport treiben“ können.
  • Für viele Durchschnittsmenschen kann es deshalb sinnvoll sein, sich an bewährten Leitplanken oder klügeren Vorbildern zu orientieren, statt jede Entscheidung selbst „from scratch“ zu entwerfen.
  • Gleichzeitig führt blindes Mitschwimmen in einer fehl­angepassten Umgebung (Billigkalorien, Dating-Apps etc.) zu verbreiteten Problemen wie Fettleibigkeit, Scheidung und finanzieller Unsicherheit.
  • Der Ruf nach paternalistischen Strukturen entspringt dem Versuch, gesellschaftliche Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass auch weniger agentische Menschen gute Ergebnisse erzielen.
  • Kontroversen um Hilfsmittel wie Abnehmmedikamente (Ozempic) zeigen das moralische Unbehagen: Manche betrachten „Abkürzungen“ als unverdiente Glücks- oder Willenskürzung.
  • Historisch ähnliche Debatten gab es bereits bei der Einführung von Narkose – Schmerzen galten damals als notwendiger Bestandteil des Heilens.
  • Der Sprecher plädiert dafür, Trade-offs nüchtern abzuwägen: Medizinischer Fortschritt wird Nebenwirkungen minimieren, und moralische Einwände beruhen oft eher auf sozialen Normen als auf sachlichen Risiken.

Input: Befunde zur Sinnforschung in Psychotherapie und klinischer Psychologie

Alexander Batthyany legt in der Einführung von “Meaning in Positive and Existential Psychology” (2014) dar, welcher Einfluss Sinnfrustration auf Klienten ausübt:

  • Crumbaugh & Maholick (1964) entwickelten den Purpose in Life Test (PIL); seither in rund 150 Studien als Messinstrument für Sinnverwirklichung eingesetzt und damit zum Standard in der klinischen Sinnforschung geworden.
  • Rosenberg & Green (1998): Mit dem PIL lässt sich zuverlässig zwischen psychiatrischen Patienten und gesunden Vergleichspersonen unterscheiden – Sinnfrustration ist ein starker Marker psychischer Störung.
  • Harlow & Newcomb (1990): Fehlender Lebenssinn vermittelt bei Frauen den Weg von Kontrollverlust und Depression zu Substanzmissbrauch; bei Männern vermittelt er zu Selbstabwertung und Suizidneigung.
  • Kinnier et al. (1994): Sinnlosigkeit ist der bedeutendste Mediator zwischen Depressivität und Substanzkonsum und zugleich der einzige signifikante Prädiktor für Suchterkrankungen.
  • Shek (1998) – prospektive Längsschnitt­studie mit chinesischen Jugendlichen: Niedrige Sinnwerte sagten allgemeine psychische Morbidität am besten voraus (noch vor Selbstwert).
  • Mascaro & Rosen (2005): Lebenssinn erklärt zusätzliche Varianz in Hoffnung und Depressionssymptomen zwei Monate später – über Persönlichkeitsfaktoren hinaus. – Mascaro & Rosen (2006) zeigen zudem, dass Sinn das Verhältnis zwischen täglichem Stress und Depression abpuffert.
  • Reker (2002) – 14-Monats-Studie mit älteren Erwachsenen: Sinn war der stärkste Prädiktor erfolgreichen Alterns, noch vor sozialen und kognitiven Ressourcen.
  • Linehan et al. (1983): Die Reasons for Living Index (RFL) integriert Sinnaspekte; spätere Arbeiten (Malone et al., 2000; Gutierrez et al., 2000; Britton et al., 2008) bestätigen seine außergewöhnliche Prognosekraft für Suizidalität.
  • Debats (1996) – Therapie-Follow-up: Höherer Lebenssinn verbessert positive und negative Befindens­dimensionen, steigt während sinnorientierter Psychotherapie signifikant an und sagt Therapieerfolg unabhängig vom Ausgangsniveau voraus.
  • Waisberg (1994) – Alkohol­abhängige: PIL-Werte lagen vor der Behandlung pathologisch niedrig, nach drei Monaten Behandlung im Normbereich; die End-PIL-Werte prognostizierten sowohl Gesundheits­veränderungen als auch Rückfallrisiko.
  • Khatami (1987); Kass et al. (1991); Nagata (2003) – Chronische Schmerzpatient:innen: Sinnorientierte Intervention senkte Schmerz, Depression, Angst, Somatisierung sowie Analgetika­konsum; Verbesserungen blieben nach zwölf Monaten stabil.
  • Bowes et al. (2002) – Fortgeschrittener Eierstockkrebs: Frauen, die Lebenssinn fanden, berichteten subjektives Wohlbefinden; fehlender Sinn führte zu Verzweiflung.
  • Lyon & Younger (2001) – AIDS-Patient:innen: Lebenssinn war ein stärkerer Prädiktor für Depression als Krankheits­schwere oder Laborparameter.

Diese Studien belegen konsistent, dass erlebter Sinn

  1. psychische Störungen mitbedingt,
  2. als Schutz- und Resilienzfaktor wirkt,
  3. den Erfolg psychotherapeutischer Interventionen vorhersagt und
  4. sich durch sinnorientierte Therapie gezielt erhöhen lässt – mit nachhaltigen Effekten auf Symptomatik und Lebensqualität.

Input: Der Kern der Gemeindearbeit – vom Spalier und vom Weinstock

Neuerlich habe ich für einen Zukunftsworkshop in der Gemeindearbeit auf die Metapher vom Spalier und Weinstock zurückgegriffen. Die beiden australischen Theologen Tony Payne und Colin Marshall vergleichen kirchliche Gemeindearbeit mit einem Weinstock, der an einem Spalier emporwächst (siehe diese YouTube-Serie). Der Weinstock steht für das eigentliche geistliche Leben: Menschen, die durch das Evangelium zum Glauben kommen und in Jüngerschaft wachsen. Das Spalier symbolisiert die unterstützenden Strukturen wie Gebäude, Programme, Budgets oder Verwaltung, die den Weinstock zwar halten, aber selbst kein Leben in sich tragen. Payne / Marshall beobachten, dass viele Gemeinden sehr viel Energie in das „Spalier-Bauen“ investieren, während das eigentliche „Weinstock-Werk“ – persönliche Evangelisation, Bibel-Weitergabe und Mentoring – vernachlässigt wird. Ihre Metapher ruft deshalb zu einer „Ministry Mind-Shift“ auf: Strukturen sind wichtig, aber sie haben nur dienenden Charakter und dürfen nie Selbstzweck werden. Wirklich fruchtbar wird eine Gemeinde erst dann, wenn der größte Teil der Ressourcen und Aufmerksamkeit auf das Wachstum des Weinstocks, also auf die geistliche Reproduktion von Menschen, gerichtet ist. Das entsprechende Buch “Vom Spalier und vom Weinstock” ist in deutscher Sprache verfügbar.

Um noch einen Schritt weiter zu gehen: Was ist das zentrale Mittel der Jüngerschaft? Payne erklärt: Gott selbst ist ein „expositorischer Gott“, der sich in Schöpfung, Schrift und letztlich in seinem Sohn offenbart; deshalb muss jede Verkündigung Auslegung des Wortes sein. Das Problem vieler Gemeinden liegt darin, dass diese Exposition an der Kanzel steckenbleibt und nicht bis zur Kirchenbank durchdringt, sodass letztlich ein Predigerdienst statt eines „Dienstes der Gemeinde“ entsteht. Darum sollen Älteste, Mitarbeiter und jedes Gemeindeglied so mit der Bibel ausgerüstet werden, dass sie sie täglich weitergeben – in Hauskreisen, am Küchentisch, beim Singen und in Beziehungen zu Nichtchristen. Evangelisation darf sich nicht in “Übersee-Mission” erschöpfen, sondern soll vor allem im eigenen Umfeld stattfinden, indem Christen ihre Nachbarn in ihr Leben und in die Schrift einladen. Alle Gemeindestrukturen – Gruppen, Schulungen, Besuche, Gottesdienste – haben denselben Zweck: Menschen durch wortzentrierte Beziehungen zu Jüngern zu machen. Dabei gilt die Grundüberzeugung, dass die Bibel im Wohnzimmer ebenso kraftvoll wirkt wie auf der Kanzel, wenn sie im Gebet und unter dem Wirken des Geistes gesprochen wird.

Medien: Neuer Papst, und nun?

Mit Interesse verfolgte ich die neuerliche Papstwahl. Hier zunächst die inhaltlichen Elemente der ersten Rede. Mich verwirrt der diffus Gebrauch von Begriffen, hier beispielsweise des Friedens. Zudem vermisse ich die Priorität des Evangeliums – der Dreieine Gott rettet Sünder – in der Botschaft; (Kirchen-)Politik dominiert.

Eröffnungsgruß & Friedenswunsch (0:58 – 3:30): Mehrfaches „Friede sei mit euch“ als unmittelbare Verbindung zur Osterbotschaft.
Charakterisierung des Friedens Christi (4:28 – 4:40): Friedensdefinition (entwaffnet/entwaffnend, demütig, ausdauernd); Quelle: Gottes universale Liebe.
Rückblick auf Papst Franziskus & Fortführung seines Segens (4:53 – 5:23): Anerkennung des Mutes von Franziskus; Einladung, seinen Ostersegen weiterzutragen.
Ermutigung & Zusage göttlichen Beistands (5:27 – 6:02): Betonung: Sünde verliert, wir stehen in Gottes Hand; Appell zu Furchtlosigkeit und Geschwisterlichkeit.
Aufruf zum Brückenbauen (6:07 – 6:28): Die Welt benötigt Licht der Jünger → Dialog & Begegnung als Bauweise der Brücken.
Dank & Selbstvorstellung (6:42 – 7:11): Dank an Kardinäle; Verpflichtung, gemeinsam Frieden & Gerechtigkeit zu suchen.
Herkunft & gemeinsame Pilgerschaft (7:30 – 7:55): Verweis auf augustinische Wurzeln; Einladung, „zusammen den Weg zu gehen“.
Besondere Botschaft an die Diözese Rom (8:05 – 8:36): Skizze einer offenen, aufnehmenden, missionarischen Kirche.
Spanischer Einschub an Peru (8:44 – 9:32): Dank für vergangene Erfahrungen dort.
Erneuter Gesamt-Aufruf zur geeinten Kirche der Nächstenliebe (9:32 – 9:56): Fokus auf Friedenssuche und Nähe zu Leidenden.
Marianischer Abschnitt & gemeinsames Gebet (10:04 – 11:00): Bezug auf Fest der Madonna von Pompeji; Bitte um ihre Begleitung; gemeinsames Ave-Maria.
Segensritus & Absolution (11:41 – 14:06): Traditionelle Formel mit Fürbitte der Apostel und Heiligen; dreifacher päpstlicher Abschlusssegen.

Ich stimme dem Kommentator von Patheos (argumentativ, nicht dessen progressiver Agenda) zu: Die wirkliche Autorität liegt nicht in der weissen Soutane, sondern bei einem Geflecht aus Kardinälen, Kurienapparat und konservativen Seilschaften, die Neuerungen routiniert ausbremsen.

Der Katholizismus-Experte de Chirico fasst die Amtszeit des verstorbenen Papstes Franziskus so zusammen: “Franziskus wirbelte die katholische Welt ziemlich durcheinander: mit seinen Symbolen (er trug ein silbernes Metallkreuz), mit seinem Lebensstil (er lebte in einer einfachen Wohnung in Santa Marta), mit seiner Sprache (er sprach wie ein Landpfarrer), mit seiner Haltung (er war für alle ansprechbar), mit seinem Ton (er war beziehungsorientiert und warmherzig), mit seinem Stil (undiplomatisch und direkt), mit seiner pastoralen Offenheit (er segnete Homosexuelle und ließ Geschiedene zur Eucharistie zu).” Dies führte letztlich zu einer fluiden Art des Katholizismus: “Sein Ansatz zur Förderung der Ökumene bestand darin, „zusammen zu leben, zusammen zu beten und zusammen zu arbeiten“, und nicht in theologischen Diskussionen nach Übereinstimmung in der Lehre zu streben. Sein Ansatz war eine „spirituelle Ökumene“, den er gegenüber liberalen Protestanten, Evangelikalen, Charismatikern verschiedener Richtungen, der östlichen Kirche sowie gegenüber nichtchristlichen Glaubensgemeinschaften verfolgte. Sein Wunsch nach Einheit reichte über christliche Kreise hinaus. Franziskus betonte die Einheit der Menschheit über enge kirchliche und sogar religiöse Grenzen hinweg. Im Jahr 2020 veröffentlichte er eine Enzyklika (die höchste autoritative Lehre eines Papstes) über die universelle Geschwisterlichkeit. Das Buch Fratelli Tutti bekräftigt seine Idee, dass alle Menschen letztlich wegen ihrer Menschlichkeit Teil der römisch-katholischen Kirche seien und nicht auf der Grundlage von Buße und Glauben an Jesus Christus zum Volk Gottes gehören. So betete er regelmäßig mit Muslimen und Führern anderer Religionen.”

Der Kirchenhistoriker Carl Trueman findet klare Worte: Er spricht von intellektueller Schwäche, fragwürdigen Personalentscheiden und bewusster Mehrdeutigkeit. Beispiel: Als Erzbischof Cordileone Nancy Pelosi wegen ihrer Abtreibungspolitik von der Kommunion ausschloss, konterkarierte der Papst Franziskus die Maßnahme, indem er ihr selbst die Eucharistie reichte – ein Affront gegenüber der bischöflichen Autorität.

Was ist inhaltlich-lehrmässig vom neuen Papst zu erwarten? Carter: “Beobachter des Vatikans bezeichnen Leo XIV. im Allgemeinen als einen gemäßigten oder zentristischen Vertreter der katholischen Hierarchie. In Lehr- und Moralfragen steht Prevost eher auf der traditionellen Seite. So hat er sich beispielsweise – entsprechend der historischen Praxis der Kirche, die einen ausschließlich männlichen Klerus vorsieht – gegen Vorschläge ausgesprochen, Frauen zu Diakonissen zu weihen. Ebenso ist erwartbar, dass er bestimmte katholische Lehren (wie die Verehrung Marias) aufrechterhält. Er mag sich für Reformen in der Kirchenführung oder in der Öffentlichkeitsarbeit einsetzen (er hat insbesondere Franziskus’ Vorstoß unterstützt, Frauen in bestimmte vatikanische Entscheidungsgremien aufzunehmen), wird aber nicht als Erneuerer der Lehre angesehen.”

Der katholisch-konservative Theologe Edward Feser entwickelt folgende Leitlinien für die Kritik des Papstes, die ich in manchen Punkten hilfreich finde (abgesehen von der grundsätzlichen Differenz bezüglich seiner kirchlichen Macht):

Zwischen Verdrängung und Ehrlichkeit

  • Viele Gläubige spüren, „etwas läuft schief“, werden aber angehalten zu schweigen, um nicht als illoyal zu gelten.
  • Schweigen führt bei kritisch Denkenden zu kognitiver Dissonanz: Offenkundige Widersprüche zwischen aktueller und früherer Lehre werden bagatellisiert, Zweifelnde als „rebellisch“ abgestempelt – ein Gefühl des “Gaslighting” entsteht.

Warum offenes Ansprechen seelsorglich geboten ist

  • Ehrliche, respektvolle Kritik stärkt den Glauben mehr als beschönigendes Schweigen; andernfalls zerbricht das Vertrauen.
  • Sachliche Analyse darf nicht mit extremen oder respektlosen Angriffen in einen Topf geworfen werden.

Papst­tum: Unfehlbarkeit mit klaren Grenzen

  • Die Kirche lehrt nicht, dass jeder Papstakt unfehlbar sei; lediglich ex-cathedra-Aussagen oder die Wiederholung stets geglaubter Dogmen genießen diesen Status.
  • Konflikte wie unter Papst Franziskus haben historische Vorbilder (z. B. Honorius I., Johannes XXII.) und widerlegen das Lehramt nicht.

Realistische Erwartungen statt Harmonie-Mythos

  • Wer die Möglichkeit päpstlicher Irrtümer einkalkuliert, gerät bei aktuellen Irritationen weniger in Panik und bleibt katholisch.

Respektvolle Kritik – die Gratwanderung

  • Moderne Gleichheitsvorstellungen verleiten dazu, den Papst wie einen Politiker „auf Augenhöhe“ zu behandeln.
  • Dennoch bleibt er Christi Stellvertreter; Kritik muss deshalb geprüft, maßvoll und von Gebet begleitet sein.

Geistliche Verantwortung aller Gläubigen

  • Der Papst trägt die größte Seelenverantwortung weltweit und steht unter besonderem geistlichem Druck.
  • Katholische Antwort: für ihn beten, Leiden (etwa wegen liturgischer Restriktionen) sühne-bereit annehmen und für sein Wohl wie für das der Kirche aufopfern.

Leiden fruchtbar machen

  • Ungerecht empfundenes Leid – ob durch kirchliche Skandale, verbotene Messformen oder irritierende Aussagen – kann im Geist der Sühne Christus dargebracht werden.
  • So wird persönlicher Schmerz in geistlichen Nutzen für den Papst und die Kirche verwandelt.

Praktischer Leitfaden für öffentliche Stimmen

  • Wer Plattformen nutzt, muss besonders sorgfältig formulieren:
    1. Mehrfach prüfen, ob die Darstellung sachlich stimmt.
    2. Den Papst als Vater achten, selbst wenn man seine Entscheidungen problematisch findet.
    3. Kritik stets mit Gebet und einem Bekenntnis zur Treue gegenüber der Kirche verbinden.

Hoffnungsvoller Schlusspunkt mit dem Statement eines Freundes: “Vor 500 Jahren hat in Wittenberg ein Augustinermönch einen längeren Zettel an eine Tür genagelt. Gestern hat man in Rom einen Augustinermönch zum Papst gewählt. Vielleicht, vielleicht…”