Der Geist der Moderne ist von manchen Gegensätzen gepflastert. Zu diesem Schluss kommt der Bavinck-Forscher Gray Sutanto in einem Podcast “Christ, Culture, Keller, and the Third Way”. Der englische Philosoph Christopher Watkin wendet darum in seinem Schaffen die sogenannte Diagonalisierung an (siehe dieser Artikel):
Watkins Hauptstrategie bei der Begründung vieler dieser Punkte besteht darin, zu zeigen, wie die biblische Wirklichkeit die falschen Gegensätze sprengt, die uns von den konkurrierenden Ideologien der säkularen Welt aufgezwungen werden: Schönheit oder Nutzen, Natur oder Kultur, Pantheismus oder Industrialismus usw. Die Bibel, so zeigt Watkin, offenbart Wahrheit und Irrtum auf beiden Seiten. Die christliche Lehre „diagonalisiert“ – überbrückt oder schließt kurz – die vereinfachenden Dualitäten.
Watkin selbst beschreibt dies so:
Christen akzeptieren nur allzu leicht diese dichotomen Entscheidungen und fangen an, unsere Bibeln zu durchforsten, um herauszufinden, ob A oder B die christlichere Position ist, während in Wahrheit keine der beiden Optionen die Nuancen und die Komplexität des biblischen Zeugnisses erfasst. In vielen Fällen wäre es viel besser zu sagen: „Hier würde ich nicht anfangen“, und der Bibel zu erlauben, die Kategorien der Debatte auf eine Weise zu rekonstruieren, die bequeme kulturelle Dichotomien durchbricht.
… Diagonalisieren bedeutet also nicht, ein Kulturverweigerer zu sein – unter der Annahme, dass jede kulturelle Idee direkt bekämpft werden muss. Es bedeutet auch nicht, eine kulturelle Echokammer zu sein und der neuesten kulturellen Mode ein biblisches Etikett aufzudrücken. Sie ist konstruktiv, aber kritisch; positiv, aber prüfend. Sie trägt zu wichtigen Debatten bei, anstatt sie anzuprangern, und zwar auf eine Weise, die wirklich frisches und innovatives Denken einbringt. Diese biblische Frische und Innovation bleibt jedoch verborgen, wenn Christen unreflektiert die Dichotomien und Gegensätze akzeptieren, die viele kulturelle Debatten strukturieren.
Vor einiger Zeit hat James R. Wood den Aufsatz “Warum ich mich von Tim Kellers Apologetik abgenabelt habe” veröffentlicht. Ich wies damals darauf hin.
Wenn wir davon ausgehen, dass eine gewinnende Haltung auf Wohlwollen stößt, wenn Christen immer wieder heftig zurückgewiesen werden, sind wir versucht zu denken, dass unsere Überzeugungen das Problem sind. Wenn Wohlwollen auf Feindseligkeit stößt, ist es leicht, sich zu fragen: “Sind wir im Unrecht?” Auf diese Weise wird der Weg zu den Argumenten der säkularen Kultur geebnet. … Kellers Philosophie des “dritten Weges” hat auch als Rahmen für moralische Überlegungen ernsthafte Grenzen. Allzu oft ermutigt sie ihre Anhänger zu einem pietistischen Impuls, die eigenen Hände sauber zu halten, sich nicht einzumischen und sich von unvollkommenen Optionen zur Lösung komplexer sozialer und politischer Fragen fernzuhalten.
Ich habe mir die verschiedenen Standpunkte nochmals angesehen. Rod Dreher schrieb:
Ich stehe hier auf der Seite von James Wood und Aaron Renn: Die Zeit ist wirklich vorbei. Die Zeit, in der wir Christen unsere Feinde lieben und für sie beten sollten, wird nie vergehen, das ist wahr. Aber die Vorstellung, dass sie uns umarmen oder sogar tolerieren werden, wenn wir nur nett sind, ist nicht mehr tragfähig. Ich plädiere keineswegs dafür, unsere Feinde zu hassen. Das tat auch Martin Luther King nicht. Aber King erkannte auch, dass er und die Bewegung, die er anführte, tatsächlich Feinde hatten, und dass diese Feinde bereit waren, ihnen Gewalt anzutun. Wir nichtkonforme Christen bewegen uns sehr schnell auf dieselbe Welt zu – nur dass dieses Mal die technologischen Möglichkeiten, die unsere Feinde gegen uns einsetzen können, in der Weltgeschichte ohne Parallele sind.
Das Werk von Renn habe ich hier rezensiert. Darin wies ich auf das Argument hin, dass das Christentum ja in eine feindliche Umgebung hinein «geboren» wurde, zudem Christen in manchen Weltteilen verfolgt werden. Gray Sutanto erklärt diese andere Perspektive als Indonesier mit Erfahrung aus den USA und Europa hervorragend. Zunächst stellt er die scheinbare Voraussetzungslosigkeit des Westens fest:
Es stellt sich heraus, dass die westliche Kultur mit ihren Symbolen für Toleranz und Akzeptanz bestimmte Verpflichtungen eingegangen ist, die sie völlig unfähig gemacht haben, ihre muslimischen Nachbarn zu akzeptieren oder zu verstehen. Die westliche Weltanschauung und Lebensweise ist nicht voraussetzungslos oder aufgeschlossen für die Realität, wie sie sich darstellt. Sie hat bestimmte Definitionen des guten Lebens, der Religion als Privatsache, der öffentlichen Sphäre als Raum, der von theologischen Äußerungen freigehalten werden sollte, und von zu vermeidenden Übeln. Der Islam mit seinem Bekenntnis zu einer umfassenderen Beziehung zwischen Gott und Kultur, Glaube und öffentlichem Leben kann nicht einfach in das säkulare Narrativ seiner westlichen Nachbarn eingefügt werden, auch wenn dies anfangs anders erwartet wurde.
Die christliche Weltanschauung begegnet zwei Polen, nämlich dem säkularen Naturalismus und einem erzwungenen theokratischen Anspruch. Dies bedeutet die Absage an einen Triumphalismus ebenso wie den Rückzug ins Private:
Das Christentum bietet provokanterweise die Grundlage für genau den Pluralismus, den der niederländische Liberalismus anstrebt, aber aus eigener Kraft nicht herstellen kann. Wenn wir uns also ausdrücklich auf christliche Grundlagen stützen, können wir die beiden Pole der Hegemonie vermeiden: eine Art säkularen Naturalismus auf der einen Seite und einen erzwungenen theokratischen Anspruch auf der anderen Seite.
Christus allein ist der Herr. Weil das so ist, kann keine weltliche oder menschliche Autorität beanspruchen, Herr zu sein. Christus als Herrn zu beanspruchen ist etwas anderes, als Christen als Herren zu bezeichnen.
Die US-amerikanische Binnenperspektive wird ergänzt und bereichert durch die Erfahrung der Bedrängten:
… Christen in der Minderheit haben das Gefühl, dass wir tatsächlich in einer theokratischen Hegemonie leben, die wenig Raum für das öffentliche Bekenntnis lässt, dass Christus der Herr ist. … Für uns in Indonesien stellt sich also nicht die Frage, wie wir als Christen einen alternativen Weg anbieten können, um Muslime willkommen zu heißen – was eigentlich ein Privileg der Christen ist, die die westliche Demokratie genießen …, sondern vielmehr, wie wir als Christen einer theokratischen Hegemonie gegenüber gastfreundlich bleiben können, die uns gegenüber ziemlich unwirtlich werden kann. Ja, wir müssen ein tiefes Engagement für einen prinzipienfesten Pluralismus aufrechterhalten, und wir müssen uns weiterhin im öffentlichen Raum engagieren, um sicherzustellen, dass Gerechtigkeit und Pluralismus gefördert werden.
… Die Kirche ist also mit dem beauftragt, was John Webster einen Dienst des „Hinweises“ (indication) nennt. Wir bekennen und verweisen auf den, der den Sieg für uns errungen hat. Wir beten ihn an als einen Vorgeschmack auf das, was kommen wird. Und es ist genau diese Anbetung unseres gekreuzigten Herrn, die uns befähigt, unter hegemonialen Regimen auszuharren.
Ich bin nach wie vor überzeugter Sucher des dritten Weges.