Input: Neo-Calvinismus und die Lehre der Kirche

Der Neo-Calvinismus ist eine durch und durch theologische Bewegung. Im letzten Kapitel von “Neo-Calvinism: A Theological Introduction” wird die Lehre der Kirche dargelegt. Ich empfehle den Podcast “Neo-Calvinism and the Church, Part 1” (45 Minuten).

Die neo-calvinistische Ekklesiologie kann von Menschen, sehr oft Evangelikalen, die sich mit Teilen des Neo-Calvinismus beschäftigen attraktiv erscheinen, weil sie versuchen, einen bestimmten Mangel in ihrer eigenen theologischen Ausbildung zu beheben. … Für viele Evangelikale ist die Bewegung eigentlich eine Theologie der Kultur. Oder eine Theologie, die ihnen hilft, dem Leben in der Welt einen Sinn zu geben.

… Sehr oft haben evangelikale Kirchen Pastoren nicht mit theologischen Werkzeugen, Ressourcen und Kategorien ausgestattet, die ihnen helfen, ihre Arbeit oder die Kultur, an der sie auf vielfältige Weise teilhaben, zu verstehen. Und dann entdecken sie, dass der Neo-Calvinismus den christlichen Glauben in dieser Hinsicht eher ganzheitlich als dualistisch versteht.

… Oft haben Menschen, die sich mit diesem Bedürfnis dem Neo-Calvinismus zuwenden, nicht das Gefühl, dass es eine große Lücke in ihrer Ekklesiologie gibt, weil sie bereits Teil einer eigenen kirchlichen Tradition sind.

Wenn Sie an Herman Bavinck, der in die Vereinigten Staaten reiste und dann zurück in die Niederlande kam (im Jahr 1908) und an eines der Dinge denken, die er über das amerikanische Christentum sagt, dann ist es die Aussage: Die Kirche in Amerika existiert nicht. Es ist eine wirklich faszinierende Beobachtung und ein Fenster in die Art und Weise, wie sich die Bavinck die Kirche vorstellte… Sie ist keine Konsumentenentscheidung. Es ist nicht so, dass ich diese Marke nicht mag und also woanders einkaufen gehe. Bavinck hat gesehen, dass der Kontext des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Amerika ganz anders aussah, und dass die Kirche dort nicht existierte. …

Wenn jemandem das letzte Puzzleteil fehlt, nämlich die Kirche, dann stellt sich die Frage: Was ist dem Neo-Calvinismus als theologische Bewegung damit verloren gegangen?

… Abraham Kuyper wird den Begriff Organismus verwenden, um die Kirche aufgrund ihrer Erwählung von Ewigkeit her zu beschreiben. … Dann fasst er es so auf, dass sich dieser auf das Volk Gottes bezieht, das in Raum und Zeit von der Finsternis ins Licht versetzt worden ist. Wenn also jemand die Wiedergeburt erfährt, wird er Teil des Organismus. Dieser Organismus ist für ihn einfach der Leib Christi, und so trägt er zunächst diesen unsichtbaren Aspekt, der sein Wesen ausmacht. …

Unmittelbar mit dem Wesen der Kirche ist verbunden, dass es der Leib Christi ist. Der Leib Christi zu sein, bedeutet, mit Jesus Christus durch den Geist vereint zu sein. … Wenn das jemandem tatsächlich in Raum und Zeit widerfährt, wenn er zum Glauben kommt, was eine Gabe des Geistes ist, dann wird er Teil des organischen Leibes Christi, richtig, des katholischen (allgemein-universalen) Leibes. …

Die Institution ist absolut notwendig. Sobald man einen Organismus schafft, braucht dieser Organismus eine Organisation. Abraham Kuyper spricht über die instinktiven Formen des Organismus und der Organisation, die man in Apostelgeschichte Kapitel 2 sieht, wo die Menschen zum Glauben an Jesus kommen, nachdem Petrus seine erste Predigt gehalten hatte. …

Letztendlich ist die Institution um das Wort versammelt, das gepredigte Wort, das Wort, das durch die Verkündigung gegeben wird … Sichtbar gemacht in Raum und Zeit ist er ein Körper und seine institutionelle Form, wenn sie sich in dem Moment sammelt, wenn sie unter ihre Amtsträger kommt.

Input: Marx für die Gesellschaftslehre, der christliche Glaube fürs Persönliche

Jacques Ellul (1912-1994), von mir geschätzter Technologiekritiker, schreibt in der autobiografischen Abhandlung (in A temps et a contretemps, S. 17-20): 

In der Tat erschien mir das Christentum überhaupt nicht als eine Erklärung der Welt. Man darf nicht vergessen, dass sich die Hauptdebatte der Christen zu dieser Zeit um die Erlösung und das individuelle Heil drehte. Es war eine rein persönliche Angelegenheit. Aber gerade auf der Ebene dieser persönlichen Frage schien mir Marx zu versagen. Er konnte mir meine Situation erklären, aber nicht mein Menschsein, mein sterbliches, leidendes und liebendes Menschsein, meine Beziehungen zu anderen Menschen. 

… Da ich das Denken von Marx sehr ernst nahm, da Marx darauf bestand, dass es sinnlos sei, die Frage nach Gott zu stellen, und da er jede andere als die wirtschaftliche und politische Dimension ablehnte, sah ich keine Möglichkeit einer Versöhnung. Außerdem sah ich keine Möglichkeit, das Christentum im wirtschaftlichen und politischen Bereich zu systematisieren. Die Sozialtheorien der Kirche erschienen mir antik, und der christliche Sozialismus, das soziale Christentum […] erschien mir sehr oberflächlich und ging nicht auf den Kern des Problems ein. War die Offenbarung, die ich von Gott erhalten hatte, überhaupt einer Systematisierung, einer Verallgemeinerung zugänglich? Ich sah sehr wohl die Möglichkeit einer Kommunikation auf der individuellen Ebene, der Frömmigkeit, des Gebets… nichts darüber hinaus. Ich bin also unfähig, Marx zu eliminieren, unfähig, die biblische Offenbarung zu eliminieren, unfähig, beide zu verschmelzen. Für mich war es nicht möglich, sie zu addieren. Ich begann also, zwischen beiden hin- und hergerissen zu sein, und blieb es mein ganzes Leben lang. Die Entwicklung meines Denkens lässt sich aus diesem Widerspruch heraus erklären.

… In meinem Fall war es nicht unmöglich, in Bezug auf die Interpretation der Welt intellektuell streng mit Marx’ Denken zu sein. Andererseits war ich von Anfang an davon überzeugt, dass es keine christliche Politik, keine christliche Wirtschaft und keine christliche Gesellschaft geben kann, sondern dass die Offenbarung eine grundlegende existenzielle Wahrheit liefert. Es ging darum, dass diese beiden Wahrheiten gemeinsam gelebt werden können. Ich sage bewusst gelebt und nicht intellektuell in einem System versöhnt. Der wirtschaftliche und politische Aspekt von Marx’ Denken […] wurde für mich zu einem guten Rahmen, um die Gesellschaft, in der ich lebte, zu verstehen. Aber die Offenbarung […] ermöglichte es mir, in ihr zu leben, in ihr lebendig zu sein. 

Offenbar, so schlussfolgert Jean-Marc Berthoud (in  L’ Histoire alliancielle de l’ Église dans le Monde, Tome V), war Elluls Denken durch die kantianische Zweiteilung des Lebens zwischen einer öffentlich-faktischen und einer existenziell-privaten Sphäre geprägt:

So wurde ihm seine Interpretation der Welt – eine vollkommen objektive Interpretation, da sie keinen Glauben impliziert – von einem Denker vermittelt, dessen gesamtes Denksystem dem christlichen Glauben grundlegend entgegengesetzt war. Es liegt ihm fern, die marxistische Gesellschaftslehre aus christlichen Gründen abzulehnen. Elluls soziales, wirtschaftliches und politisches Denken hat von Anfang an eine radikal atheistische Grundlage. (75) … 

Für Ellul sind die beiden Pole dieses gelebten und reflektierten Neokantismus, was die Phänomene betrifft, Karl Marx; und was das Noumenon betrifft, Karl Barth. Barth spielt hier die Rolle des Kierkegaardschen existentialistischen Augenblicks; Marx die der Phänomene – vor allem der rationalisierten politischen und wirtschaftlichen Phänomene des Hegelianismus. Es ist der für das moderne Denken charakteristische Gegensatz zwischen Freiheit auf der einen und Notwendigkeit auf der anderen Seite. (84)

… Es bleibt uns noch zu bemerken, wie er diese intellektuelle Schizophrenie vermieden hat, die seinen grundlegenden Dualismus so gut charakterisiert: existentielle Freiheit und soziologischer Determinismus. Diese Versöhnung erfolgt zunächst durch eine praktische Dialektik, eine Dialektik des Handelns. Diese Lösung theoretischer Schwierigkeiten durch Handeln beherrscht unsere gesamte moderne Zivilisation, die zugleich pragmatisch und aktivistisch ist.  (73)

Achtung: Das bedeutet nicht, dass Ellul nicht scharfsinnig wichtige gesellschaftliche Zusammenhänge erkannt hätte. Berthoud:

die Menschen sind, Gott sei Dank, nicht völlig logisch mit ihren falschen Prinzipien. Ihre Werke können viel mehr enthalten als das, was die Grundausrichtung ihres Denkens impliziert. Dies trifft natürlich auf Jacques Ellul zu. Seine große intellektuelle Tugend ist das, was er selbst einen bodenständigen Realismus nennt, der die Mythen und Täuschungen der Menschen, die versuchen, die Realität zu betrügen, gnadenlos ablehnt. (87)

Input: Barths kantianische Epistemologie

Jean-Marc Berthoud (* 1939)  kritisiert Karl Barths moderne Epistemologie und Methodologie ausgehend von Bruce L. McCormack, Orthodox and Modern. Studies in the Theology of Karl Barth (Baker Academic, Grand Rapids, 2008) in L’ Histoire alliancielle de l’ Église dans le Monde, Tome V, S. 52-58.

Wie, so fragt er (McCormack) sich, kann man gleichzeitig “orthodox” und “modern” oder, anders ausgedrückt, kritisch und realistisch sein? Barths “moderner” oder “kritischer” Charakter mit seinem uneingeschränkten Festhalten an der historisch-kritischen Methode des Bibelstudiums, seiner im Wesentlichen kantischen Epistemologie und seiner zeitweise hegelianischen Ontologie kann für ihn kein Problem sein. Doch was ist dann von den Bezeichnungen “realistisch” und “orthodox” zu halten? Der Ausdruck “kritischer Realismus” (wie “orthodox und “modern”) ist das, was man als Bastard bezeichnen kann, die Verbindung zweier gegensätzlicher, unvereinbarer Konzepte: “Realismus” bezieht sich hier auf die intellektuelle Realität der Universalien, die durch ihre konkreten, stabilen, geschaffenen Formen erkannt werden. Dort bezieht sich das Wort “Kritik” auf die nominalistische Zerstörung jeder Möglichkeit, dieselben Universalien zu erkennen. Ähnlich verhält es sich mit der Verbindung von “orthodox” und “modern”. Die Orthodoxie, die “rechte Lehre”, hat in der Tat nichts mit den Bedingungen der Zeit zu tun, in der sie sich ausdrückt, d. h. weder mit ihrem “Alter” noch mit ihrer “Modernität”. Dasselbe gilt für den “Irrtum” und auch für die “Häresie”; ob sie alt oder modern ist, ändert nichts an ihrem Status als Irrtum. Wir sehen den völligen Unsinn der “historistischen” Sichtweise. Diese Ideologie ist völlig gegen jede Möglichkeit, dass sich in dieser Welt, unserem “Technokosmos”, eine stabile Schöpfungsordnung oder irgendeine Form von übernatürlicher Realität manifestieren könnte.

Weiter verfolgt Berthoud McCormacks Überlegungen zu den Bekenntnissen:

Ich (Mc Cormack) sage dies alles, um darauf hinzuweisen, dass auch die ökumenischen Glaubensbekenntnisse nur vorläufige Erklärungen sind. Sie sind als Definition dessen, was “Orthodoxie” ausmacht, nur relativ verbindlich. 

(Berthoud) Für ihn hat das einzige absolut sichere Dogma notwendigerweise einen eschatologischen Charakter und kann in dieser Welt niemals mit absoluter Sicherheit erkannt werden. Er folgt einer modernen, offensichtlich skeptischen Neigung, den spezifischen Grad der mathematischen Gewissheit als normativ für alle Formen des menschlichen Denkens zu betrachten, und fährt fort: 

(McCormack) Die “Dogmen” (d.h. die formell angenommenen und von den einzelnen Kirchen verkündeten Lehren) sind allesamt Zeugen des Dogmas. […]

(Berthoud) Das Dogma “an sich” (als treuer Kantianer, der er ist), ist für ihn hier auf Erden völlig unerkennbar. Jede dogmatische Formulierung 

[…] befindet sich auf ihn [das einzig wahre Dogma, von Natur aus ausschließlich himmlisch, “eschatologisch”] in einer mehr oder weniger großen Annäherung. Aber die Menschen erreichen es nicht vollkommen – was die Konsequenz der Reformierbarkeit nach sich zieht, die allen “Dogmen” innewohnt. Die Orthodoxie ist folglich keine statische, feststehende Realität. 

Die absolute Wahrheit existiert also nicht hier auf Erden; sie entwickelt sich auf historistische Weise, entsprechend dem variablen Prozess der Epochen ihrer Formulierungen. Sie ist ein Lehrkörper, der aus einer und zu einer Geschichte erwächst, die bislang unvollständig ist und ständig überarbeitet werden muss. 

Bertoud entgegnet:

Die Bibel gibt uns die Gewissheit, dass Gott wirklich zu den Menschen in einem Geist spricht, in dem er seine unergründliche Größe mit unserer Schwäche als nach seinem Bild geschaffene Geschöpfe in Einklang bringt; dieses Wort, das gleichzeitig (und ohne Widerspruch) göttlich und menschlich ist, lässt uns die Herablassung Gottes gegenüber seinen Kindern begreifen; es versichert uns der Analogie, die den Geist seiner schriftlichen Offenbarung beseelt, nämlich der inneren Beziehung zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Realität. Sie spricht zu uns nicht in einer mathematisch eindeutigen oder skeptisch äquivokalen Weise, sondern sie spricht väterlich zu uns in einem Geist der Analogie, in dem die ganze Schrift uns, die wir Gläubige nach dem Bild Gottes sind, genau, aber niemals erschöpfend, die wahren Gedanken Gottes mitteilt, wie wir sie sinnvoll verstehen können. Mehr noch, auch die gesamte Schöpfung spricht zu uns von ihm und dem ständigen Wirken seiner Vorsehung in der Geschichte. Die menschliche Sprache ist geeignet, eine solche Mitteilung von Gott an die Menschen zu tragen. 

In derselben Auseinandersetzung befand sich Herman Bavinck, der zwar mit dem Modernismus rang, meines Erachtens jedoch im Unterschied zu Karl Barth methodologisch und inhaltlich auf der Seite der Kirchenväter und Reformatoren blieb.

Input: Zur Beziehung von Dogmatik und Ethik – eine Analogie

Auch wenn ich um die Unschärfe bei der Verwendung von Metaphern weiss, sprach mich die Analogie in der Dissertation von Greg Parker sehr an. Sie dreht sich um die Beziehung von Dogmatik und Ethik bei Herman Bavinck.

Meine Argumentation wird anhand eines Beispiels für den Bau eines Kanals in Amsterdam erläutert. Ein großer Teil der Amsterdamer Innenstadt ist auf zurückgewonnenem Sumpfland gebaut. Damit Amsterdam die Stadt wurde, die sie heute ist, war ein enormer Aufwand erforderlich. Zunächst wurde das Sumpfland in eine Reihe von Grachten umgewandelt. Sobald ein Kanal fertiggestellt war, wurden entlang der Kanäle Häuser errichtet. Ein solches Haus wurde von einem Team von Bauarbeitern errichtet, die “Pfähle” in den Grund treiben mussten.

“Pfähle” waren massive Holzpfähle, welche die darüber liegenden Gebäude stützen sollten. Sobald alle Pfähle in den Boden gerammt waren, wurde darauf ein Haus gebaut. Diese “Pfähle” sollten dann das Gewicht des Hauses verteilen. Genauso wie ein Haus auf einer Reihe von “Pfählen” gebaut wird, behaupte ich, dass die Beziehung zwischen Dogmatik und Ethik über mehrere Lehren verteilt ist.

Um den verteilten Charakter dieser Beziehung zu demonstrieren, stelle ich “Pfähle” auf, die Lehren wie Erwählung, Wiedergeburt, Heiligung, mystische Vereinigung, Ekklesiologie und Eschatologie umfassen. Wenn ein Pfahl zu viel Gewicht trägt oder anfängt zu verrotten, wird das Haus zu sinken beginnen. Deshalb erwecken viele Häuser in A den Eindruck, dass sie “schief” sind.

Ich behaupte also, dass die Verteilung Bavincks System davor bewahrt schief zu werden. Die Struktur dieser Dissertation untersucht dann die Transformation des menschlichen Kopf und Herzen  (ähnlich wie die Verwandlung des Sumpfes in einen Kanal) aufgrund von Gottes Werk.

Bavinck beschreibt diese Beziehung zwischen Dogmatik und Ethik als Abstieg Gottes (Dogmatik) und Aufstieg des Menschen (Ethik). Das Werk betrachtet also den Abstieg Gottes in den Sumpf, die Verwandlung des Menschenund den Aufstieg des Menschen aus dem Sumpf. In der Vergangenheit haben die Interpreten zu viel Wert auf Betonung bestimmter “Pfähle”, wodurch die Abstützung gefährdet wird. Die vorliegende Arbeit soll als Korrektiv zu diesem Phänomen dienen.

Diee lehrmäßigen “Pfähle” stützen das Amsterdamer Haus, das ich als Wohnhaus der “Systematischen Theologie” bezeichne. Das Haus der systematischen Theologie hat mehrere Räume, aber die beiden im Zentrum des Hauses betreffen Dogmatik und Ethik. Während das Werk die Wechselwirkung von Gottes Handeln und menschlichem Handeln erforscht, stellt es auch die Beziehung zwischen Dogmatik und Ethik in das wissenschaftliche Unternehmen der theologischen Enzyklopädie. Diese wissenschaftliche Tätigkeit hilft den Theologen, darüber nachzudenken, wie sich die verschiedenen Disziplinen der Theologie, wie Dogmatik und Ethik, zueinander verhalten. Ich beschreibe das Amsterdamer Haus als einen Ort, der zusammen mit den anderen Disziplinen, die die Theologie ausmachen, auf der Allee der theologischen Enzyklopädien liegt. 

Input: 850 christliche Philosophen

Die Pew-Umfrageinstitution benannte bereits 2010 die dramatische Verschiebung der Christenheit weg vom Westen hin nach Afrika und Asien (siehe auch diese Übersicht).

Die Zahl der Christen in der Welt hat sich in den letzten 100 Jahren fast vervierfacht, von etwa 600 Millionen im Jahr 1910 auf mehr als 2 Milliarden im Jahr 2010. Aber auch die Gesamtbevölkerung der Welt ist rasch gestiegen, von schätzungsweise 1,8 Milliarden im Jahr 1910 auf 6,9 Milliarden im Jahr 2010. Infolgedessen machen die Christen heute etwa den gleichen Anteil an der Weltbevölkerung aus (32 %) wie vor einem Jahrhundert (35 %).

Hinter dieser scheinbaren Stabilität verbirgt sich jedoch eine bedeutsame Verschiebung. Obwohl in Europa und Amerika immer noch die Mehrheit der Christen lebt (63 %), ist dieser Anteil viel geringer als im Jahr 1910 (93 %). Und der Anteil der Europäer und Amerikaner, die Christen sind, ist in Europa insgesamt von 95 % im Jahr 1910 auf 76 % im Jahr 2010 und in Amerika insgesamt von 96 % auf 86 % gesunken.

Gleichzeitig hat das Christentum in Afrika südlich der Sahara und im asiatisch-pazifischen Raum, wo es zu Beginn des 20. Der Anteil der Christen an der Bevölkerung in Afrika südlich der Sahara stieg von 9 % im Jahr 1910 auf 63 % im Jahr 2010, während er in der asiatisch-pazifischen Region von 3 % auf 7 % anstieg. Das Christentum ist heute – anders als vor einem Jahrhundert – wirklich ein globaler Glaube.

Umso erfreulicher ist die Tatsache, dass die Vereinigung für christliche Philosophen gemäss Website über 600 Mitglieder umfasst. Gründungsmitglied Nicholas Wolterstorff (* 1932) sprach neulich von 800 – 850 Mitgliedern und einer unvermindert offenen Tür in der dritten Generation christlicher Philosophen seit der Gründung vor 45 Jahren:

Soweit ich weiß, ist die Gesellschaft christlicher Philosophen derzeit die größte Mitgliedsorganisation der großen American Philosophical Association mit etwa 850 Mitgliedern. (Minute 26/27)

(Rückblick auf die Zeit vor der Gründung) Der Einfluss des logischen Positivismus auf die analytische Bewegung hatte zur Folge, dass es, als der Positivismus in den frühen 60er Jahren kollabierte, so gut wie keine Religionsphilosophie, keine offenkundige christliche Wissenschaft mehr gab. (Minute 28)

(An der 45-Jahres-Jubiläumsfeier der Gesellschaft) kannte ich fast keinen der Redner und kurz darauf fiel mir ein, meine Güte, ich kannte die zweite Generation, die erste Generation nach mir. Aber dies ist die zweite Generation nach mir, und es hat mich gefreut zu sehen, dass zwei Generationen nach mir, die auch “pflanzen”, die Gesellschaft immer noch lebendig ist und junge Leute auftauchen, die ich nie getroffen oder von denen ich nie gehört habe. (Minute 30)

Zitat der Woche: Es ist ja nicht Narnia, du bist es

Die Entschlossenheit Riepichieps, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln ins Land Narnia zu ziehen, gehört zu den berührenden Stellen am Ende der Narnia-Chronik-Folge «Die Reise auf der Morgenröte»:

»Um diesen Zauber zu brechen, müsst ihr ans Ende der Welt segeln, oder so nahe, wie ihr ihm kommen könnt, und dann müsst ihr wiederkommen, nachdem ihr mindestens einen aus Eurer Gemeinschaft zurückgelassen habt.« »Und was muss mit diesem einen geschehen?«, fragte Riepischiep. »Er muss weiter bis in den äußersten Osten und darf nie wieder in die Welt zurückkehren.« (aus dem Kapitel «Wo das Ende der Welt beginnt»)

… »Meine eigenen Pläne stehen fest. Solange ich kann, werde ich auf der Morgenröte nach Osten segeln. Wenn sie zurückbleibt, paddle ich in meinem Weidenboot weiter nach Osten. Und wenn dieses sinkt, schwimme ich mit meinen vier Pfoten ostwärts. Und wenn ich nicht mehr schwimmen kann, ehe ich Aslans Land erreicht habe, oder wenn ich mit einem gewaltigen Wasserfall über den Rand der Welt geschossen bin, werde ich mit meiner Nase in Richtung Sonnenaufgang auf den Grund sinken, und Pierischiep wird Oberhaupt der sprechenden Mäuse in Narnia.«

… »Von hier aus«, sagte Riepischiep, »fahre ich allein weiter.« Sie (die Reisegefährten) machten nicht einmal den Versuch, ihn aufzuhalten, denn es kam ihnen jetzt so vor, als wäre alles vorherbestimmt oder vorher schon einmal geschehen. Sie halfen ihm, sein kleines Weidenboot zu Wasser zu lassen. Dann schnallte er sein Schwert ab (» Das werde ich nicht mehr brauchen«, sagte er) und schleuderte es weit weg über das lilienbedeckte Meer. Als es fiel, blieb es aufrecht stecken, sodass der Griff über die Wasseroberfläche herausragte. Dann sagte er ihnen Lebewohl und versuchte dabei um ihretwillen traurig zu sein; doch in Wirklichkeit zitterte er vor Glück. Lucy tat zum ersten und letzten Mal das, was sie schon immer hatte tun wollen, nämlich ihn in die Arme nehmen und streicheln. Dann stieg er hastig in sein Weidenboot und nahm sein Paddel. Die Strömung erfasste es, und er entfernte sich, ganz schwarz vor den Lilien. Doch auf der Welle wuchsen keine Lilien; sie war ein glatter, grüner Hang. Immer schneller wurde das Weidenboot, bis es schließlich mühelos die Welle hinaufglitt. Für einen Sekundenbruchteil sahen sie seine und Riepischieps Umrisse ganz oben auf dem Kamm. Dann verschwand es, und niemand kann wahrheitsgemäß behaupten, Riepischiep , den Mäuserich , seit jenem Moment gesehen zu haben . Doch ich glaube, dass er sicher in Aslans Land kam und dort bis zum heutigen Tag lebt. (aus dem letzten Kapitel “Das äusserste Ende der Welt”)

Zudem bin ich auf einen weiteren Abschied im Schlusskapitel aufmerksam gemacht worden: Als Edmund und Lucy von Narnia aus, von Aslan geschickt, wieder in ihr Land zurückkehren.

»O Aslan!!«, riefen Edmund und Lucy zugleich voller Verzweiflung. »Ihr seid zu alt, Kinder« , sagte Aslan , »und ihr müsst jetzt anfangen eurer eigenen Welt näher zu kommen.« »Es ist ja nicht Narnia, weißt du« , schluchzte Lucy . »Du bist es. Wir werden dich dort nicht mehr treffen. Und wie sollen wir denn leben, wenn wir dir nie mehr begegnen?« »Aber ihr werdet mir begegnen, Liebes«, sagte Aslan. »Bist du – bist du denn auch dort, Herr?«, fragte Edmund. »Das bin ich«, antwortete Aslan. »Nur habe ich dort einen anderen Namen. Ihr müsst lernen, mich auch unter jenem Namen zu erkennen. Genau das war der Grund, warum ihr nach Narnia gebracht wurdet, damit ihr, indem ihr mich hier ein bisschen kennenlernt, mich dort umso besser kennt.«

Vorlesung: Eine Theologie der Nationen

Vorlesungsnotizen aus einer Vorlesung mit Didier Erne am Martin Bucer Seminar (18.11.23)

Anknüpfen an der Aktualität

  • Kontroverse Frage: Ist eine wertekonservativ-nationale Einstellung bezüglich Migration mit Nächstenliebe vereinbaren? Übergeordnet: Was hat Gott mit der Schweiz zu tun? Ist sie ausschliesslich ein Produkt menschlichen Wirkens?
  • Aktualität Ukraine und Israel: Inwiefern hat eine Nation das Recht sich zu verteidigen? Wie sollen sich Christen bezüglich Israel positionieren?

Definition einer Nation

  • Fünf wesentliche Faktoren (gem. Oxford Shorter Dictionary): Sie definiert sich durch Land, Sprache(n), Familien (gemeinsames Erbe), Nationalität (Politik), Generationen.
  • Ausformuliert am Beispiel der Schweiz: Sehr stabile geografische Verhältnisse; vier Sprachen und zwei Konfessionen (katholisch und reformiert), kompensiert durch den politischen Willen zur Freiheit 
  • Ausformuliert am Beispiel von Deutschland: Im Laufe der letzten Jahrzehnte veränderte Geografie, starke Bindung durch gemeinsame Sprache, Abstammung stark im Verruf geraten, ebenso ein angefeindetes Bild von Nationalität, Generationenbruch
  • Schöpfungsordnung: Gott schuf Menschen als Individuen und setzte diese in Beziehung zu verschiedenen Gruppierungen von Menschen. Der Mensch ist als Individuum erst in einer Familie komplett. Als nächste Schicht der Gruppierungen kommt die Kirche hinzu, wo Menschen aus mehreren Familien zusammengefügt werden. Dann gibt es Zusammenschlüsse von Familien gleicher Abstammung und ähnlichen Gewohnheiten (12 Stämme Israels); das ist eine Variation (Vielfalt) innerhalb einer Nation (Einheit). Dies ist Teil von Gottes Heilsplan. 
  • Die Nation als Abbild des Prinzip von Einheit und Vielfalt: Gott selbst schafft und erhält Nationen, deren Verlauf er durch seine göttliche Vorsehung lenkt. Keine Nation kann die Menschheit in ihrer Gesamtheit darstellen; so wenig eine einzige Pflanze die Gesamtheit der Pflanzen abbilden kann. Im Islam muss alles auf eine einheitliche Kultur (z. B. arabische Sprache) zurückgeführt werden (Überbetonung der Einheit).
  • Im Heilsplan Gottes kommen in Gen 10 zum ersten Mal Nationen zur Sprache. Nationen verkörpern unterschiedliche Aspekte von Gottes Plan. Wachstum wie Niedergang wird von Gott bestimmt. Gott hat die Zeiten vorhergesehen und nach seinem Gutdünken geordnet. Jede Nation wollte in ihren Grenzen zufrieden sein.
  • Nominalismus vs. Realismus: Im Nominalismus ist der Begriff der Nation eine abstrakte Kategorie bzw. eine Wortschöpfung; sie widerspiegelt keine universelle Realität. Im Realismus bildet die Nation eine von Gott geschaffene, universelle Realität unabhängig von menschlichen Definitionen; diese kann erkannt und erforscht werden.

Die Schwierigkeit der biblischen Definition einer Nation

  • Gott schafft Nationen: «Alle Völker, die du gemacht hast, werden kommen und vor dir anbeten.» (Psalm 88,6-8). In seiner Aeropag-Rede in Athen formulierte es Paulus so: «Er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht (LUT2017)»; präziser: «er hat aus einem (Blut) jede Nation der Menschen gemacht» (ELB; ethnos). Für diese Nationen hat er festgesetzte Zeiten und Grenzen bestimmt.
  • Die beiden Begriffe «goy» (AT) und «ethnos» (NT) wurden oft mit “Heide” bzw. “Ungläubige” übersetzt bzw. gleichgesetzt. Damit ging der Bezug zur Nation verloren. Rabbiner begannen die nichtjüdischen Völker als «gojim» (Unreine) zu bezeichnen.
  • Die Übersetzungen sind oft unpräzise. Im Missionsauftrag: «macht zu Jüngern alle Völker» (Mt 28,18-20 LUT84; ethne) wird übertragen «ruft alle Menschen dazu auf» (HfA) Oder in Gal 3,8 wird übersetzt: «Gott hat die Heiden durch den Glauben gerecht gemacht» (LUT84); präziser: «Gott hat die Nationen aus Glauben gerechtfertigt» (ELB; ethne)

Israel und Gottes Bund

  • Im AT findet sich eine oftmalige Gegenüberstellung von Israel und heidnischen Nationen. Israel schloss wiederholt unheilige Bündnisse mit den umliegenden Nachbarn. Israel war ein sichtbares Zeichen von Gottes Treue mit einer Nation – auch in dessen Untreue.
  • Bis zur Geburt Christi bestand ein exklusiver Segen für Nation Israel. Christi irdische Mission war nicht die Rettung der heidnischen Nationen, sondern die Rettung des treuen Rests der Bundesnation. Der Tod Christi und die Zerstörung des Tempels einige Jahrzehnte danach bedeutete den Abschluss dieser Exklusivität. 
  • Das NT ist geprägt vom entschwundenen Gegensatz zwischen Israel und den heidnischen Nationen durch die Verkündigung des Evangeliums an alle Völker. Gott schloss auch mit anderen Nationen einen Bund (z. B. mit Armenien, das seit über 1500 Jahren mit dem Evangelium erreicht worden ist). 
  • Als Beispiel des Wechsels zwischen AT und NT soll Paulus’ Predigt in Antiochien dienen (Apg 13,32f+44f+47): «Wir verkündigen euch (Juden) … In der Folgewoche kam fast die ganze Stadt zusammen… (die Juden wurden) neidisch.» Für sie war die Aufhebung des Unterschieds eine Erniedrigung. Paulus zitierte Jes 49,6f vom «Licht der Nationen».
  • Mit dem Tod und der Auferstehung Christi wird die Dunkelheit über alle Nationen gebrochen worden. In jeder Nation gibt es einen gläubigen Teil – auch in der jüdischen. Alle Nationen sind seither – mehr oder weniger ausgeprägt – in einen Bund mit Gott eingetreten. Keine wird je eine vergleichbare Stellung wie die  Israels innehaben. Gott segnet(e) die Schweiz als Einheit, obwohl sich zahlreiche Menschen mehr zuschulden kommen liessen als manche Einwohner ärmerer Staaten. 

Die Rebellion gegen die von Gott eingesetzten Nationen

  • Die Nation wird aus unterschiedlichen Richtungen angegriffen: Durch die Abschaffung der Nation und die Idee einer Weltgemeinschaft. 
  • Die Idee der über-nationalen Zusammenschlüsse ist uralt, sie geht auf den Sündenfall zurück. Nimrod war der erste Diktator (Gen 10,8-12). Er gab sich nicht mit dem Territorium einer Nation zufrieden. Der eschatologische Höhepunkt der Rebellion zeigt sich in der Abschaffung der Nation und der Zusammenfassung in einer Welteinheitsreligion (Offb 13).
  • These zur Urbanisierung: Die weltweite übermässige Urbanisierung zeigt die Ausbreitung des Geistes von Babel. Der Mensch vereinsamt, die Bindung zu Familie und Kirche löst sich auf; viele Städter sehen sich als Weltbürger. Auch das Internet ist eine Art der Urbanisierung (Überbetonung der Einheit).
  • These zum Föderalismus: Beim Föderalismus bleibt jede Region bei seiner Eigenart (Stamm), während die Nation ein gemeinsames Unternehmen bleibt. Gegenbespiele: Wir als Menschheit werden Covid besiegen oder das Klima retten; die einzelne Nation kann dies nicht lösen. Letztlich bringt dies die menschliche Anstrengung zum Ausdruck Erlösung durch eigene Werke zu erlangen. 
  • Patriotismus bedeutet Liebe und Engagement für das eigene Land; diese äussert sich in Loyalität.Nationalismus pervertiert den Patriotismus, indem es legitimen Nationalstolz in Hochmut verkehrt (“wir sind so gut, dass alle anderen das gleiche wie wir machen sollten”). Der Schweizer Geist ist von der Natur her patriotisch, er richtet sich nach innen. In dieser Hinsicht sind die US-Amerikaner anders, sie neigen eher um Nationalismus (ähnlich den Franzosen mit Napoleon). Beide Konzepte können bewusst (manipulativ) vermengt werden (z. B. im Nationalsozialismus).
  • Internationalismus ist die Verneinung der Nation; sie geht auf Kosten von legitimen Eigeninteressen der Nationen. Die dahinterstehende Denkvoraussetzung, dass der Mensch im Kern gut sei, hebt den Schutz der Nation aus den Angeln. Absolute Macht korrumpiert absolut. Wenn unser Herz bei kleinen Dingen nicht Nein sagen kann, wie dann bei den Grösseren? 
  • Die politische Vereinigung wird im NT “Tier”, die religiöse “Hure” genannt (Offb 13+17). Die Unabhängigkeit der Nationen ist die Sicherheit dagegen; so ähnlich wie wir unsere Haustür abschliessen, obwohl wir unsere Nachbarn schätzen.
  • Die Nationen werden im Eschaton im Licht des Lammes wandeln (Offb 21,24), auch wenn der Staat mit seiner Bestrafung nicht mehr nötig sein wird. Der Internationalismus will dies ohne Christus erreichen.

Weitere Vorlesungs-Notizen

Aufsatz: Die Israeltheologie der Evangelikalen

Franz Graf-Stuhlhofer (* 1955), der mit einem umfangreichen Archiv an Artikeln online ist, erörtert in der aktuellen Ausgabe GuDh 2/2023 die Israeltheologie der Evangelikalen.

Mitunter wird in Frage gestellt, dass es sich bei dieser Sonderstellung Israels wirklich um eine Vorzugsstellung handelt, etwa indem gesagt wird: „Erwählung bedeutet nicht Bevorzugung, sondern eine besondere Beauftragung. Israel und seine Nachkommen sind als ‚Knecht Gottes‘ zugleich Zeugen Gottes in der Welt.“ Hier wird immerhin eine Konkretisierung versucht. Aber geht es Gott im Blick auf das gegenwärtige Israel primär darum, dass dieses das von Gott Erkannte bezeugen soll, oder eher darum, dass Israel Gottes Selbstoffenbarung in seinem Sohn annimmt? Das Letztere betrifft, nach evangelikaler Einschätzung, alle Völker: Dass Gott wünscht, dass sie Gott erkennen und sich auf eine Beziehung mit Gott einlassen. Jene Individuen, die das tun, sollen dann natürlich auch Zeugen für Gott sein.

Mit der Ansicht einer Sonderstellung Israels verbindet sich zudem die Meinung, dass Gottes atl. Verheißungen auch das Volk Israel der Gegenwart betreffen. Das klingt durchaus nach einer Bevorzugung dieses Volkes.

Wie ist es einzuschätzen, dass die Mehrheit der heutigen Juden den An- spruch Jesu, der im AT verheißene Messias zu sein, ablehnt? Der Zugang zum Heil liegt aber im Glauben an Jesus, so jedenfalls die evangelikale Überzeugung.

Wenn also die von der Haltung gegenüber Jesus unabhängige, bleibende Erwählung Israels betont wird, kann eine Inkonsequenz entstehen, auf welche Helgo Lindner aufmerksam macht, „wenn einerseits Jesus eine zentrale Rolle im christlichen Glauben spielen soll, andererseits aber von einem Nein zu ihm überhaupt nichts mehr abhängig gemacht wird“.11 Beim Betonen der bleibenden Erwählung Israels sollte auch deutlich ausgesprochen werden, was jenen Juden fehlt, die nicht an Jesus glauben. Umgekehrt sollte aber auch konkret dargelegt werden, was alle Juden – auch ohne an Jesus zu glauben – aufgrund ihrer Vorzugsstellung haben.

Input: Das heilsgeschichtliche Verständnis des Dispensationalismus

In dem vom Autorentrio Andy NaselliOren Martin und Jason DeRouchie in der Reihe “40 Questions” herausgegebenen “40 Questions about Biblical Theology” werden in F/A 17 einige hilfreiche Charakterisierungen zum heilsgeschichtlichen Verständnis des Dispensationalismus gegeben:

  • D. sieht den Fortschritt von Gottes Plan anhand der Art und Weise, wie das NT den Begriff oikonomia verwendet
  • Definition: “unterschiedliches Heilshandeln (distinguishable economy) bei der Verwirklichung von Gottes Plan”
  • Der Plan Gottes lässt sich in drei Phasen zusammenfassen: Vergangenheit (Israel vor Pfingsten), Gegenwart (Kirchenzeitalter) und Zukunft (Millennium).
  • Die Dispensation mit Israel war lediglich ein “Schatten” der in der Kirche offenbarten Wirklichkeit.
  • Es besteht eine radikale Zweiteilung zwischen Israel (Gottes irdisches Volk) und der Kirche (Gottes geistliches Volk).
  • Das NT unterscheidet zwischen dem Reich Gottes und dem Himmelreich.

Der “Progressive Covenantalism” (Standpunkt der Autoren) hingegen

  • lässt die kosmologische himmlische/irdische Sprache fallen, behält aber dennoch zwei unterschiedliche anthropologische Einheiten bei
  • Behandelt verschiedene Etappen als aufsteigende Treppenstufen und nicht als unterschiedliche, nicht miteinander verbundene Epochen
  • Sieht das Reich Gottes ist durch König Jesus bereits in die Geschichte eingebrochen, aber noch nicht in seiner ganzen Fülle vorhanden
  • Die Kirche ist weder eine separate Rasse der Menschheit (im Gegensatz zu Juden und Heiden) noch eine konkurrierende Nation neben Israel und den heidnischen Nationen. Die Kirche ist gerade die erlöste Menschheit selbst (Juden und Heiden).

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Input: Geschichte der Obdachlosenhilfe in der Stadt Zürich

Als Bürger der Stadt Zürich beschäftige ich mich regelmässig mit der Stadt- und Kulturgeschichte:

Neu las ich in der von einem Historiker erstellten Broschüre Obdachlosenhilfe und Wohnintegration der Stadt Zürich. Einige Auszüge:

Die erste städtische Einrichtung, in der Obdachlose untergebracht wurden, war ab 1831 die «Verhaftsanstalt Im Berg» im heutigen Universitätsquartier. Allerdings nannte man
die hier Eingebrachten nicht Obdachlose sondern «Vaganten». Sie galten als «liederliche, arbeitsscheue Personen» und wurden verfolgt. Die «Verhaftsanstalt» war denn auch, wie der Name verheisst, eine polizeiliche Einrichtung. 1909 wurde die «Verhaftsanstalt» an die Schipfe verschoben und 1914, als die Haftzellen aufgehoben wurden, in «Bürgerstube» umbenannt. Als Ergänzung wurde 1913 im landwirtschaftlichen Gutsbetrieb «Zur Weid» in Rossau-Mettmenstetten die «Anstalt für Männer» eröffnet, in der Stadtzürcher «versorgt» wurden, «die infolge ihres unausrottbaren Hanges zur Landstreicherei», so der Stadtrat, «sich dauernd ausserstande erweisen, sich als brauchbare und nützliche Glieder der Ge- sellschaft zu erweisen». (9)

… Kriegswirtschaftliche Engpässe beim Wohnungsbau hatten ab 1942 in der ganzen Schweiz zu extremer Wohnungsnot und Obdachlosigkeit geführt. In der Stadt Zürich waren die bestehenden Obdachlosenheime – die städti- sche Bürgerstube an der Schipfe und das Männerheim der Heilsarmee im Langstrassequartier – bis aufs letzte Bett belegt. Um die Situation zu ent- schärfen, rief der Stadtrat 1943 das «Büro für Obdachlosenfürsorge» ins Leben, das die Situation sozial schwacher Einzelpersonen verbessern soll- te. Doch neben den «Alleinstehenden» waren auch immer häufiger Familien mit Kindern von Obdachlosigkeit betroffen. So mussten Familien während des laufenden Schulbetriebs in Schulzimmern einquartiert werden.

Als sich die Lage weiter verschärfte, bewilligte der Zürcher Gemeinderat 1945 den Bau von 18 Notbaracken für obdachlose Familien im Aussenquar- tier Altstetten und am Bucheggplatz. Die Lage blieb jedoch so prekär, dass der Stadtrat im Februar 1946 einen Appell an die Bevölkerung richtete, Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Der Effekt dieser «Wohnraumbe- schaffungskampagne» war überschaubar: Knapp 100 brauchbare Unter- bringungsmöglichkeiten kamen zusammen. In der Not schaute sich die Stadt Zürich auch ausserhalb der Stadtgrenze um und kaufte in Rümlang 16 Einfamilienhäuser, um obdachlose Familien unterzubringen. Gleichzeitig wurde das «Büro für Obdachlosenfürsorge» ins «Büro für Notwohnungen» umgewandelt und der städtischen Liegenschaftsverwaltung angegliedert. (11)

Wie gross das Problem der offenen Obdachlosigkeit in der Stadt Zürich gewesen sein muss, zeigt eine Forderung aus dem Gemeinderat von 1947: Der Stadtrat müsse dringend Massnahmen treffen, «damit die in Ziegeleien, Tramwartehäuschen, Unterführungen usw. Unterkunft suchenden Obdach- losen in hygienisch einwandfreien Lokalitäten ohne bürokratische Mass- nahmen nächtigen können.» Der Stadtrat reagierte, indem er in einem ehe- maligen Sanitätsbunker unter dem Hallenbad City eine Notschlafstelle mit 105 Betten errichtete. Im gleichen Jahr eröffnete die Stadt zwei weitere Not- schlafstellen an der Schulhausstrasse und in der Hardau, letztere explizit für «Übernächtler der Zürcher Ziegeleien». 1949 wurde das Notschlafstel- lenangebot mit Betten im Niederdorf komplettiert. Ende der 1940er-Jahre gab es in der Stadt Zürich über 300 Plätze in insgesamt vier städtischen Notschlafstellen. Das Angebot wurde sofort rege genutzt, die Einrichtungen waren fast jede Nacht voll ausgelastet. In einem Zwischenbericht des Büros für Notwohnungen vom Sommer 1947 hiess es, dass es viele Dauergäste gebe, die dort wohnten, weil sie die Miete für ein Zimmer nicht im Voraus aufbringen konnten. Es sei erfreulich, «dass sich der überwiegende Teil der Schlafgänger aus anständigen Elementen zusammensetzt.» 1963 lag die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in der Notschlafstelle unter dem Hallen- bad bei fast zwei Jahren. Die Mehrheit der Nutzerinnen und Nutzer war ar- beitstätig und profierte vom nicht sehr komfortablen, aber billigen Angebot der Stadt. Die erste Nacht kostete 4 Franken, jede weitere Übernachtung 1.70 Franken. Der Tages-Anzeiger titelte 1964 deshalb: «Zürichs billigstes ‹Hotel Garni›». (13)