Eine pralle Ladung (4): Wurde das Alte Testament von den NT-Schreibern missbraucht? (Hebr 1,5)

Mein erster Doktorvater von Carson in Cambridge stellte die These auf: Wenn die NT-Autoren das AT zitieren, tun sie das auf furchtbare Weise, weil sie aus dem Kontext gezogen werden. Damit missbrauchen sie das AT. Hand aufs Herz: Haben wir nicht schon denselben Eindruck gehabt? Obwohl wir guten Willens sind, fragen wir uns: Wie ist das nur möglich? Nicht sehr fromm: Das macht keinen Sinn. Die beiden schwierigsten Bücher des NT in dieser Hinsicht sind Matthäus und Hebräer.

Carson wählt ein Zitat (Hebr 1,5) aus. Er möchte zeigen, dass der Verfasser das AT und den Kontext versteht, wenn er zitiert. Dadurch soll die Zuversicht in das Wort Gottes erhöht werden.

Der Vers ist Teil des Argumentes, dass Jesus erhabener als die Engel ist. Warum er das tut, ist nicht Gegenstand der Betrachtung. Das Argument wird in Hebr 1,4 aufgebaut. Der erste Beweistext folgt in V. 5, Ps 2,7 und 2Sam 7,14. Carson folgt dem Argument in sechs Schritten.

Wie schwer das Zitat aus Ps 2,7 ist: Es wird dreimal im NT zitiert. In diesem Zusammenhang wird es gebraucht um zu beweisen, dass Jesus erhabener als die Engel ist. Zweite Stelle: Aaron hat sich nicht selbst zum Hohepriester eingesetzt, sondern wurde ernannt. Dann wird die Parallele zu Christus gezogen: Er hat sich nicht selbst zum Hohepriester gemacht (Hebr 5,5). Dritte Stelle: Paulus predigt in einer Synagoge in Antiochien. Hier wird die Stelle als Beweis gebraucht, dass Jesus von den Toten auferstehen musste. Ps 2,7 erwähnt weder Engel, Hohepriester noch die Auferstehung. Was geht hier vor?

  1. Wie “Sohn” und “Sohnschaft” in der Bibel verwendet werden: Im AT werden auch Engel als Söhne Gottes beschrieben (z. B. Hiob 1). Dass Jesus über die Engel erhaben ist, beruht nicht darauf, dass er Sohn genannt wird und die Engel nicht. Sohn kann sich auf Israel beziehen (z. B. 2. Mose 4,2; Hos 11,1). In Lukas 3 wird Adam als Sohn Gottes bezeichnet, auch einzelne Gläubige im AT. Heute verstehen wir Sohnschaft genetisch. Deine Identität ist aber nicht an die Tätigkeit eurer Eltern gebunden. Aber in der antiken Welt war dies anders. In einer landwirtschaftlichen Gesellschaft bekommst du vom Vater deine ganze Identität. Das erklärt viele Idiome der Bibel, z. B. “Söhne Belials” (was so viel wie “wertlos” bedeutet). Die Friedensstifter werden Söhne Gottes heissen. Das bedeutet: Gott ist der überragende Friedensstifter. Wenn du Frieden schaffst, handelst du wie er. Wer sind die wahren Söhne Abrahams (Röm 4)? Die wahren Söhne Abrahams sind die, welche so handeln. Sie haben den Glauben Abrahams. Lasst mich euch (Juden) sagen, wer euer Vater ist (Joh 8,44): Ihr seid Söhne des Teufels. Wir müssen also das Konzept der Sohnschaft verstehen.
  2. Hebr 1,5 bringt zwei Zitate aus dem AT. Zuerst zu 2Sam 7,14: David hatte die Bundeslade nach Jerusalem gebracht. Er dachte, dass die Zeit für einen Tempel gekommen sei. Natan meint einfach, tue dies, er war so angetan von der Idee. David wollte Gott ein Haus bauen, doch Gott baut ein Haus für ihn. Diese Sprache wurde nicht nur in Israel gebraucht, sondern auch in anderen Gesellschaften des vorderen Orients. Gott ist der übergeordnete König. Wenn Salomo als Sohn Davids König wird, um das himmlische Königreich auszuüben, wird er damit sein Sohn. Wer im Namen Gottes regiert, wird als Sohn eingesetzt. Diese Kategorien sind rein funktional. Die Aussage kann sich nach 2Sam 7,14b nicht direkt auf Jesus bezogen haben, sondern auf Salomo. Stellen wir uns die Ängste Davids vor: Saul hatte er nicht mal erlaut, einen Nachfolger als König zu haben. Wie lange würde die Dynastie Davids andauern? Gott etabliert die Dynastie aus reiner Gnade. Er lässt ihnen nicht die Strafe zukommen, die ihnen gebührt. Erstaunlich ist V. 16: Dein Haus soll ewig bestehen. Entweder würde ein Nachfolger dem andern folgen. Oder irgendwann wird jemand auftreten, der selbst für alle Ewigkeit existiert.  Dieser Faden zieht sich durch das ganze AT, z. B. Jes 9: Ein Sohn ist uns gegeben, der selbst als Gott bezeichnet wird. Zu Hesekiel sagt er (34. Kapitel): Ich werde meinen David senden, um ihnen ein Hirte zu sein. Jesus steht auf und sagte: Ich bin der gute Hirte (Joh 10). Der erste Vers des NT: Jesus ist der Sohn Davids. Die Schrift ist voll von den Verheissungen des davidischen Königs.
  3. Psalm 2 fängt mit einer rhetorischen Frage an. Man könnte diesen Vers auf die Rebellion kleiner Könige gegen David auffassen. Wie kannst du einen König angreifen, wenn ihn Gott schützt? Er selbst hatte ihn eingesetzt. In V. 7 antwortet der König selbst auf das göttliche Dekret. Wenn der nächste Sohn eingesetzt wird, dann ist er Gottes Sohn, weil er an seiner Stelle herrscht. Diesem König wird die ganze Erde gegeben. Es wird schwierig, den Bezug auf einen König im kleinen Israel zu beziehen. Vers 10: Küsst den Sohn, dass er nicht über euch zürnt (schwierige Übersetzung). Wie befähigt uns das, Hebr 1,5 richtig zu verstehen? Jesus ist der davidische König. Das macht ihn grösser als die Engel. Ein Muster wiederholt sich immer wieder, bis es explosiv im NT geklärt wird – eine Typologie. Es ist eine davidische Typologie. Wenn der Verfasser Ps 2 zitiert, hat er nicht nur diesen Vers vor Augen, sondern den ganzen Fluss rund um die Typologie. Der angekündigte Sohn herrscht über die ganze Erde, das wird von keinem Engel gesagt.
  4. Wann wird dieses Königtum kommen? Ein Bild des NT: Jesus ist als König geboren. Er hat seinen Dienst als König angetreten. Jesus sah Satan vom Himmel fallen (Lk 10): Die Königsherrschaft Jesu wird im Sieg über den Teufel offenbar. Die Anschuldigung am Kreuz hiess: Jesus, der König der Juden. Und er ist es wirklich, und nicht nur der Juden. Alle Macht ist ihm gegeben. Alle Macht Gottes ist vermittelt durch Jesus den König (1Kor 15). Er muss herrschen, bis er den letzten Feind besiegt hat. In Apg 13 wird Ps 2 zitiert angesichts der Auferstehung. Jesus ist der ultimative davidische König. Durch die Auferstehung besteigt Jesus den Thron.
  5. In Hebr 1,1-4 wird das Konzept der Sohnschaft ausgiebig berücksichtigt. In den letzten Tagen sprach er durch seinen Sohn zu uns. Er ist… und dann folgen die Beschreibungen. Er ist der ewige Sohn, Gottes Agent in der Schöpfung. Er wird zum Sohn Gottes in seiner menschlichen Form, als er geboren wurde. Damit ist er weit mehr als die Engel. Diese spiegeln Gottes Herrlichkeit nicht so wieder. In Hebr 1,5 ist Jesus auch der Sohn Davids durch die Auferstehung.
  6. Was sollen wir denn über Hebr 5,5 sagen? Heute spricht man über verschiedene Christologien. Das waren alles Auffassungen für einzelne Gemeinschaften. Es ist unvorstellbar, dass ein Christ im ersten Jahrhundert dies gesagt hätte. Er war alles zugleich: Der Sohn in verschiedener Hinsicht, König der Juden, Lamm, Hirte.

Ich will, dass ihr seht, dass die Bibel Sinn macht. Es waren keine dummen Menschen, die irgendwelche Texte aus dem Zusammenhang gerissen haben. Es steht ein Fluss dahinter, der in Jesus Christus mündet. Es bleibt angesichts dieser Stränge: Die Anbetung.