Interview: Postmodernismus, unsere Gemeinden und der Vorwurf der Intoleranz

Daniel von Wachter, Religionsphilosoph, hat vor einigen Tagen ein Interview zum Postmodernismus gegeben. Er zeigt anschaulich auf, wie das Denken in den Kirchgemeinden Fuss gefasst hat. Die Klarheit der Aussagen ermöglichte es mir, Teile des Interviews meiner Familie vorzulesen. Etwa diese zwei Abschnitte:

Wenn es keine Wahrheit gäbe, wäre jede Meinung gleichermaßen richtig?

Es hat keinen Sinn, zu sagen: „Wenn jemand das anders sieht als ich, dann hat er ebenfalls recht.“ Das ist ein Widerspruch, es ist unvernünftig, so etwas zu sagen. Die Idee, dass man so  einen Widerspruch „aushalten soll“, wird oft als menschlich und liebevoll dargestellt. Es ist aber unlogisch, wenn ich etwas glaube und das Gegenteil auch für richtig halte. Das bringt  niemanden weiter. Wir wollen doch wissen, was richtig ist, und uns entsprechend entscheiden. Man darf die Wahrheit nicht gegen die Liebe ausspielen. Daher sollte man nicht sagen:  Damit ich mehr Liebe übe, darf ich niemandem mehr widersprechen. Es ist sogar liebevoller, wenn ich versuche, ihn zu überzeugen, weil ich ja will, dass der andere auch die Wahrheit,  also die richtige Auffassung erlangt. Manchmal ist es zum Beispiel in einer Gemeinde richtig zu sagen: „Wegen dieser Meinungsverschiedenheit trennen wir uns nicht“. Aber es ist  töricht zu sagen: „Ich meine X, aber ich will nicht sagen, dass Nicht-X falsch wäre.

Kommen Christen mit ihrem  Wahrheitsanspruch nicht in Konflikt mit der Religionsfreiheit?

Christen glauben an die christliche Lehre und haben mehr oder weniger Argumente dafür. Diese Argumente teilen sie  ihren Mitmenschen mit und versuchen, sie davon zu überzeugen. Da ist kein Toleranzproblem. Ist das Toleranz, wenn ich sage: „Der hat eine andere Meinung und hat genauso recht“?  Nein. Toleranz entsteht, wenn ich sage: „Ich meine A, der andere meint Nicht-A, ich schlage ihm trotzdem nicht den Schädel ein, ich unterdrücke ihn nicht, ich lasse ihn seine Religion  frei ausüben.“ Christen müssen für Religionsfreiheit sein. Das ergibt sich klar aus dem Neuen Testament. Schon im 18. Jahrhundert findet sich bereits dieser Vorwurf gegen Christen,  sie seien intolerant, weil sie behaupten, dass die christliche Lehre wahr ist. Das ist eine Verdrehung. Man merkt daran, dass diejenigen, die den Intoleranzvorwurf pflegen, selber gar  nicht besonders tolerant sind. Die andere Person muss man achten und lieben, egal, was sie für eine Meinung hat. Man darf das aber nicht vermischen mit der Frage, ob etwas wahr ist oder nicht.

Von Wachter spricht auch die starke Gefühlsorientierung an und zeigt auf, welche desaströsen Folgen diese Verankerung in uns selbst zeitigen:

In der evangelikalen Welt in Deutschland hat sich stark ausgebreitet, dass man gefühlsorientiert ist und das Gefühl nicht mehr auf die Lehre gründet. Wenn Sie die Lieder der Reformation oder der Erweckungsbewegung ansehen, dann sind diese immer sehr emotional, das ganze Herz ist dabei. „Bis zum Tode bin ich gehorsam“ und „Alles geb‘ ich dir, mein Herr“ – das ist aber immer auf der Lehre gegründet: Weil Christus mein Herr ist, weil Jesus für mich gestorben ist, habe ich Hoffnung. Weil er auferstanden ist, den Tod besiegt hat, deshalb sehe ich nach vorne. Die evangelikale Welt in Deutschland hat sich stark davon abgewandt. Viele Lieder, die ich höre, haben Aussagen wie „Gott ist mir so nah, Gott ist so gut, ich bin so getröstet“, aber es ist kein Grund für den Trost genannt. Es wird versucht, das Gefühl auf andere Weise als durch die Lehre zu erzeugen.

Drittens klärt von Wachter die Begriffsverwirrung um das abgenützte Schlagwort der "Toleranz":

Was bedeutet es für die Religionsfreiheit, wenn Christen, Muslime oder Menschen anderen Glaubens aus vermeintlichen Toleranzgründen keinen Wahrheitsanspruch für ihre Religion erheben dürfen?

Der Vorwurf der Intoleranz ist eine Gefahr für die Religionsfreiheit heute. Denn Religions- oder Meinungsfreiheit heißt ja: Jede Meinung und jeder Widerspruch dürfen geäußert werden. Der eine sagt, der Islam hat recht, dann darf jeder sagen, der Islam hat unrecht. Ich darf sagen, das Christentum ist wahr, und jeder darf sagen, das Christentum ist nicht wahr. Der Postmodernismus löst das auf und damit die Religionsfreiheit gleich mit. Das geht so: Wenn ich dem Moslem sage, dass er irrt, dann ist das laut den Postmodernisten eine gewalttätige Tat und muss verboten werden. In diese Richtung gehen tatsächlich schon Gesetzesentwürfe in Brüssel, die besagen, man darf anderen Religionen nicht widersprechen. Weil man diese Grenze zwischen Meinungsäußerung und wirklicher Gewalt- oder Unrechtstat aufgelöst hat, verlieren wir die Meinungs- und die Religionsfreiheit. Brüssel geht ganz klar in diese Richtung. Das ist politisch dramatisch und wird, wenn es so weitergeht, zu erheblichen Bedrängnissen führen.