Die Debatte um den Neuen Realismus ist schon deswegen dringend nötig,
weil die Geisteswissenschaften zu lange von einem überzogenen Antirealismus bzw. den verschiedenen Spielarten eines postmodernen Konstruktivismus dominiert wurden. Dabei gerieten der Begriff des Geistes sowie der Begriff des Menschen dauernd ‚unter Verdacht‘, was wohl dazu geführt hat, dass man heute vorsichtig lieber von ‚Kultur‘ oder ‚Kulturen‘ spricht. Doch damit verdeckt man nur, dass die Frage nach dem Realismus auch und vor allem für die Geisteswissenschaften von höchster Bedeutung ist, nachdem deutlich geworden sein sollte, dass man die menschliche Zivilisation mit ihren historischen Errungenschaften und ästhetischen Blüten nicht einfach für eine biochemisch induzierte kollektive Halluzination halten kann, die überdies nur einen Macht- oder Überlebenskampf kaschiert. Meines Erachtens gilt es also, den Status der Geisteswissenschaften gerade im Licht der Debatte um den Neuen Realismus zu überdenken, um ein ausgewogenes Menschenbild zu erarbeiten, das sich nicht im Bann theoretisch problematischer Weltanschauungen bewegt, die allzu voreilig alles spezifisch Menschliche für eine bloss konstruierte Nebensache halten, die dem Wirklichkeitsdruck unserer natürlichen Einbettung ins Universum weichen muss. Denn dieses Weltbild kann sich zumindest nicht mehr ohne weiteres darauf berufen, dass es der alleinige Vertreter unseres Wirklichkeitssinns ist. Man sollte die Wirklichkeit des menschlichen Geistes nicht allzu voreilig unterschätzen, da mit ihr unsere historischen Errungenschaften auf dem Spiel stehen, die im Namen moralischer Interpretation und Wahrheit erstritten wurden und nicht im Licht der Annahme, es handele sich eigentlich um freischwebende Konstruktionen.
Markus Gabriel in seiner Einleitung zum Sammelband „Der Neue Realismus“, Suhrkamp: Berlin, 2014. (15-16)