Buchbesprechung: Christentum und Liberalismus

J. Gresham Machen. Christentum und Liberalismus. 3L Verlag: Friedberg, 2013. 216 Seiten. Euro 12,50.

Die Erstausgabe dieses Buches 1923 liegt bald 100 Jahre zurück. Das Buch ist als Entscheidungsschrift konzipiert worden („jeder Mensch muss entscheiden, auf welcher Seite er stehen möchte“, 205). Damals ging es um einen tief greifenden Bruch innerhalb der Presbyterianischen Kirche der USA. Nur kurze Zeit nach der Publikation wurde der Bruch vollzogen (siehe das Vorwort des Herausgebers, 5-10). Es ist wohl kein Zufall, dass 90 Jahre später das Buch in die deutsche Sprache übersetzt wurde – übrigens eine solide Arbeit, Kompliment an die Übersetzer. Mir scheint, dass wir innerhalb des Evangelikalismus an einem ähnlichen Punkt wie damals stehen.

Wie lautet das Gesamtargument Machens? Er ist davon überzeugt, dass zwischen der modernen Lehre des Liberalismus und der Lehre des Christentums ein fundamentaler Unterschied besteht. „Indem aufgezeigt wird, was das Christentum nicht ist, soll … erklärt werden, was es ist, damit die Menschen sich abkehren von den schwachen und kümmerlichen Konzepten und wieder zurückkehren zur Gnade Gottes.“ (27)

Wo sieht Machen die entscheidenden Unterschiede zwischen Liberalismus und Christentum? „Hierin wird der fundamentale Unterschied zwischen Liberalismus und Christentum deutlich: Der Liberalismus steht im Imperativ, wohingegen das Christentum mit einem triumphierenden Indikativ beginnt. Der Liberalismus appelliert an den Willen des Menschen, während das Christentum primär einen Gnadenakt Gottes verkündet.“ (62) Der Liberalismus sei durchaus mit dem „Legalismus des Mittelalters vergleichbar, was nämlich seine Abhängigkeit von den Verdiensten des Menschen betrifft.“ (205) „Eine Grundsatzregel des modernen Liberalismus lautet, dass das Böse in der Welt durch das Gute in der Welt überwunden werden kann. Hilfe von ausserhalb ist deshalb nicht notwendig.“ (160) Ausgerechnet der Liberalismus, der sich für „Freiheit“ einsetzt, führt daher zu „elender Sklaverei“. „So merkwürdig ist dieses Phänomen aber gar nicht. Die Emanzipation vom heilsamen Willen Gottes bringt automatisch die Abhängigkeit von einem schlimmeren Zuchtmeister mit sich.“ (168)

Machen entwickelt dieses Argument ausgehend von einer Definition des Begriffs „Lehre“ und geht der Reihe nach die Lehre über Gott, Mensch, Bibel, Christus, Erlösung und Gemeinde durch. Ich gehe in dieser Besprechung diesen Stationen entlang.

Ausgangspunkt bildet das Argument, dass Lehre unbedeutend sei, während es doch auf den Lebensstil ankomme. Machen entgegnet: Das Christentum war „ein Leben, das auf einer Botschaft gegründet war. Es beruhte nicht auf blossen Gefühlen, nicht auf Werken, sondern auf einer Reihe von Fakten. Mit anderen Worten: Es beruhte auf Lehrsätzen.“ (33) „‘Christus starb‘ – das ist Geschichte. ‚Christus starb für unsere Sünden‘ – das ist Lehre. Ohne diese beiden Elemente, verbunden in unauflöslicher Einheit, gibt es kein Christentum.“ (40)

Die Lehre des Evangeliums baut auf der Lehre über Gott und den Menschen auf (71). Machen sieht die grosse Problematik darin, die Transzendenz Gottes aufzuheben. „An allen Ecken und Endet tendiert (der Liberalismus) dazu, die Trennung zwischen Gott und seiner Schöpfung ebenso abzuschaffen wie die scharfe persönliche Trennung zwischen Gott und dem Menschen.“ (80)  Das führt zu einer absurden Umkehr, die Machen später so zusammenfasst: „Dem christlichen Glauben nach existiert der Mensch um Gottes willen, nach der liberalen Lehre existiert Gott um des Menschen willen.“ (178)

Die Lehre über den Menschen folgt der falschen Lehre über Gott (81). „Der fundamentale Fehler der modernen Kirche ist, dass sie eifrig beschäftigt ist mit einer völlig unmöglichen Aufgabe: Gerechte zur Busse zu rufen. Moderne Prediger versuchen, Menschen in die Kirchen zu locken, ohne von ihnen zu fordern ihren Stolz loszulassen. Sie versuchen, den Menschen dabei zu helfen, Sündenerkenntnis zu vermeiden! Der Prediger besteigt die Kanzel, öffnet die Bibel und spricht die Gemeinde etwa wie folgt an: ‚Ihr seid richtig gut! Ihr kümmert euch um das Wohl der Gesellschaft…“ (85) Die Menschen dürfen auf keinen Fall ihre Sünden vor Augen geführt bekommen. „Man müsse vielmehr das Gute in ihnen suchen und es kultivieren.“ (161; Machen spricht hier vom Umgang mit Strafgefangenen). Was für eine Fehldiagnose! Der Mensch ist in Wirklichkeit tot durch seine Sünden, und „was er wirklich braucht, ist ein neues Leben.“ (162)

Wie machen sich diese Veränderungen in der Lehre über die Bibel bemerkbar? Die Offenbarung Gottes wird nicht mehr auf einen objektiven, fehlerlosen Bericht der Bibel gegründet. Was bleibt denn als alternative Grundlage übrig? (94) Wer zum Beispiel beginnt, den „historischen Jesus“ zu ermitteln, anerkennt in der Tendenz nur solche Worte an, „die zu den eigenen vorgefassten Ansichten passen“ (95). Damit kann die einzige Autorität nur noch das individuelle Erlebnis sein (96). Denken und Leben gründen sich nicht mehr auf der Schrift, sondern beruhen „auf wechselhaften Emotionen sündiger Menschen“ (97).

Das wiederum wirkt sich auf die Frage aus, wer Christus darstellt. Nach dem Liberalismus unterscheidet er sich alleine durch seinen Rang, nicht aber durch sein Wesen vom Rest der Menschheit (133). Jesus hat sich jedoch stets als Messias und Retter der Welt vorgestellt. Er bot nicht primär Rat, sondern Erlösung an. Er ist nicht nur Vorbild, sondern Objekt des Glaubens (115).

Das verändert die Botschaft der Erlösung. Wenn Jesus einen Ehrenplatz im Sinne eines moralischen Vorbilds einnimmt, dann wird „das Ärgernis des Kreuzes“ weggenommen „und mit ihm die Macht und Herrlichkeit“ (146). Die Botschaft vom Sühnopfer passt nicht mehr ins übrige Bild und muss eliminiert werden. Nur: Was passiert dann mit Sünden, die nicht wieder gut zu machen sind? Wir werden aufgefordert „umzukehren und zu vergessen. Doch wie herzlos ist diese Art von Umkehr! … was ist mit jenen, die wir durch unser Beispiel und unsere Worte heruntergezogen haben bis zum Rand der Hölle? Vergessen wir sie und drücken einfach beide Augen zu?“ (153) Wenn man die Notwendigkeit der Sühne leugnet, „so verleugnet man damit die Existenz einer wahrhaft moralischen Ordnung“ (154). Die Arbeit des Heiligen Geistes wird „durch die übliche Anwendung weltlicher Mittel oder durch die Verwendung des schon im Menschen befindlichen Guten verrichtet“ (159).

Wie wird in einer solchen Sicht des Christentums die Aufgabe der Evangelisation verstanden? „Die jetzige Welt steht im Zentrum all seiner Gedanken, die Religion und sogar Gott selbst wird zum Mittel degradiert, um die Bedingungen auf dieser Erde zu verbessern“ (172). Religion ist Mittel für ein höheres Ziel, nämlich die Veränderung der Gesellschaft. Dabei ist es umgekehrt: „Das Christentum wird eine gesunde Gemeinschaft erzeugen, aber wenn es alleine dazu benutzt wird, eine gesunde Gemeinschaft zu erzeugen, dann ist es kein Christentum.“ (176)

Das letzte Kapitel widmet sich der Gemeinde. Hier schlägt sich nieder, was in den anderen Bereichen gelaufen ist. „Die moderne liberale Lehre besagt, dass alle Menschen überall Brüder seien, was immer sie auch glauben oder welcher Rasse sie angehören.“ (183) Die grosse Schwächung rührte daher, dass eine grosse Anzahl von Ungläubigen nicht nur in die Reihen der Gemeinde, sondern auch in die Lehranstalten aufgenommen wurde (185). Diese Menschen dominierten zunehmend die Gemeindeleitungen und die Lehre. „Geschwächt durch weltliche Auseinandersetzungen geht man in den Gottesdienst in der Hoffnung auf Erquickung der Seele. Und was findet man? Zu häufig nur den Aufruhr der Welt.“ Der Prediger „kommt nicht mit einer Botschaft, die durchdrungen ist von der Autorität des Wortes Gottes, nicht mit der Herrlichkeit des Kreuzes Christi, … sondern mit menschlichen Meinungen zu aktuellen sozialen Fragen oder einfachen Lösungen für das komplizierte Problem der Sünde.“ (206-07) Wie bekannt kommt mir diese Erfahrung vor!

Fazit:  „Religion wird nicht dadurch freudenvoll, dass man nur die angenehmen Facetten Gottes akzeptiert. Denn ein solch einseitiger Gott ist nicht real und nur der reale Gott kann das Sehnen unserer Herzen stillen.“ (157) Wie schade, wenn wir diese Kraft dahingeben für einen jämmerlichen Ersatz! Die Alternative dazu ist jedoch nicht der Rückzug, wie Machen deutlich schreibt: „Die ‚Jenseitigkeit‘ des Christentums beinhaltet keinen Rückzug aus den Kämpfen dieser Welt.“ Es geht vielmehr darum, „die Prinzipien Jesu auch auf die Komplexität des modernen industriellen Lebens anzuwenden.“ (179) Wie ernst dies Machen war, zeigt seine bildungspolitische Stellungnahme am Anfang des Buches:

Die gesamte Entwicklung der modernen Gesellschaft führt auf extreme Art und Weise zur Einschränkung der Freiheit des Einzelnen. Diese Tendenz lässt sich besonders gut anhand des Sozialismus beobachten. In einem solchen Staat wäre die Sphäre individueller Entscheidungsfreiheit auf ein Minimum reduziert. … Es scheint den Gesetzgebern von heute nicht in den Sinn zu kommen, dass ‘Fürsorge’ zwar etwas Positives sein mag, aufgezwungene Fürsorge aber negativ sein könnte. … Das Resultat ist eine noch nie da gewesene Verelendung des menschlichen Lebens. Persönlichkeit kann sich nämlich nur im Bereich eigener Entscheidung entwickeln. Dieser Bereich wird durch den modernen Staat langsam aber sicher immer weiter eingeengt. Diese Tendenz macht sich besonders im Bildungswesen bemerkbar. … Ein öffentliches Bildungssystem als Anbieter von kostenlosem Wissen für alle, die sich danach sehnen, ist eine grossartige Errungenschaft der Moderne. Wird es jedoch zum Monopol erhoben, so ist es das wirksamste Instrument der Tyrannei, das bisher erfunden wurde. … Setzt man die Kinder in dem für sie prägenden Alter gegen den Willen und gegen die Überzeugungen der Eltern unter die permanente Kontrolle vom Staat eingesetzter Experten, zwingt sie, an einem Unterricht teilzunehmen, indem alles höhere Streben der Menschheit unterdrückt und der Verstand mit materialistischem Gedankengut gefüllt wird, dann wird es schwer vorstellbar, wie auch nur Reste von Freiheit fortbestehen sollen.  (21+25)