Es gibt eine Wortkombination unter den „Frommen“, die lähmende Wirkung zeitigt: Der „lieblose Dogmatismus“. Dieser verbale Vorschlagshammer könnte aus Sicht des Hämmernden bedeuten: „Du hast gesagt, dass etwas ‚absolut‘ gelte. Dabei handelt es sich um etwas, das ich anders lebe. Jetzt hältst du mir dies als Sünde bzw. Übertretung vor. Damit stellst du dich auf den Standpunkt des gerechten Frommen und mich auf den Schandfleck des Sünders. Diese Lieblosigkeit hat Jesus doch verboten. Er ging selbst zu den verruchtesten Sündern hin und holte sie aus der Schandecke. Wir Christen sollten doch gerade daran zu erkennen sein, dass wir einander in Liebe begegnen.“ Liebe bedeutet in diesem Zusammenhang: Wir sollten die Entscheidung des anderen respektieren und ihm jederzeit signalisieren, dass wir ihm vollen Respekt und volle Zustimmung geben. Die schwerste aller Sünde besteht darin, den anderen zu „verletzen“.
Mein Einwand: Wir lesen die Bibel – und insbesondere das Leben von Jesus – mit der Brille des gesellschaftlich akzeptierten ethischen Relativismus. Was meine ich damit? Kein Mensch "lebt" relativistisch, wenn er zum Chirurg geht, den Architekten bestellt (der sein Haus bitte GENAU zeichnen soll, sonst stürzt es ein), oder wenn er die Begleitzettel von Medikamenten liest. Da nehmen wir alles ganz genau. Wir zweifeln keinen Augenblick an der Möglichkeit eines objektiven (das heisst der Wirklichkeit entsprechenden) Befundes, an der Baustatik oder an den (Neben-)Wirkungen von Medikamenten. Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn es um ethische Entscheidungen geht. Diese werden faktisch einzig durch staatliche Gesetze limitiert. Diese staatlichen Entscheidungen sind entweder auf Mehrheitsbeschlüsse oder auf Entscheidungen von Experten zurückzuführen. Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Betrug oder Bereicherung sind straffällig im Gegensatz zu Promiskuität, Pornografie, Abtreibung oder Sterbehilfe (um einige beliebte Beispiele zu nennen).
Gesellschaftlich wird der ethische Relativismus durch den sozialen Konstruktivismus gerechtfertigt: Zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten kommen gewisse Gruppen zu einer Übereinkunft, was sich gehört und was nicht. Es gibt keine universale, übergeordnete Instanz, die eine absolute Ethik rechtfertigen würde. Wir Frommen haben diese Luft seit Kindesbeinen eingeatmet. Wir wenden sie nun auch unbewusst auf den christlichen Glauben an. Folgende drei Argumente tauchen regelmässig auf:
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Unser begrenztes Wissen: „Wir können das nicht so genau sagen, was die Bibel meinte.“
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Unsere Zeit- und Ortsgebundenheit: „Wir müssen bedenken, dass früher andere Sitten herrschten.“
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Unsere Hierarchie von biblischen Aussagen: „Wir dürfen uns nicht gegenseitig verletzen, weil wir den Nichtchristen sonst ein schlechtes Beispiel abgeben.“
Ich setze dem folgende Überlegungen entgegen: Die Bibel lehrt tatsächlich, dass unser Wissen sehr begrenzt ist und unsere Wahrnehmung zusätzlich durch die Sünde verdunkelt wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Bibel nicht a) eindeutige ethische Aussagen machen würde und b) wir diese nicht erkennen könnten. Im Gegenteil: Gott hat sich in seiner Wortoffenbarung selbstverständlich so ausgedrückt, dass sie für den – vom Heiligen Geist erleuchteten – Verstand erkannt werden kann. Es gibt also ein universell gültiges Moralgesetz Gottes, das der Gesetzgeber durch sein Wort bekannt gemacht hat. Hier setzt eine Schein-Demut ein: Wir sind doch nicht berechtigt, die Bibel einwandfrei auslegen zu können. Unsere Regeln sind doch selbst zeit- und ortsgebunden. Mit anderen Worten: Wir zweifeln an der Klarheit der biblischen Aussagen. Genau hier wird es kritisch. Wir wenden die Argumente des ethischen Relativismus auf unser Verständnis der biblischen Aussagen an und benützten es als Alibi für unsere (angeblichen) Freiheiten. Damit bleiben wir in der skeptischen Wirklichkeitsauffassung, welche unsere Gesellschaft die letzten Jahrzehnte geprägt hat, gefangen. Die Person bleibt die letzte Instanz, welche über Klarheit und Unklarheit von Aussagen entscheiden darf. Der Deckmantel für diese Argumentation ist angebliche Demut. Verstärkt wird dieses Scheinargument mit der Gegenüberstellung von Beziehung vs. Wissen. Es gehe um Beziehung und nicht um Wissen. Als ob Gott nicht beides gleicherweise geschaffen hätte und beides gleicherweise ansprechen würde!
Wenn dieser fromm verpackte ethische Relativismus in unseren Gemeinden gelebt wird, entfaltet er eine toxische Wirkung. Wie wir in ethischen Fragen entscheiden, bleibt dem Einzelnen überlassen. Wir werden in unserem Heiligungsprozess mit diesem Szenario schachmatt gesetzt: "Das kann man so nicht sagen. (Meint: Ich entscheide darüber, ob das so klar in der Bibel steht.) Wenn du dies jedoch behauptest, bist du lieblos dogmatisch. (Meint: Propositionelles Denken behindert mich in der Ausübung meiner Pläne.)" Damit erweisen wir uns jedoch einen Bärendienst. Wir lassen einander in unseren Sünden hängen. Wir leben wieder so, als hätten wir keinen Gott – und damit keine Hoffnung in dieser Welt (Epheser 2,12). Die Ironie an der Geschichte: Das ist äusserst lieblos! Was Pongratz für die Pädagogik schreibt, trifft dann auch auf uns Christen zu: "Die ethische Reflexion stürzt ins Bodenlose, um sich schliesslich auf dem altbekannten Boden des herrschenden Systems wiederzufinden: Alles fliesst, nichts gilt und das Bestehende behält Recht, solange es den Funktionalitätsansprüchen des Systems genügt. Übrig bleibt ein undogmatischer Dogmatismus, der seine eigenen Tabus etabliert.“ (Ludwig A. Pongratz. Untiefen im Mainstream. Ferdinand Schöningh: Paderborn 2009. S. 36.)Wenn jeder Recht hat, dann gibt es keinen Boden mehr. Wir stehen nicht mehr auf dem Boden der Heiligen Schrift. Alles fliesst, und nichts mehr gilt. Der Stärkere regiert, der Schwächere verliert. Entstanden ist das, wovor allen graute: Ein liebloser Dogmatismus mit vielen Tabus.
Damit befürworte ich keineswegs lieblose Rechthaberei, sondern plädiere für ein Ineinandergehen und "gegenseitiger Befruchtung" von rechtem Denken und rechtem Handeln. Das rechte Denken speist sich aus der Gottesoffenbarung, seinem Wort. Der Heilige Geist gibt uns die Kraft, diese Anweisungen in unser persönliches und gemeinschaftliches Leben zu übertragen. So wird wahr, was der Apostel der Liebe, Johannes, in seinem Evangelium und seinen Briefen an zwölf Stellen geschrieben hat: „Wer mich liebt, wird meine Gebote halten.“