Wo sehe ich die Hauptproblematik der Erziehung in frommen Kreisen? Sie liegt in einem formelhaften Moralismus, kombiniert mit einer relativistischen Praxis.
Formelhafter Moralismus: Konzepte und Tipps
In Erziehungsratgebern und -seminaren werden ganz unterschiedliche Konzepte vorgestellt und Ratschläge erteilt. Diese folgen in aller Regel einer oder mehreren säkularen Schulen (z. B. der kognitiven Verhaltenstherapie, die beim Individuum ansetzt, oder der Gemeinschaftserziehung, die mittels Liebesentzug korrigierend eingreift). Es geht im Kern um Verhaltensänderung (z. B. Beschränkungen, Ersatzangebote).
Relativistische Praxis: Selbstrechtfertigung
Werden die Vorgaben nicht eingehalten, entwickeln Eltern und Kinder Ausreden, weshalb es nicht möglich war ("ich habe es vergessen", "die Kollegen", "die strenge Phase"). Wir betreiben Selbstrechtfertigung. Das Problem, das daraus resultiert, präsentiert sich so: Die praxis pietatis, die gelebte Frömmigkeit, unterscheidet sich im Kern nicht von der Umgebung.
Der Kitt: Anpassung aus Scham
Die fromme Sozialisierung wird in der Regel durch Familie, Gemeinde und ergänzend durch Ratgeber (Seelsorger, Literatur) betrieben. Diese entfalten einen Dreiklang:
- Sei nett und freundlich ("Sonntagschul"-Effekt)
- Gott nimmt dich an, wie du bist (einseitiger Liebesbegriff)
- Passe dich der Umgebung an (Scham, Harmonieliebe)
Konsequenzen: Zweiteilung des Lebens
Mit dieser Mischung an Aufforderungen wird meines Erachtens eine Zweiteilung des Lebens betrieben. Es gibt ein geistliches Leben, das nur noch wenige Momente unserer gesamten Realität abdeckt, sowie den grossen Rest, der eine Eigendynamik entfaltet.
Zwei Eskalationsstufen
Kurzfristig ensteht ein Doppel- oder Dreifachleben in Form einer unterschiedlichen Lebenswelt von Kollegen, Familie und Gemeinde. Diese betrifft sowohl Eltern wie auch Kinder. Wenn die Spannung zwischen den Welten zu gross wird, bieten sich an:
- Wechsel der Umgebung (z. B. neue Gemeinde)
- abrupte Abwendung vom Glauben