Ich sitze nach einem anstrengenden Tag auf der Rückfahrt im Zug. Mir gegenüber sitzen zwei ältere Damen. Eine schüttet der anderen ihr Herz aus. Erst begann mich der überaus persönliche Dialog zu stören. Ich dachte darüber nach das Abteil zu wechseln. Doch dann hielt ich inne, weil ich gewahr wurde, dass Gott mich wohl eine Lektion lehren wollte. So blieb ich sitzen, hörte zu und begann zu beten.
Es geht um eine Lebensgeschichte, die sich in so mancher Schweizer Familie zugetragen haben könnte. Sie handelt um den Ausschluss einer Tochter aus der Herkunftsfamilie. Das kann auch vielfältigen Gründen geschehen. In diesem Fall war die Mutter manipulativ und – wie es sich später herausstellte – psychisch krank. Die beiden Geschwister machten ihren beruflichen Weg. Die dritte blieb "auf der Strecke" – zumindest in ihren Augen. Die beiden anderen bekleiden respektierte Positionen. (Im ganzen Gespräch fehlt eine wichtige Kategorie: Die Sünde. In jeder Familie wird Sünde aufgehäuft, in den einen verheerender als in den anderen.)
Die Suche nach der eigenen Identität wird zum Lebensthema. "Ich will auch jemand sein." Dieser Satz dünkt mich der Schlüssel einer solchen Lebensgeschichte. Es gibt in unseren Breitengraden zwei Königswege auf dieser lebenslang andauernden Suche. Der eine Weg ist der private. Dort zeichnet sich bald einmal ein Muster ab: Es scheint so, als ob ein anderer Mensch einem das geben könnte, wonach man sich sehnt. Diese Sehnsucht wird über kurz oder lang enttäuscht. Darum findet in Abständen ein Partnerwechsel statt.
Nach einer privaten Enttäuschung verlagern manche ihre Energie auf die berufliche Schiene. Man erwirbt eine Zusatzqualifikation. Eine Zeitlang verreinnahmt das Neue. Bis sich das Grundgefühl des Suchens wieder einstellt. Dann folgt der nächste Wechsel – manchmal wird es auch ein Bruch. Über die Zeit stellt sich die Genugtuung ein, dass bei den Familienmitgliedern ja auch nicht alles optimal läuft. Beziehungs- und Karrierebrüche werden hinter vorgehaltener Hand fast mit Jubel begrüsst. Die Ernüchterung der anderen muss betäubt werden. Die einen trösten sich mit Material. Andere greifen zum Alkohol. Dritte versuchen es mit käuflichem Sex.
Jeder trägt seinen Lebensrucksack mit sich herum. Die familiären Beziehungen sind längst abgekühlt. Das ist stark untertrieben. Sie sind vergiftet. Keiner will seine Scham entblösst sehen. Er bedeckt sie. Doch gerade die leiblichen Geschwister schaffen es mühelos, sie ab und an mit hämischem Grinsen wegzuziehen. "Wenn du wüsstest, was er sich alles geleistet hat." Genau davor fürchtet er sich ja. Dass gewisse Dinge an die Oberfläche kommen, die man gerne verschwiegen hätte.
Die Sache entzündet sich schliesslich an der betagten Mutter im Pflegeheim. In der Herkunftsfamilie dominieren die alten Muster. Man mag inzwischen auch Mitte Fünfzig sein. Sie wehrt sich, erzählt sie. "Endlich habe ich auch eine Stimme." Um wen geht es jetzt genau? Ich höre endlos "ich", "mich", "mein" – Recht (bzw. erlittenes Unrecht), Genugtuung, Macht. Mit verschmitztem Lächeln: "Eigentlich bin ich eine Intrigantin."
Ehrlich genug. Das sind wir Menschen. Wir sind Intriganten für die eigene Sache. Unser "Herz" (so nennt die Bibel die Gesamtheit unserer Motivationen, also Wille, Gefühl und Verstand) ist trügerisch. Es ist schwer zu durchschauen. Wir rächen Unrecht mit neuem Unrecht. Kurzfristig verschafft es Genugtuung, die anderen zu entblössen, sie jetzt auch mal zappeln zu sehen. Trotzdem das schlechte Gewissen. "Eigentlich tun sie mir leid." "Manchmal frage ich mich, ob ich richtig gewickelt bin." Es ist das eigene Innere, das verurteilt.
Wer sind wir denn? "Lass mich mein Ende wissen, o HERR, und was das Maß meiner Tage ist, damit ich erkenne, wie vergänglich ich bin! Siehe, nur Handbreiten lang hast du meine Tage gemacht, und die Dauer meines Lebens ist wie nichts vor dir. Wahrlich, jeder Mensch, wie fest er auch steht, ist nur ein Hauch! Ja, als Schattenbild geht der Mensch einher; nur um Nichtigkeit machen sie so viel Lärm! Er häuft auf und weiß nicht, wer es einsammeln wird." Nachzulesen in Psalm 39. Das Leben zerrinnt. Die beiden stehen auf. "Du könntest ein Buch schreiben." Unser Lebensbuch ist aufgezeichnet, keine Frage. "Und nun, Herr, worauf soll ich hoffen? Meine Hoffnung gilt dir allein! Errette mich von allen meinen Übertretungen, mache mich nicht dem Narren zum Gespött!"
Da haben wir sie wieder, die Qual des Menschen. Sich selbst zum Zentrum seiner Hoffnung zu machen, ist eine brüchige und höchst vorläufige Lösung. "Ich schweige und tue meinen Mund nicht auf; denn du hast es getan." Ein Anderer nimmt sich meiner Sache an. "Nimm deine Plage von mir, denn ich vergehe wegen der Schläge deiner Hand! Wenn du jemand züchtigst mit Strafen um der Sünde willen, so lässt du seine Schönheit vergehen wie die Motte— jeder Mensch ist nur ein Hauch!" Nicht (nur) der andere ist abgewichen, es geht um mich.
Auf wen gründet sich meine Hoffnung?