Das christliche Weltbild

Richard Tarnas schreibt über den Kern der Botschaft der Christen an die Welt – über den persönlich-unendlichen Gott:

Gott liebte den Menschen. Er war weder nur die Quelle der Weltordnung, das Ziel allen philosophischen Strebens, die erste Ursache alles Seienden, noch war er einfach nur der unergründliche Herrscher des Universums und der gestrenge Richter über die menschliche Geschichte. Denn mit Jesus Christus war Gott aus seiner Transzendenz herausgetreten und hatte für immer und vor aller Welt eine unendliche Liebe zu seinen Geschöpfen unter Beweis gestellt. Hier war die Grundlage für eine neue, sich auf die Erfahrung der Liebe Gottes stützende Lebensweise gegeben, deren Universalität eine neue, alle Menschen umfassende Gemeinschaft schuf.

Das Christentum ist weder individualistisch noch kollektivistisch, wie Tarnas gut herausarbeitet:

Für das Christentum besass daher zwar jede individuelle Seele ihren unvergleichlichen Wert als Kind Gottes, aber das griechische Ideal des selbstbestimmten Einzelnen und des heroischen freien Geistes verlor in diesem neuen Kontext an Gewicht gegenüber einer kollektiven christlichen Identität. Die Vorstellung eines höheren gemeinschaftlichen Selbst als Vorahnung des Himmelreiches auf Erden, begründet in der gemeinsam erfahrenen Liebe Gottes im Glauben an die Erlösung durch Christus, förderte die Zurücknahme des einzelnen Ich zugunsten einer umfassenderen Verpflichtung auf das Wohl des Nächsten und den Willen Gottes – zuweilen bis hin zur völligen Selbstlosigkeit. Auf der anderen Seite unterstützte das Christentum jedoch gerade dadurch, dass es der einzelnen Seele Unsterblichkeit und Wert verlieh, die Entwicklung des individuellen Gewissens, der Eigenverantwortung und der persönlichen Autonomie gegenüber den weltlichen Mächten – also von entscheidenden Faktoren bei der Herausbildung des westlichen Charakters.

Welche Bedeutung das Christentum für die Ethik hatte, beschreibt er ebenso zielsicher:

Mit seiner Morallehre führte das Christentum einen neuen Sinn für die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens in die heidnische Welt ein: gegen Mord, Selbstmord und das Töten von Säuglingen; gegen Massaker an Gefangenen, gegen die Erniedrigung von Sklaven und blutige Zirkusspektakel, gegen sexuelle Freizügigkeit und Prostitution; für den spirituellen Wert der Familie, für die ethische Überlegenheit von Selbstverleugnung gegenüber egoistischer Selbstverwirklichung, von weitabgewandter Heiligkeit gegenüber weltlichem Ehrgeiz, von Sanftheit und Vergebung gegenüber Gewalt und Vergeltung.

Aus: Richard Tarnas. Das Wissen des Abendlandes. Albatros: Düsseldorf 2006. S. 145-146.