Erneut zitiere ich den Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann. Er äussert sich sehr pointiert zur Bindung von Kindern zu Gleichaltrigen:
In den Erziehungswissenschaften wird seit langem beobachtet, dass die Gruppen Gleichaltriger bereits für die Elf- und Zwölfjährigen immer wichtiger werden und den Platz der Familie einnehmen. Geschmack und Vorlieben, Lebenspläne und Selbstbilder entwerfen Kinder und Jugendliche zunehmend nicht im Rahmen der Familie, sondern in einer Gruppe von Altersgenossen. Die ersten Beobachtungen dieser Art stammen bereits aus den achtziger Jahren. Sie haben sich im Verlauf der letzten dreissig Jahre zunehmend bestätigt.
Was die wissenschaftliche Studie nicht verrät, das ist die lange nicht wahrgenommene Tatsache, dass sich hinter dieser Gruppenorientierung eine grosse seelische Not verbirgt. Keineswegs ist das Herumstehen und Herumlungern mit Gleichaltrigen auf der Strasse, in Tanzschuppen oder Kaufhäusern ein emotional gleichwertiger Ersatz für familiäre Zugehörigkeit. Jeder, der das Glück hat, in einer intakten Familie zu leben, kann den Unterschied zu den anonymen Gruppierungen gleichaltriger Jugendlicher unmittelbar sehen: Sie sind wie Fortgetriebene…
Bergmann spricht von einem Übermass an unbehüteten Trennungen, welche die Kinder durch dieses Bindungsverhalten erleiden müssen.
Die Abhängigkeit der Gruppen Gleichaltriger von den Medienerfahrungen kann dazu führen, dass der (notwendige) Gegensatz zwischen Familie und ausserfamiliären Gruppen über ein psychisch zuträgliches Mass hinaus radikalisiert wird. Zu viele Brüche, zu viele Trennlinien soll ein Kind gleichzeitig verarbeiten. … Ein junger Mensch, der nicht in einem lebendigen inneren Kontakt zu seiner Familie und damit zu den seelischen Ursprüngen seines Lebens steht, verliert sich sehr rasch in den konformen Anforderungen, die eine Gruppe stellt.
Wolfgang Bergmann. Ich bin der Grösste und ganz allein. Patmos: Düsseldorf 2010. S. 123+129.