Offener Brief: Unsere Welt ist ein Konstrukt – wirklich? (1)

Lieber Herr Rao, vor mehreren Wochen ist mir Ihr Artikel „Unsere Welt ist ein Konstrukt“ zugesandt worden. Im letzten Abschnitt fassen Sie zusammen:

Wir müssen begreifen, dass die Welt, in der wir leben, ein Konstrukt ist. Wir erschaffen uns unsere Welt und wir erfahren sie so, wie wir sie uns zurechtgelegt haben. Wenn wir mit unserem Leben nicht zufrieden sind, dann können wir die Teile, die wir nicht mögen, dekonstruieren und so neu zusammensetzen, dass wir mit unserem Leben zufriedener sind. Darum geht es in allen meinen Büchern, Vorträgen und Kursen.

Ich gehe zunächst davon aus, dass eine Aussenwirklichkeit existiert, und mir die Nachricht elektronisch zugesandt wurde, sprich, dass die Übermittlung selbst kein Konstrukt war. Auf dieser Basis gestalten wir Menschen ja unseren Alltag.

Für meine Antwort werde ich drei Beispiele zur Veranschaulichung benützen. Beim ersten handelt es sich um einen Gesetzesverstoss, beim zweiten um etwas, das wir als „ethisch anstössig“ bezeichnen würden, beim dritten um eine kulturelle Konvention. Zunächst treffe ich die Annahme, dass Sie den Begriff „Konstruktion“ ausschliesslich auf die Bewertung von Ereignissen, nicht aber auf die Ereignisse selbst anwenden.

Stellen Sie sich vor, ich würde einer Person in Ihrer Anwesenheit Schläge versetzen. Sie würden kaum daran zweifeln, dass ich existiere und eine andere Person geschlagen habe. Das bedeutet, dass Sie zumindest die Existenz zweier Wesen, die ausserhalb Ihres Gehirns existieren, vorbehaltslos und ohne weitere Überlegung voraussetzen. Das mag nicht nur mit Ihrer sozialen Prägung, sondern mit dem Menschsein an und für sich zusammenhängen. Nicht nur das, ich bin davon überzeugt, dass im Moment, in dem Sie realisieren (wiederum ein Wort, das auf eine Realität hindeutet), was passiert ist, bestimmte Gefühle aufkommen. Sie würden entrüstet sein. Höchstwahrscheinlich werden Sie die Verletzung eines Gesetzes feststellen, aufgrund der Sie sich gezwungen sehen, auf diesen Vorfall zu reagieren.

Wenn ich Sie jedoch richtig verstanden habe, gestehen Sie mir die Möglichkeit zu, diesen Vorfall anders zu bewerten. Ich könnte die Schläge als Genugtuung für früher erlittene Demütigungen empfunden haben. Oder meine Konstruktion könnte es gewesen sein, dadurch die geschlagene Person in ihrer Widerstandskraft zu stärken, also heldenmütig gehandelt zu haben.

Das Beispiel mag weit hergeholt sein, darum füge ich noch ein weiteres an. Ein Manager fertigt besorgte Fragen seiner Mitarbeitenden, ob mit Entlassungen gerechnet werden muss,  mit einem „Nein“ ab. Im Folgemonat werden die ersten Kündigungen ausgesprochen. Nehmen wir an, dass die Führungskraft die wahre Lage trotz besserem Wissen abgestritten hatte. Nun könnte sie so argumentieren: „Ich wollte die Schaffenskraft meiner Mitarbeitenden nicht unnötig bremsen, also habe ich aus Fürsorge für Unternehmen und Mitarbeitende gehandelt“. Die Mitarbeitenden wiederum könnten die Kündigungen nach der Information über die bevorstehenden Kündigungen als „Managerlüge“ etikettieren und ihm aufgrund dessen jegliche Glaubwürdigkeit absprechen.

Dieses Beispiel macht deutlich, dass es verschiedene Perspektiven auf ein und denselben Vorfall geben kann. Eine Führungskraft deutet und wertet anders als ein Mitarbeitender, eine Frau anders als ein Mann, ein Altachtundsechziger anders als ein 30-jähriger, ein Deutscher anders als ein Pakistani, ein Sohn anders als sein Vater. Das würde den Schluss zulassen, dass es keine zwei identischen Perspektiven gibt.

Nehmen wir noch einmal ein anderes Beispiel: Wenn wir gemeinsam mit hohen Vertretern aus Wirtschaft und Politik ein gemeinsames Mittagessen einnehmen und ich jeden Gang mit einem lauten Rülpser beenden würde, könnte Sie das beschämen. Oder Sie könnten mich verachten, weil ich der in unseren Breitengraden üblichen Gepflogenheit entgegen gehandelt habe. Hätte ich das gleiche in China gemacht, hätten Sie sich womöglich gefreut über das kräftige Dankeschön. Das heisst: Derselbe Vorgang hätte an einem anderen Ort eine andere Reaktion bzw. Bewertung zur Folge gehabt.

(Fortsetzung folgt)