Francis A. Schaeffer. The Church Before the Watching World. In: The Complete Works of Francis A. Schaeffer. Crossway: Wheaton, 1982. Vol. 4. S. 115-179.
Aus eigener Lebenserfahrung heraus war Francis Schaeffer bestrebt, gleichzeitig zwei Prinzipien der sichtbaren Kirche hochzuhalten. Beide gründen auf dem Charakter Gottes, nämlich seiner Heiligkeit und seiner Liebe. Während er im Büchlein „The Mark of the Christian“ das zweite Prinzip, nämlich die sichtbare Liebe, herausarbeitet, geht es hier um das erste: Die Reinheit der Lehre (115). Dies geschieht anhand von drei Fragen (116): 1. Wie kam es zur gegenwärtigen Unreinheit innerhalb der Christenheit? 2. Weshalb sind Christen und Kirchen der Reinheit verpflichtet? 3. Wie kann die Reinheit der Lehre aufrecht erhalten werden?
Im ersten Kapitel geht es um eine Grundsatzkritik des theologischen Liberalismus. Wie kam es dazu, dass die Theologie getreulich jede Welle der säkularen Umgebung mitmacht bzw. den nicht-theologischen Konsens bereitwillig in sich aufnimmt? Schaeffer zeichnet seine Interpretation der Geistesgeschichte seit der Aufklärung nach:
- Zuerst die Bewegung weg von einem offenen, von Gott geleiteten System hin zu einem geschlossenen, von natürlichen Ursachen gesteuerten Universum.
- Dann der Optimismus der Menschen, eine rationale Basis für eine einheitliche Antwort auf Erkenntnis und menschliches Leben zu finden (was scheiterte).
- Darum der Schritt zum modernen Mystizismus, nämlich der Trennung zwischen einem rationalen und einem irrationalen Bereich (wozu auch die Theologie gehörte).
Schaeffer verweilt kurz bei den existenzialistischen Theologen. Seine Hauptkritik: Sie lassen gegensätzliche Behauptungen stehen, z. B. dass Jesus physisch und gleichzeitig nicht physisch auferstanden sei. Nur ein einheitlicher Chorus ist von Seiten der neuen Theologenzunft zu vernehmen, nämlich dass die Bibel nicht Gottes Wort sei (127). Es handelt sich um eine letztlich jeden Inhaltes beraubten Religion im oberen (irrationalen) Bereich des Lebens. Das moderne Gedankengut wurde übernommen und mit theologischen Begriffen eingekleidet (132).
Im zweiten Kapitel entfaltet Schaeffer ein eigentliches Feuerwerk an Bibelstellen. Er malt ein eindrückliches Bild, ausgehend von Epheser 5,25-32. Dort wird die Beziehung von Christus zu seiner Kirche mit der Ehebeziehung parallel gesetzt. Nicht nur die gesamte Kirche, auch jeder Christ befindet sich – bildlich gesehen – täglich in den Armen des Bräutigams, um Gott Frucht zu bringen (Röm 7,4). Gleichfalls warnt Altes und Neues Testament gleichermassen eindringlich vor dem geistlichen Ehebruch. Die Braut Christi kann von ihrem Bräutigam weggeführt werden (2Kor 11,3). Der persönlich-unendliche Gott wird durch diesen Ehebruch betrübt (vgl. Hes 6,9). Schaeffer sieht im 20. Jahrhundert einen direkten Zusammenhang zwischen geistlichem und physischem Ehebruch (143). Wenn sich Christen vom Wort Gottes und vom Christus der Geschichte abkehren, so gleicht dies der ehelichen Untreue. Diese ernste Anschuldigung muss sich die moderne Theologie gefallen lassen. Sich vom göttlichen Bräutigam abzuwenden führt in die Sinnlosigkeit und in die Zerstörung (147).
Ohne Gottes Geist sind wir nicht in der Lage, Liebe und Heiligkeit gleichermassen hervor zu bringen. Wenn wir nur das eine hervorheben, stellen wir Gottes Charakter verzerrt dar (152). Der Christ ist aufgerufen, inmitten der relativistischen Umgebung für Wahrheit einzustehen. Deshalb muss unbedingt der Inhalt der christlichen Lehre betont werden (155). Schaeffer blickt auf die grosse Krise unter den Presbyterianern in den 1930er-Jahren zurück. Die einen wurden hart, selbst in weniger wichtigen Punkten der Lehre. Es besteht ein grosser Unterschied zwischen Glauben an absolute Wahrheit und einer absolutistischen Mentalität (159). Andere, die in liberalen Gemeinden zurückblieben, wurden mit der Zeit desillusioniert und lax.
Francis Schaeffer beschäftigt sich im Anhang (165-179) „Some Absolute Limits“ mit der Abgrenzung: Was gehört zum unverzichtbaren Inhalt der Lehre? Dieser ist keinem einzelnen Punkt oder einer eng geführten Linie, sondern einem Kreis zu vergleichen. Innerhalb dieses Kreises gibt es Bewegungsfreiheit und somit auch unterschiedliche Positionen. Wer jedoch die Trennlinie dieses Kreises überschreitet, verlässt den orthodoxen christlichen Glauben. Es handelt sich nicht um eine abschliessende Aufzählung. Schaeffer unterscheidet zwischen Aspekten, die vor und nach dem Sündenfall gleich geblieben sind, und solchen, die erst nach dem Sündenfall Realität geworden sind. Bei jedem Punkt existieren nach zwei Seiten hin „Klippen“. Ausführlicher habe ich dies im Beitrag “Der Kreis der christlichen Lehre” dargestellt.