Man braucht nicht lange die Bibel zu studieren, bis man auf Aussagen stößt, die verwirrend gegensätzlich sind: Die Beziehung von Prädestination und Verantwortung, das Wesen Gottes als Einheit und in drei Personen, Beziehung von Gnade und Werke in der Heilsfrage bei Jakobus und Paulus und einige mehr. Diese Lehren miteinander zu harmonisieren stellt eine große Herausforderung dar, und befriedigend scheint eine Antwort erst, wenn alle Faktoren in nur einer Gleichung aufgelöst werden können. Aber entspricht dies der Wirklichkeit, die die Bibel mit ihren Aussagen abbilden möchte? Komplementäres Denken ist ein hilfreiches Werkzeug, um scheinbar gegensätzliche Lehren richtig einordnen zu können.
Die Schrift spricht über das Wort Gottes selbst in einer komplementären Darstellung: Es ist stark – lebendig und wirksam, so dass es das Innere des Menschen „sezieren“ kann (Hebr 4,12); aber es ist auch schwach – es ist wie ein ausgestreuter Same, der sein Ziel oft nicht erreicht. Es fällt auf den Weg und wird von Vögeln aufgefressen. Es fällt auf einen steinigen Boden oder unter das Unkraut und verkümmert (Lk 8,4-15). Durch das Wort Gottes wurde die Welt geschaffen und jede Substanz und Wirksamkeit überhaupt ist auf das Wort zurückzuführen, und doch kann das Herz so abgestumpft sein, dass es für das Reden Gottes unempfindlich wird (Jes 6,9). Das Wort Gottes stellt sich also in einer unglaublichen Stärke, aber auch offensichtlich in großer Schwachheit dar. Was stimmt nun? Beides.
Es ist normal, dass wir komplexe Zusammenhänge vereinfachen, und das ist für die Gewinnung von Erkenntnis sicher nötig. Wenn Jesus das ganze Gesetz im Doppelgebot der Liebe zusammenfasst, so hilft uns diese Feststellung, das Wesentliche des Gesetzes zu erfassen. Aber es gibt Lehren der Schrift, die eher wie eine Ellipse aussehen: Sie haben zwei Brennpunkte, nicht nur einen. Eine zu starke Vereinfachung führt dann irgendwann zu einem entstellten Bild der Wirklichkeit. Auch wenn unsere Erkenntnis Stückwerk bleibt: Gott traut uns zu, komplexe Zusammenhänge zu erkennen, und deswegen offenbart er uns in seinem Wort nicht nur eindimensionale Wahrheiten. Die Komplementarität der Bibel bringt eine natürliche Spannung mit sich, die zur anhaltenden Erforschung anregt, unser Denken herausfordert und unseren Geist erfrischt. „Die Eröffnung deiner Worte erleuchtet und gibt den Unverständigen Einsicht.“ (Ps 119,130)
Andreas Dück, 35 Jahre alt, verheiratet, Studium am Martin Bucer Seminar und Ältester der Freien Kirchengemeinde Warendorf.