Ich habe Ron Kubsch, Theologe mit den Schwerpunkten Apologetik, Seelsorge und Neuere Theologiegeschichte, einige Fragen gestellt, die mich beschäftigen. Der Betreiber von theoblog.de und Generalsekretär des Netzwerks Evangelium21 spricht über die Krise des westlichen Evangelikalismus und seine Freude über das wieder erwachte Interesse an der Bibel jenseits des Unterhaltungschristentums.
Du bist seit Jahren aufmerksamer Beobachter der Evangelikalen im deutschsprachigen Raum. Welches sind aus deiner Sicht die zwei, drei Topthemen?
Die evangelikale Szene steckt in einer Krise, zumindest in der westlichen Welt. Viele Beobachtungen und Sorgen, die David Wells für Nordamerika schon 1993 in seinem Buch No Place for Truth skizziert hat, haben sich so oder ähnlich auch in Europa ereignet. Das Ringen um die theologische Wahrheit ist durch Fragen der Performanz verdrängt worden. Ich will damit nicht behaupten, die praktische Themen seien unwichtig. Ich will zum Ausdruck bringen, dass die praktische Theologie, also etwa Fragen des Gemeindebaus, der Predigtlehre, der Ökumene, der Mission oder der Seelsorge vom Wort Gottes her beantwortet und entfaltet werden müssen. Ich beobachte hingegen einen Rückzug in die Erfahrung, in die Innerlichkeit, in den Stil, in den Pop, in die Beziehung. Das kann nicht lange gut gehen. Wir haben in den zurückliegenden Jahrzehnten eine Verflüssigung theologischer Begriffe und Dogmen erlebt, die unsere Theologie breiig und kraftlos gemacht hat. Sie kann den kritischen Geistern nicht mehr viel entgegensetzen. Das zeigt sich sehr gut an dem Desinteresse an der Systematischen Theologie und am Verfall der christlichen Ethik. Die große Herausforderung für die nächsten Jahre wird das ehrliche Ringen um die theologische Wahrheit sein. Anders formuliert: Hat Gott wirklich gesprochen?
Du gehörst du zum Gründerkreis von E21. An was denkst du gerne zurück? Was ist die Stossrichtung der nächsten Jahre?
Sich mit Brüdern auszutauschen und zu beten, die einerseits die geistlichen Nöte glasklar sehen, aber andererseits nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern an die bleibende Kraft des Evangeliums glauben, hat mich belebt. Natürlich blicke ich dankbar auf einige der großen Konferenzen in Hamburg zurück. Allerdings wirkt Gott ja oft im Kleinen sehr nachhaltig. Ich bin dankbar für die Regionalkonferenzen oder die entstandenen Freundschaften. Es berührte ich besonders junge Männer und Frauen kennenzulernen, die einen Hunger nach dem Wort Gottes verspüren und das Verlangen haben, tiefer zu schürfen. Es gibt junge Leute, die vom allgegenwärtigen weichgespülten Unterhaltungschristentum die Nase voll haben. Sie trauen dem Evangelium zu, dass es Sünder zur Umkehr treibt. Sie erkennen, dass die Heilige Schrift Antworten auf die Fragen gibt, die die Menschen bewegen. Vielleicht umtreiben, ohne das sie es explizit benennen können. Die Bibel gibt ja auch Antworten auf Fragen, die die Menschen noch nicht kennen. Das ist übrigens ein Grund dafür, dass die Verkündigung zu kurz greift, wenn sie nur Themen aufgreift, die die Menschen aus ihrem Alltag mitbringen. Diese jungen Mitchristen wünschen sich Gemeinden, in denen Gott im Mittelpunkt steht, die Schrift ausgelegt wird, dienende Gemeinschaft zu finden ist. Das beeindruckt mich.
E21 muss solche Christen fördern und natürlich den Gemeinden zuarbeiten. Wir wollen etwa das Vertrauen auf die Bibel als zuverlässiges Wort Gottes stärken, einen Beitrag zur schriftgemäßen Verkündigung leisten und zum christozentrischen Leben in Familie und Gemeinde ermutigen. Wir müssen deutlicher herausarbeiten, dass das Evangelium die Sicht auf das gesamte Leben verändert. Als sich der Vorstand kürzlich getroffen hat, um die Ausrichtung der nächsten Jahre zu bereden, waren wir uns völlig einig, dass E21 der reformierten Theologie fest verbunden bleibt. Diese Theologie hat uns zusammengeführt und wird uns weiterhin stark prägen.
Du hast die intensiven 40er-Jahre hinter dir. Auf was empfiehlst du im Rückblick zu achten?
Natürlich gibt es viele Dinge, die – im Rückspiegel betrachtet – nicht optimal gelaufen sind. Manches stimmt mich traurig und treibt mich in die Reue und ins Gebet. Anderes kann ich allerdings annehmen, auch, weil ich mich von manchen Idealvorstellungen des christlichen Lebens verabschiedet habe. Bonnhoeffer (in Gemeinsames Leben u. Nachfolge), aber auch mein Kollege Thomas Jeising, mit dem ich im Bereich Seelsorge zusammenarbeiten darf, haben mir geholfen, das besser zu verstehen. Christusnachfolge ist keine Träumerei, sondern realitätsbezogen!
Ich habe die Bedeutung des gemeinsamen Bibellesens unterschätzt. Meine Empfehlung lautet: Familienandachten. Außerdem glaube ich, dass Freundschaften wichtig sind. Gerade auch dann, wenn man sehr beschäftigt ist, braucht es vertrauensvolle Beziehungen, in denen man sich verletzbar machen darf. Zu einer Freundschaft gehört auch das gegenseitige Ermahnen in aller Weisheit (vgl. Kol 3,16). Ich glaube, dass das heute zu kurz kommt. Gemeinschaft ist heilsam, wenn Christus in ihr Herr ist.
Was rätst du Menschen, die ins Rentenalter eintreten?
Ältere Christen werden in den Gemeinden gebraucht. Falls es ihnen möglich ist, sollten sie sich viele junge Leute ins Haus holen. Das hält jung und macht innerlich reich. Ich selbst habe sehr von einem älteren Ehepaar profitiert, das mich als jungen Studenten immer wieder zum Essen eingeladen hat. Sie wurden mir wertvolle Ratgeber. Später habe ich erfahren, dass sie regelmäßig für mich gebetet haben.
Was wünschst du dir für die Generation deiner Kinder?
Dass sie eine schöpferische Gegenkultur ins Leben ruft und so von Christus her in die Gemeinden und in die Kultur hineinwirkt. Das wird nicht gehen, indem sie sich treiben lässt und viel konsumiert. Haben sie aber Lust am Wort Gottes, werden sie zur rechten Zeit Frucht bringen.
Vielen Dank für diese wichtigen Beobachtungen!
Kubsch hat kürzlich zwei aus Vorträgen heraus entstandene Studien Das komponierte „Ich“: Identitätsfindung in der Postmoderne und das christliche Menschenbild und Der neue Paulus: Handreichung zur „Neuen Paulusperspektive“ herausgebracht.