Kolumne: Eine Zugfahrt mit Papa

In einem überfüllten Zug hatte ich die Gelegenheit, während einer Stunde neben einem etwa vierjährigen Jungen im Eingangsbereich zu sitzen. Die Begegnung ging mir nach.

Da sass ich also, mir gegenüber die Beine zweier Männer. Sie gehörten zwei tüchtigen Geschäftsleuten, die am Feiertag die Mutter entlasteten. Das Baby des einen schlief im Wagen, der andere stand mir gegenüber.

Mit ein, zwei anderen Kindern wäre es schon viel interessanter gewesen. Klar, etwas Streit hätte dazu gehört. Reibung belebt. Aber so muss man immer brav zwischen den Erwachsenen stehen. Das ist öde. Diese Klein(st)familie ist nicht das, was den Kindern am besten bekommt. Nicht umsonst meinte Remo Largo, dass ab drei Kindern (= Gruppe) alle sozialen Fertigkeiten eingeübt werden.

Die Ankündigung: „Das wird nicht lange dauern. In einer Stunde sind wir dort.“

Also für einen kleinen Jungen ist eine Stunde eine Ewigkeit. Er kann sich ja auch noch nicht richtig eine Vorstellung von der Länge machen. Darum stellt sich mir die Frage: Warum muss Mann nur so weit weg fahren? Dem Kleinen hätte auch eine Runde mit dem Fahrrad gut getan. (Dasselbe fragte ich mich ja auch. Doch wir hatten beschlossen, den Basler Zoo aufzusuchen.) Und wenn es schon weiter fort geht: Beziehe deine Söhne in die Planung mit ein! Überlass ihnen auch die Reiseleitung! Ich habe schon Kindergärtner mit Plan und roten Ohren in ihrem Element erlebt.

Der Rückblick: „Wir standen heute schnell auf. Er bekam noch schnell etwas Toastbrot.“

Das gibt es bei mir auch. Dass Mann mal schnell aufstehen muss. Doch nichts geht über ein richtiges Frühstück. Das will zelebriert werden. Gerade auf einer Reise. Kein Platz? Das gibt es nicht. Man kann auch bei der Türe mit dem Rucksack ein kleines Tischchen aufstellen und feierlich mit Orangensaft auf den freien Tag anstossen. Bei mir setzte sich der Eindruck fest, dass der junge Mann noch nie dunkles Brot gegessen hat. Man gewöhnt den Gaumen früh an bestimmte Geschmäcker.

„Du bekommst die grösste Butterbrezel.“

So sind wir Erwachsenen. Aus lauter schlechtem Gewissen versprechen wir Dinge. Was lernt der Nachwuchs? Wenn es eine kitze kleine Schwierigkeit gibt, muss man sich ablenken, betäuben oder zumindest belohnen. Widerstandsfähigkeit baut sich ja gerade an solchen Alltagshindernissen auf.

Nach etwa zehn Minuten meint der Vater: „Setz dich doch hin.“ Der Kleine: „Das ist zu dreckig.“

Willkommen in der Wirklichkeit! Die Welt ist schmutzig. Der Teppich war zwar frisch gesaugt worden. Doch dem kleinen Jungen war das zu dreckig. Mich schauderte es. Das ist ein Teil unseres Perfektionismus. Also sass ich als Mittvierziger auf dem Boden, der Kleine stand mit seinen adretten Kleidchen eine Stunde.

Plötzlich greift der Vater in den Rucksack: „Schau, was ich ihm gekauft habe?“ Er zieht ein Plastikschwert hervor. „Das bekommst du, wenn wir dort sind.“

Ich verstehe ja, dass bei den prekären Platzverhältnissen das Schwert im Rucksack bleiben musste. Doch gerade mit einem solchen Schwert hätte sich wunderbar eine Geschichte erfinden lassen. Und warum musste es nur aus Plastik sein? Hölzerne, selbst gebaute, sind viel spannender. Die kann man sogar noch selber streichen. Dafür hätte man mit einem richtigen Messer Brote schneiden und streichen können.

Nach etwa dreissig langen Minuten: „Willst du spielen?“ Der Vater lässt sein Smartphone zum Jungen herabgleiten.

Der Kleine hatte gar nicht danach gefragt. Er hatte bloss etwa drei-, viermal nachgehakt um zu erfahren, wie lange es noch dauert. Ab jenem Moment hörte ich ihn kein einziges Mal mehr etwas sagen. Oh, doch: Einmal kam er mit der Tastatur des Smartphones nicht klar. Papa konnte das mit einem Klick richten.

Reflexartig schaute der Vater auf seine Uhr und sagte halblaut (mehr zu sich selbst): „Wir sind bald dort.“

Irgendwie tat mir der Junge leid. Da wird er stehen gelassen an einem freien Tag zwischen den Beinen dieser zwei Männer. Ausflug mit Papa. Er bekam kein richtiges Frühstück. Er muss endlos im Zug stehen und versteht von der Unterhaltung der beiden Erwachsenen kein Wort. Er darf sich nicht setzen, weil es zu schmutzig ist. Das einzige Hilfsmittel in dieser trüben Zeit ist das Smartphone und die Parallelwelt des Spiels. Wenn das Spiel wenigstens real gewesen wäre.

Der eine berichtet dem anderen: „Ich arbeitete in der Firmen-Ferienwohnung – mit viel Leisure.“

Eine Stunde lang lief die Kommunikation in der gleichen Art und Weise ab: Der eine erzählte von seinen Firmenerfolgen. Der andere reagierte mit Verstärkungen: Wenn etwas toll war, dann wurde er ge-echot. Wenn er hingegen etwas verächtlich darstellte, dann haute der andere nochmals eins drauf. Etwas peinlich wurde es dann, wenn er den Absender falsch verstand. Dann musste dieser nachbessern.

„Jetzt wird es strub. Ich werde jedes Wochenende bis Mitte Jahr weg sein.“

Ich fand schon diesen Tag für den Jungen absolut strub. Doch so viel ich mitbekam, würde der Vater zwei Monate fast dauernd abwesend sein. Physisch abwesend, meine ich. Von den Gedanken her war er ja auch jetzt nicht präsent.

(Das Gespräch kommt schliesslich kurz auf die Kinder.) „Er schläft jede Nacht in unserem Bett. Natürlich liegt er immer quer.“

Ja, selbstverständlich. Wenn man tagsüber keine Beachtung kriegt, kann man sie nachts holen. Ich habe nichts dagegen, wenn das Kind nachts zu den Eltern kommt und Schutz sucht. Doch in diesem Fall scheint es mir die ungesunde Bindung eher zu verstärken.

Wir steigen aus und werfen einen letzten Blick auf den Buben. Ich winke ihm zu. Er sieht mich nicht. Es ist wohl gerade eine heikle Phase des Spiels.