Kolumne: Eine Familienkultur der Barmherzigkeit

Meine Frau und ich entstammen beide einer Familienkultur, in welcher die Leistung gross geschrieben wurde. Beide Herkunftsfamilien entwickelten einen gelebten Umgang mit Schwächen und Sünden, so wie es jede Familie tun muss. (Kohlbrügge hat den theologischen Sachverhalt hier wunderbar formuliert. Schwäche ist Folge unserer Geschöpflichkeit, Sünde ist Übertretung von Gottes Gebot. Leider tendieren wir Menschen dazu, Sünden zu entschuldigen und uns für die Schwächen gegenseitig schuldig zu erklären.)

Jetzt stelle man sich vor: Fünf Söhne, alle im Altersabstand, in dem einer dem anderen nacheifert. Es herrscht intensive gegenseitige Konkurrenz. Gott hat uns als Eltern bzw. unsere fünf Söhne in dieser Konstellation zusammengestellt. Als Vater bin ich für das Familienklima verantwortlich. In meinen Briefings –  Besprechungen von konkreten Situationen – vergleiche ich unsere Familie manchmal mit einem Sportteam. Ein gut funktionierendes Team springt füreinander ein. Es beschuldigt sich nicht gegenseitig, wenn ein Fehlpass gespielt wird. (In dieser Zeit der Schuldzuweisung hat der Gegner das Spiel nämlich längst übernommen.) Ein aufeinander abgestimmtes Kollektiv nimmt sogar Schwächen vorweg. Wo der eine versagt, ist der andere auch schon zur Stelle.

Wie jeder Vergleich hinkt auch dieser. Der Vergleichspunkt ist dort unzulänglich, wo es um die Selbstverbesserung geht. Wir sind alle nicht nur von uns selbst und den anderen abhängig. Wenn wir so leben, funktionieren wir wie Atheisten. Wir lassen nämlich den wichtigsten Akteur, den dreieinigen Gott, aus dem Spiel. Darum nenne ich die angestrebte Familienkultur nicht "Fehlerkultur", sondern eine "Kultur der Barmherzigkeit".

Wozu tendieren leistungsorientierte Kollektive? Der einzelne kann bzw. darf sich seinen Fehltritt nicht eingestehen. Er verdeckt ihn aus Scham. Das heisst, er versucht ihn zu rechtfertigen, herunterzuspielen oder zu verstecken. In der Folge strengt er sich noch mehr an, die kollektiven Anforderungen zu erfüllen. Dieser Vorgang wird durch die Anschuldigungen bzw. das Fingerzeigen der anderen Mannschaftsmitglieder verstärkt. So entstehen mit der Zeit – psychologisch gesprochen – Neurosen. Durch das Unterdrücken von Schuld und die hohe Anforderung an die Selbstkontrolle fügen sich die Menschen Schaden zu.

Dabei bleibt es aber nicht. Jeder Fehltritt – und dazu rechne ich eben diesen Verdrängungsmechanismus – ist Schuld vor Gott. Ja, es ist zuerst Schuld vor Ihm. Es stört die Gemeinschaft und führt ohne das stellvertretende Opfer von Christus ins zeitliche und ewige Verderben. Die zwischenmenschlichen Folgen sind das sichtbare Zeichen. Jede Sünde zieht nämlich soziale Konsequenzen nach sich. (Der US-amerikanische Seelsorger für Spitzensportler, Ashley Null, hat es sehr anschaulich beschrieben.)

Wie sieht ein von Christus erneuerter Umgang mit den Sünden und Schwächen anderer aus? Für den Betreffenden selbst bedeutet es, sie sofort in den Blick zu fassen und nicht zu verdrängen. Wir brauchen uns selbst nicht zu rechtfertigen. Der Blick auf die Schuld beschämt. Darum geht der nächste zu Christus. Wir sind "in Ihm". Das bedeutet, dass er diese Schuld trägt. Wir bitten Ihn um Vergebung und auch einander. So wird die Störung vertikal und horizontal zeitnahe in Ordnung gebracht. Der Heilige Geist schenkt uns durch das neue Leben Kraft, für die Erneuerung unserer Familiengewohnheiten zu kämpfen. Wenn alte Muster sich wieder Bahn brechen, realisieren wir dies und schlagen innerlich und äusserlich wieder die neue Richtung ein. Durch Gottes Gnade darf dadurch die Schönheit erlöster Beziehungen aufleuchten.