Input: Der Platz des Denkens aus christlicher Weltsicht

Bei der Lektüre von Tim Chesters “Stott on the Christian Life” – ich kann diese Buchreihe übrigens nur empfehlen, der Band über C. S. Lewis ist sogar als Hörbuch erschienen – bin ich auf dessen Schrift “Your Mind Matters” (erschwinglich erhältlich für die Logos-Bibliothek) gestossen. Es handelt sich um die Verschriftlichung von Konferenzvorträgen aus dem Jahr 1972.

Stott hat seinerseits von der Begegnung mit Harry Blamires und dessen Werk The Christian Mind: How Should a Christian Think?” profitiert. Chester fasst zusammen:

Blamires definiert den christlichen Verstand (engl. christian mind) als  “einen Verstand, der geschult, informiert und ausgerüstet ist, um mit Daten säkularer Kontroversen innerhalb eines Bezugsrahmens umzugehen, der aus christlichen Voraussetzungen gebildet ist.  Ein christlicher Denker, so Blamires, “fordert gängige Vorurteile heraus”, “stört die Selbstgefälligen”, “behindert die emsigen Pragmatiker”, “stellt die Grundlagen von allem um ihn herum in Frage” und “ist ein Ärgernis”. Blamires beklagt den Mangel an “christlichem Geist” in der zeitgenössischen Kirche. “Es ist schwierig, dem völligen Verlust der intellektuellen Moral in der Kirche des zwanzigsten Jahrhunderts mit Worten gerecht zu werden. Man kann sie nicht charakterisieren. ohne auf eine Sprache zurückzugreifen, die hysterisch und melodramatisch klingt.”

Anhand der biblischen Grundlehren von Schöpfung, Offenbarung, Erlösung und Gericht zeigt Stott den Platz des Denkens innerhalb einer christlichen Weltsicht auf. Ich zitiere nochmals Chester:

Erstens hat Gott die Menschheit mit der Fähigkeit zu denken geschaffen. Dies ist ein Faktor, der uns von anderen Tieren unterscheidet. In der Tat werden nicht denkende Menschen in der Heiligen Schrift dafür getadelt, dass sie sich bestialisch verhalten (Pss. 32:9; 73:22). … Trotz unserer Sündhaftigkeit befiehlt Gott den Menschen, zu denken und die Welt um sie herum zu deuten (Jes 1,18; Matthäus 16,1-4; Lukas 12,54-57).

Zweitens weist die Selbstoffenbarung Gottes auf die Bedeutung des Verstandes hin, denn Gottes Offenbarung ist rationale Offenbarung, sowohl seine allgemeine Offenbarung in der Natur als auch seine spezielle Offenbarung in der Heiligen Schrift…

Drittens müssen Christen ihren Verstand gebrauchen, weil die Errettung durch die Verkündigung des Evangeliums erfolgt – Worten, die an den Verstand gerichtet sind. Menschliche Rationalität ist der Schlüssel zur Erlösung. … Nicht nur, dass das Evangelium spricht den Verstand an; es erneuert auch den Verstand (Eph. 4,23; Kol. 3,10). …

Der vierte Grund, warum Christen ihren Verstand gebrauchen sollten, liegt darin begründet, dass die Lehre vom Gericht von der Bedeutung des Verstandes ausgeht. “Denn wenn eine Sache biblischen Lehre über das Gericht Gottes klar ist, dann diese, dass Gott  dass Gott uns nach unserer Erkenntnis beurteilen wird, nach unserer Antwort (oder dem Fehlen einer Antwort) auf seine Offenbarung.”

Stott wendet diese Sichtweise auf zentrale Lebensbereiche an:

  • Anbetung: Das erste Merkmal der Herzensanbetung ist, dass sie auf der Vernunft basiert; der Verstand ist voll beteiligt.
  • Glaube: Der wahre Glaube ist im Wesentlichen vernünftig, weil er auf den Charakter und die Verheißungen Gottes vertraut. Ein gläubiger Christ ist jemand, dessen Geist über diese Gewissheiten nachdenkt und auf ihnen ruht.
  • Heiligung: Das Hauptgeheimnis des heiligen Lebens ist der Verstand. Die erste und offensichtlichste Art und Weise, wie wir den Verstand brauchen, um Heiligkeit zu entwickeln, ist die Notwendigkeit zu wissen, was Gott von uns verlangt.
  • Führung: Wie bestimmt ein Mensch den spezifischen Willen Gottes für sein oder ihr Leben? “Es gibt nur eine mögliche Antwort … nämlich indem man den Verstand und den gesunden Menschenverstand benutzt, die Gott einem gegeben hat . . . im Vertrauen darauf, dass Gott dich durch deine eigenen geistigen Prozesse führt.”
  • Evangelisation: Die Verkündigung von Christus kann sich nicht auf emotionale oder anti-intellektuelle Appelle für Entscheidungen verlassen. Die Menschen müssen verstehen, wer Christus ist, wenn sie sich auf ihn berufen sollen. Stott verweist zunächst auf die Verpflichtung des Paulus, Menschen zu “überreden” (Apg 17,2-4; 19,8-10; 2. Kor 5,11).

Meiner Meinung nach ist die Denkfeindlichkeit im evangelikalen Umfeld nach wie vor sehr verbreitet. Weshalb? Weil er zwei übermächtige Konkurrenten hat:

  1. Pragmatismus: Es funktioniert.
  2. Emotivismus: Es fühlt sich gut an.