Herbert Marcuse, ein Hauptprotagonist der sog. Frankfurter Schule, veröffentlichte 1968 einen Essay zur Repressiven Toleranz. Darin definiert er den herkömmlichen Toleranzbegriff neu.
Er gelangt zu dem Schluß, daß die Verwirklichung der Toleranz Intoleranz gegenüber den herrschenden politischen Praktiken, Gesinnungen und Meinungen erheischen würde – sowie die Ausdehnung der Toleranz auf politische Praktiken, Gesinnungen und Meinungen, die geächtet oder unterdrückt werden.
Toleranz im Sinne von Nachgiebigkeit gegenüber dem Bösen der Überflussgesellschaft wird als das Übel verortet.
Toleranz gegenüber dem radikal Bösen erscheint jetzt als gut, weil sie dem Zusammenhalt des Ganzen dient auf dem Wege zum Überfluss oder zu größerem Überfluss. Die Nachsicht gegenüber der systematischen Verdummung von Kindern wie von Erwachsenen durch Reklame und Propaganda, die Freisetzung von unmenschlicher zerstörender Gewalt in Vietnam, das Rekrutieren und die Ausbildung von Sonderverbänden, die ohnmächtige und wohlwollende Toleranz gegenüber unverblümtem Betrug beim Warenverkauf, gegenüber Verschwendung und geplantem Veralten von Gütern sind keine Verzerrungen und Abweichungen, sondern das Wesen eines Systems, das Toleranz befördert als ein Mittel, den Kampf ums Dasein zu verewigen und die Alternativen zu unterdrücken.
Marcuse reklamiert das Mittel der freien Rede für den Übergang zur neuen gesellschaftlichen Moral – natürlich nur für die Präsentation der neuen Moral.
Die Toleranz der freien Rede ist der Weg der Vorbereitung und des Fortschreitens der Befreiung, nicht weil es keine objektive Wahrheit gibt und Befreiung notwendigerweise ein Kompromiss zwischen einer Mannigfaltigkeit von Meinungen sein muß, sondern weil es eine objektive Wahrheit gibt, die nur dadurch aufgedeckt und ermittelt werden kann, daß erfahren und begriffen wird, was ist, sein kann und zur Verbesserung des Loses der Menschheit getan werden sollte. Dieses öffentliche und historische »Sollen« ist nicht unmittelbar einsichtig, liegt nicht auf der Hand: es muss enthüllt werden, indem das gegebene Material »durchschnitten«, »aufgesparten«, »zerbrochen« (dis-cutio) wird…
Zur freien Rede kommt jedoch ein systematischer, vom Staat verordneter Druck hinzu. Die zu erreichenden Ziele rechtfertigen damit die Mittel.
Während es denkbar ist, dass die Umkehrung des Trends wenigstens im erzieherischen Bereich sich von den Schülern und Lehrern selbst durchsetzen ließe und damit selbstauferlegt wäre, ließe sich der systematische Entzug von Toleranz gegenüber rückschrittlichen und repressiven Meinungen und Bewegungen nur als Ergebnis eines massiven Drucks vorstellen, was auf eine Umwälzung hinausliefe. …. Ich sagte, dass kraft innerer Logik der Entzug der Toleranz gegenüber regressiven Bewegungen und eine unterscheidende Toleranz zugunsten fortschrittlicher Tendenzen gleichbedeutend wäre mit der »offiziellen« Förderung des Umsturzes.
Somit wird eine Intoleranz der (herkömmlichen) Toleranz befürwortet.
Befreiende Toleranz würde mithin Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links. Was die Reichweite dieser Toleranz und Intoleranz angeht, so müßte sie sich ebenso auf die Ebene des Handelns erstrecken wie auf die der Diskussion und Propaganda, auf Worte wie auf Taten.
… Daß rückschrittlichen Bewegungen die Toleranz entzogen wird, ehe sie aktiv werden können, daß Intoleranz auch gegenüber dem Denken, der Meinung und dem Wort geübt wird (Intoleranz vor allem gegenüber den Konservativen und der politischen Rechten) – diese antidemokratischen Vorstellungen entsprechen der tatsächlichen Entwicklung der demokratischen Gesellschaft, welche die Basis für allseitige Toleranz zerstört hat.
D. A. Carson stellt zu Recht fest:
(Das frühere Toleranzverständnis bedeutete), dass es keine öffentlichen Druckmittel gab, um die Menschen dazu zu zwingen, sich an das zu halten, was sie dachten und was sie in der Öffentlichkeit lehrten. … (Neu aber) bedeutet Toleranz in zunehmendem Maße, dass man in einer Vielzahl von Bereichen nicht sagen darf, dass jemand anders Unrecht hat. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass sie alle gleichermaßen Recht haben, und wenn man jemanden für irgendetwas kritisiert, dann ist man an sich intolerant. Das ist eine gewaltige Veränderung, und es wird sogar öffentlich unredlich. Es führt zu einer Unfähigkeit, offen über Ideen zu sprechen. …
Anstatt sich mit den Ideen auseinanderzusetzen, wird Intoleranz als eine Art “Defeater Belief” präsentiert. Eine verwerfliche Überzeugung ist eine Überzeugung, die, wenn man an ihr festhält, andere Überzeugungen aufhebt. Wenn es also in unserer Kultur eine ganze Reihe von Menschen gibt, die es für falsch halten zu sagen, dass es nur einen Weg zu Gott gibt, und wenn man diese Überzeugung vertritt, dann macht das jedes christliche Zeugnis zunichte, das man vorlegt, weil es bereits als unzulässig gilt. Es ist automatisch unzulässig, weil es zu eng gefasst ist. Es ist eine intolerante Geisteshaltung, und Intoleranz ist an sich schlecht.