Aus der Bindungsforschung (hier):
Nachdem die Trennungs- und Deprivationsforschung vermehrt in den Hintergrund gerückt war, fokussierte eine zweite Generation von Bindungsforschern stärker auf Determinanten einer sicheren Bindung von Kindern bei verfügbaren (nicht abwesenden) Eltern. In diesem Zusammenhang gilt das Konzept der elterlichen Sensitivität bzw. elterlichen Feinfühligkeit als die in der einschlägigen Fachliteratur am eingehendsten diskutierte Thematik. Unter feinfühlig verstand Ainsworth (1977) die Fähigkeit von Bezugspersonen, die kindlichen (Bindungs-)Signale adäquat wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren und letztlich prompt (zeitlich möglichst unverzüglich) sowie angemessensen zu reagieren. Elterliche Sensitivität definiert sich also durch vier zentrale Merkmale: (1) Wahrnehmung: Nimmt die Bezugsperson die kindlichen Bedürfnisse wahr?; (2) Interpretation: Erkennt sie, was der Säugling braucht?; (3) Promptheit: Reagiert sie innerhalb eines für den Säugling wahrnehmbaren Zeitfensters (gemäss Experimentalstudien mit Säuglingen innerhalb von ca. 5 bis 8 Sekunden)?; (4) Qualität des Fürsorgeverhaltens: Geht sie angemessen auf die kindlichen Bindungsbedürfnisse ein? Dabei kann die elterliche Sensitivität nicht als stabile Persönlichkeitseigenschaft aufgefasst werden. Vielmehr wird sie von zahlreichen Faktoren beeinflusst, wie den früheren eigenen Bindungserfahrungen der Elternperson (eigener Bindungsstil), den Eigenschaften des Kindes (insb. leicht irritierbares Temperament) und den situativen Faktoren (allgemeines Befinden und Lebenszufriedenheit, Partnerschaftszufriedenheit, Familiengrösse, Stress etc.).