Zitat der Woche: The Fear of Missing Out

Wahrhaft lesenswertes Interview in der Sonntagszeitung vom 10.12.23:

Frau Pauli, wie geht es der Jugend hierzulande allgemein?

Ich frage mich das jeden Tag: Was ist los mit den Jugendlichen? Es ist wirklich anders geworden: Sie sind psychisch viel belasteter als alle anderen Gruppen – und sie fühlen sich viel einsamer. Bei den Mädchen fühlen sich über 30 Prozent einsam. Depressivität, Angst, Selbstverletzung, Suizidalität: Alle diese Dinge haben zugenommen, das zeigen Umfragen, Statistiken und auch unsere Notfallzahlen.

Woran liegt das?

Ich glaube nicht am Lockdown, der in der Schweiz ohnehin nicht so ausgeprägt war. Den jungen Menschen sind der Sinn und die Hoffnung abhandengekommen und auch das Gefühl für Selbstwirksamkeit. Die Jugendkrise nimmt ja in jeder Generation andere Formen an, und derzeit stehen die Jungen unter enormem Druck – und flüchten sich in passive Bewältigungsstrategien, ins Krankwerden. Sie vermeiden so die Anforderung, die Probleme lösen zu müssen.

Welche Probleme?

Neue Umfragen belegen beispielsweise, dass sie sich in ihrem Körper immer schlechter fühlen. Es geht gar nicht nur ums Dicksein, sondern ums Aussehen insgesamt. Und auch um die Erlebnisse und Beziehungen, die sie haben. Ihr ganzes Leben steht unter dieser «Fear of Missing Out», weil es in den sozialen Medien so ausschaut, als seien die anderen schöner, glücklicher, erfüllter und erfolgreicher. Unsereins hatte solche ungesunden Vergleichsparameter vielleicht einmal in der Woche vor Augen, in einem Film oder Magazin – aber sie haben das 24/7. Die Diskrepanz zwischen der eigenen Realität und den Bildern ist schlicht erdrückend. Gleichzeitig finden die heutigen Jugendlichen im Netz eben auch scheinbare Bewältigungsstrategien: In Foren tauschen sie sich über ihre Ängste, Depressionen oder Selbstverletzungen aus.

Ist das gefährlich?

Dass das Phänomen psychische Belastung enttabuisiert wurde, ist sehr gut. Die heutigen Jungen sind ehrlicher als frühere Generationen; in meiner eigenen waren Alkohol- und Drogenmissbrauch ein typisches Fluchtverhalten. Aber es erstaunt mich schon, wenn eine 11-Jährige zu uns auf die Station kommt und als Erstes den Wunsch äussert, dass «ich täglich auf meine Suizidalität eingeschätzt werde». Sie hatte allerdings jeden Tag rund sieben Stunden mit Tiktok verbracht.

Schadet der weit verbreitete «Psychosprech»?

Vorderhand nicht. Aber wir beobachten, dass der Trend zum offenen Umgang mit Belastungen und Krankheiten damit verbunden ist, die Krankheit als Endpunkt der Story zu verstehen. Man bestärkt einander im Schlechtfühlen. Das ist erst mal tröstend, weil es allen gleich zu gehen scheint. Wenn dann aber der Schritt hin zum Anpacken und Verändern fehlt, bleibt man stecken. Depression zum Beispiel wird auch als «gelernte Hilflosigkeit» beschrieben. Die Sache mit der Ablehnung von Sexszenen in Filmen ist da einer der Punkte, den man ernst nehmen sollte.

Inwiefern?

Die Jugendlichen spüren oft selbst, dass ihnen all die geschönten Bilder um sie herum nicht guttun. In meiner Praxis gab es einige wenige, die gewagt haben, aus Facebook, Instagram, Tiktok usw. komplett auszusteigen, und seither geht es ihnen viel besser.