Kolumne: Unsere Seele haben wir schon verloren

Wir durchleben bewegte Tage. Frankreich steht unter dem Schock des Terrors. Man fragt sich, wann weitere Länder bzw. Städte an der Reihe sind. Mir kommt dazu immer wieder Augustinus‘ monumentale geschichts-philosophische Abhandlung „Vom Gottesstaat“ in den Sinn. Er lebte in einer Zeit des Umbruchs. Das Römische Reich stand vor dem Ende. Einfälle der Goten und Vandalen kündigten den Untergang des Imperiums an. Richtig ungeheuer ist die Argumentation des Kirchenvaters bezüglich geschändeter Jungfrauen. Er überlegt sich, ob das Tötungsgebot („du sollst nicht töten“, 7. Gebot am Sinai) auf die Selbsttötung geschändeter Jungfrauen zutrifft (freiwilliger Tod aus Furcht vor Strafe oder Schande, I,17). Er bejaht dies (keine Schriftstelle gewährt den Christen das Recht des freiwilligen Todes, in welcher Lage immer sie sich finden, I,20). Er beschäftigt sich mit weiteren schwierigen Fragen. (Es wurde den Christen zum Vorwurf gemacht, dass diese Attacken auf das Verlassen der Götter zurückzuführen seien.) Worauf waren die Greuel bei der Eroberung Roms zurückzuführen? Er antwortet: Gutes und Schlimmes trifft zumeist die Guten wie die Bösen (I,8). Doch die Einbuße zeitlicher Güter ist für die Heiligen kein Verlust (I,10). Wenn den Christen die Beerdigung ihrer Leichen versagt blieb, so ist ihnen damit nichts entgangen (I,12). Den Heiligen in der Gefangenschaft mangelte es niemals an Tröstung durch Gott (I,14).

Ich ging durch meine Heimatstadt Zürich und stellte mir die Frage, was es für uns zu verlieren gibt. Mir fiel eine Menge ein. An erster Stelle können wir Schweizer die Ruhe verlieren. Wir müssten unsere stillen Vorgärten und unsere grossen Wohnungen verlassen, unsere sauberen Strassen und stillen Orte aufgeben. Die Infrastruktur kann zerstört werden: Zahlreiche Bauten, das öffentliche Verkehrsnetz und das feinmaschige Netz der Versorgung vor allem mit Lebensmitteln und Energie für Wärme und unsere vielen elektronischen Geräte. Zahlreiche Kulturgüter können beseitigt werden: Kirchen und Museen, alte Häuser, Bilder, Statuen und alte Dokumente. Man kann die Schulen und Unis lahmlegen, Spitäler schliessen. Dies würde die gesamte Stabilität erschüttern: Wir hätten nicht mehr die Gewähr eines funktionierenden Rechtssystems. Die Finanzströme würden zum Erliegen kommen, das Gesundheitssystem zusammenbrechen.

Aus diesen konkreten Überlegungen schloss sich die Frage an: Was heisst dies für unsere Gesellschaft? Erstens sind wir enorm angreifbar geworden. Man kann uns auf jeder Ebene attackieren. Noch gewichtiger wirkt jedoch zweitens die Tatsache, dass wir uns unserer eigenen Wurzeln entledigt haben. Seit 300 Jahren sägen wir an dem Ast, auf dem wir sitzen: Den tiefgreifenden Errungenschaften des christlichen Glaubens. Alles, was ich oben aufgezählt habe, hängt mit dem Glauben an einen persönlich-unendlichen Gott und einer christlichen Ethik zusammen. Nur sind wir uns dessen nicht mehr bewusst. Neue Generationen wachsen heran, welche zwar von den Auswirkungen in Bildung, Gesundheit, Recht und Finanzen profitieren. Doch sie wissen weder mehr, weshalb das so gekommen ist, geschweige denn, worin der christliche Glaube besteht. Drittens wiegt unsere Unfähigkeit und unsere Unwilligkeit zu leiden schwer.

Man mag mir jetzt nachsagen, dass ich Wasser in den Rhein trüge oder alte Clichés auffrische. Doch die Parallele zum Untergang Roms ist nicht abwegig. Sehen wir uns ein paar Symptome an: Wir rennen immer öfter zum Arzt und verschreiben uns immer mehr Schmerz stillende Medikamente. Wir leisten uns immer mehr Rechtsanwälte und kostspielige Händel. Wir bauen einen Wellnesstempel nach dem anderen. Wir decken uns mit vielen Ersatzdienstleistungen für Familie und Kirche ein: Psychologen, Coaches, Berater, Erzieher, Sozialpädagogen, Animatoren und Case Manager. Und wir versorgen uns pausenlos mit Vergnügungen. Viele von uns lenken sich täglich über Stunden mit bewegten Bildern ab.

Sowohl das Alte wie auch das Neue Testament beschreiben eindrücklich den Untergang stabiler Handelsmächte und –systeme. Dies wird klar als göttliches Gericht deklariert. Auch die Begründung wird mitgeliefert. Gott brachte den Stolz von Tyrus zu Fall. „Der Herr der Heerscharen hat es beschlossen, um den Stolz all ihrer Pracht zu entweihen und alle Vornehmen der Erde verächtlich zu machen.“ (Jesaja 23,9) „Die du wohnst am Zugang zum Meer und für die Völker mit vielen Inseln Handel treibst! So spricht Gott der HERR: O Tyrus, du sprichst: Ich bin die Allerschönste! … Als du deinen Handel auf dem Meer triebst, da machtest du viele Länder satt, mit der Menge deiner Güter und Waren machtest du reich die Könige auf Erden. Nun aber bist du zerschmettert, hinweg vom Meer in die tiefen Wasser gestürzt, dass dein Handelsgut und all dein Volk in dir umgekommen ist.“ (Hesekiel 27,3+33f) Ganz ähnlich wird vom Untergang Babylons in der Offenbarung berichtet: „(I)hre Sünden reichen bis an den Himmel und Gott denkt an ihren Frevel. Bezahlt ihr, wie sie bezahlt hat, und gebt ihr zweifach zurück nach ihren Werken! Und in den Kelch, in den sie euch eingeschenkt hat, schenkt ihr zweifach ein! Wie viel Herrlichkeit und Üppigkeit sie gehabt hat, so viel Qual und Leid schenkt ihr ein!“ (Offenbarung 18,5-7)

Man kann sich fragen, ob mit der grossen Flüchtlingsbewegung eine neue grössere Umwälzung beschleunigt wird. Die einen stimmen zu, andere winken ab. Unsere Länder hätten schon andere grosse Einwanderungen problemlos absorbiert. Mir geht es nicht um politische Prognosen, noch weniger um düstere Weltuntergangsszenarien. Vielmehr geht es um die Frage: Lassen wir uns aufrütteln? Besinnen wir uns auf unser christliches Erbe? Es ist mein Gebet, dass wenn uns Böses trifft, wir mit Augustinus sagen können: Die Einbuße zeitlicher Güter ist für die Heiligen kein Verlust. Und: Es mangelt nie an der Tröstung durch Gott.