Man könnte … die befremdliche Frage stellen, ob die moderne Pädagogik wirklich mit Rousseau und nicht schon mit Pelagius beginne.
Genau betrachtet stehen sich in der Kontroverse zwischen alter und neuer Anthropologie und zwischen alter und neuer Pädagogik bzw. Erziehung nicht ein christliches und ein achristliches Denken gegenüber, sondern zwei unterschiedliche christliche Anthropologien und zwei sehr verschiedene Möglichkeiten, die Botschaft des Christentums auszulegen: ob als Lehre, die die Freiheit des menschlichen Willens, die Selbstverantwortung des Menschen und seine Fähigkeit betont, sich durch eigene Taten den Weg zum Heil bahnen zu können, oder als eine Lehre, nach der die Errettung des Menschen einzig und allein Geschenk Gottes ist, bei der der Mensch zwar mitwirken kann, die ihm aber letztlich doch unverdient als Gnade zuteil wird. … Verfolgt man die beiden christlichen Anthropologien auf ihren Ursprung zurück, dann stösst man unweigerlich auf jene grosse Auseinandersetzung zwischen dem asketischen Laienmönch und gebildeten Moralisten Pelagius und dem Kirchenlehrer und Bischof Augustinus.
(…) Völlig zurecht hat deshalb Ernst Cassirer den Streit um die Erbsündenlehre in das Zentrum seiner meisterhaften Darstellung der Philosophie der Aufklärung gerückt. Seit dem Humanismus der Renaissance hatte sich nämlich die Unvereinbarkeit des augustinisch-kirchlichen Dogmas mit dem ‘neuen’ Bild vom Menschen immer klarer herausgestellt, das, ganz im Sinne von Pelagius, vor allem die Fähigkeit des Menschen zur intellektuellen und moralischen Selbstbestimmung betont und der menschlichen Selbsttätigkeit und Eigenaktivität somit einen völlig neuen Wert verliehen hatte.
(…) Hatte der Humanismus der Renaissance die Erbsündenlehre nirgends offen anzugreifen gewagt, so wurde diese Lehre in der Aufklärungsphilosophie geradezu zum gemeinsamen Gegner, in dessen Bekämpfung sich ihre verschiedenen Richtungen verbanden. Hier steht Hume an der Seite des englischen Deismus wie Rousseau an der Seite Voltaires. Mit der aufklärerischen Ablehnung der Erbsündenlehre wurde die Verantwortung für den Menschen und die Welt ganz in die Hände des Menschen gelegt.
Die Autoren ziehen eine beachtenswerte Schlussfolgerung: Die Reformpädagogik sei auf die Gefahr zugesteuert und ihr teilweise erlegen, da ihre Vertreter die pädagogischen Konsequenzen nicht gesehen hätten,
die sich noch für Rousseau aus der Leugnung der Erbsünde ergaben. Wenn die nicht wegzuwischende Faktizität der Bosheit des Menschen und die Existenz des Leides in der Welt nicht als Ergebnis von Adams Sündenfall begriffen, sondern als das eigene Werk des Menschen erkannt werden muss, dann stellt sich die Frage, nach den Möglichkeiten der Vermeidung des Übels schärfer, als sie sich jemals zuvor in der Geschichte gestellt hatte.
(…) Obowohl Rousseaus “Emile” in … nichts anderes darstellt als eine gross angelegte philosophische Demonstration zum Erweis der letztendlichen Unverfügbarkeit von Erziehung und Bildung, haben viele Vertreter der Reformpädagogik Rousseaus Theorie vom guten Menschen und seiner möglichen Bewahrung für bare Münze genommen und sind von daher zu einer masslosen Überschätzung der Macht der Erziehung gelangt. (…) Gegenüber einer unkritischen Wiederbelebung der Reformpädagogik müsste man zu bedenken geben, ob nicht die jahrtausendealte und im Christentum lebendig gehaltene Erfahrung der menschlichen Endlichkeit, Gebrechlichkeit und Gefährdung gerade heute neu entdeckt und wieder betont werden müsste.
Winfried Böhm/Frithjof Grell. Reformpädagogik und Christentum – ein problematisches Verhältnis, in: Winfried Böhm. Jürgen Oelkers (Hrsg.) Reformpädagogik kontrovers. ERGON-Verlag: Würzburg 1995. (75-87)