Calvin setzt sich im zweiten Buch seiner Institutio mit der Frage auseinander, inwieweit Verstand und Wille des natürlichen Menschen durch die Sünde beeinträchtigt worden ist.
Die aus Augustin entlehnte allgemein angenommene Meinung, nach welcher im Menschen die natürlichen Gaben durch die Sünde verderbt, die übernatürlichen Gaben dagegen ganz und gar ausgetilgt sind, findet meine Zustimmung. …
Denn es bleibt zwar ein Rest (residuum) Verstand und Urteilskraft (iudicium) samt dem Willen bestehen; aber wir können doch nicht sagen, das Gemüt (der Verstand) sei unversehrt und gesund, denn es ist schwächlich und mit viel Finsternis umhüllt; außerdem ist die Verkehrtheit des Willens mehr als genugsam bekannt. …
Es würde nun nicht nur dem Worte Gottes, sondern auch der allgemeinen Erfahrung (sensus communis experientia) zuwiderlaufen, wenn man den Verstand in der Weise zu dauernder Blindheit verdammt sähe, daß ihm keinerlei Erkenntnis irgendwelcher Dinge verbliebe. Denn wir sehen, daß dem Menschengeist irgendein Verlangen eingepflanzt ist, nach der Wahrheit zu forschen, und solches Trachten nach der Wahrheit wäre unmöglich, wenn er nicht schon zuvor eine Ahnung von ihr hätte. …
Der Menschengeist kann in seiner Schwachsichtigkeit den rechten Weg zum Suchen nach der Wahrheit nicht innehalten, sondern verliert sich in mancherlei Irrtümer, strauchelt oft, da er wie im Finstern umhertappt, bis er schließlich, müde vom Umherstreifen, zerflattert. So zeigt er gerade über dem Suchen nach der Wahrheit, wie unfähig er ist, sie zu suchen und zu finden.
Johannes Calvin. Institutio, II,2,12