Die Entwicklung der Gnadenlehre bei Augustinus

Augustin führte das Thema Gnade als das eine neue grosse Dogma ein, das die Lehrentwicklung der abendländischen Kirche vom griechischen Osten unterscheidet und an dem sich das Abendland in der Reformationszeit kirchlich spaltet.

Augustin hat die Verstehenskategorien dieser Lehre nicht von Anfang an gehabt. „Wer deswegen meine Werke liest, soll sich nicht an das hängen, wo ich Irrtümer begehe, sondern daran, wo ich Fortschritte gemacht habe, wenn er meine Werke in der Reihenfolge liest, in der sie geschrieben sind.“

1. Zeit bis zur Begegnung mit pelagianischen Fragen (411)

In dieser Zeit entwickelt A. zwei Konstanten seiner Gnadenlehre, von denen er keine zurücknimmt. Auf der einen Seite (gegen die Manichäer) den freien Willen, insofern er Ursprung der Sünde ist. Darüber hinaus entdeckt er, dass auch der Glaube selbst ein Geschenk der Gnade ist (was er noch in seiner Römerbriefauslegung von 395 nicht gewusst hat: „Ich dachte irrtümlich, dass auch der Glaube, durch den wir an Gott glauben, nicht ein Geschenk Gottes ist, sondern in uns durch uns selbst.“)

Die Erbsünde ist da, wohl auch das Gesetz, das nicht befreit. Aber Gnade ist dem Wollen des Guten nachgestellt, als die Verwirklichung des kraftlosen Willens menschlicher Freiheit (der Ausruf von Paulus in Röm 7,24f versteht er als noch nicht unter der Gnade). Die Perspektive verschiebt sich, als A. sich der Interpretation von Röm 9,10-29 zuwendet: „Jedoch ist es klar, dass wir umsonst wollen, wenn sich Gott nicht erbarmt; aber ich weiss nicht, wie man sagen könnte, Gott erbarme sich umsonst, wenn wir nicht wollen. Wenn Gott sich nämlich erbarmt, wollen wir auch. Folglich fällt es auch unter das Erbarmen Gottes, dass wir wollen.“

Die Berufung nach Mt 20,16 geschieht den Vielen in einer Weise, dass sie zwar berufen sind, aber unfähig, der Berufung zu folgen. „Es liegt bei Gott, ob die Berufung zum Ziel kommt oder nicht.“

 2. Bestreitung pelagianischer Lehren in Karthago und Sizilien (411-415)

Augustin versteht die Taufe als Vergebung von Sünde und verteidigt diese Auffassung an dem Fall der Neugeborenen als dem Fall par excellence, an dem sich der jetzige Zustand der sündigen Menschheit offenbare (Röm 5,12). Es gehe hierbei um Ur- oder Erbsünde, nicht um Tatsünden.

Zudem grenzt A. die Wirkung des Gesetzes gegenüber der Gnade genauer ab: „Ich weiss auch nicht, wie es geschieht, dass das, was begehrt wird, noch anziehender wird, wenn es verboten wird.“

Schliesslich ist sich A. darüber klar, dass der Wille des Menschen niemals aufgehoben wird. Es bleibt ein Akt des menschlichen Willens, Gottes Berufung zuzustimmen oder nicht.

3. Direkter Angriff auf Pelagius/Fortsetzung des Kampfes gegen Julia von Aeclanum (415 – 425)

 A. widerlegt zwei Schriften von Pelagius: Er will die Erkenntnis ganz auf die Seite des Gesetzes schieben, die das Geforderte und zu Liebende äusserlich vorhält. Er verneint also, dass der menschliche Wille von sich aus das Gute ergreift, auch wenn es ihm angeboten wird. Die Erkenntnis des Guten wirkt also noch nicht von sich aus, dass das Gute auch gewollt und geliebt wird. Das Gesetz erschreckt, aber befreit nicht zum Wollen des Guten.

 4. Auseinandersetzung mit den Semipelagianern (425 – 429)

Der Mensch will, aber Gott gibt das Wollen; der Mensch vollbringt die Werke der Gerechtigkeit, aber sie sind Gottes Geschenk. „Gott selbst wirkt den Anfang, dass wir wollen, und wenn wir den Willen haben, vollendet er durch Mitwirken.“

Gnade ist in ihrer vollkommenen Unverdientheit also nichts anderes als Prädestination.

Für Augustin ist also Gnade ein freies Geschenk Gottes, wobei man sowohl Geschenk als auch Gnade unterstreichen muss.

Aus: Carl Andresen (Hg.), Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Vandenhoeck und Ruprecht 1983.

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