Abraham Kuypers (1837-1920) Antrittsrede als Pfarrer einer Amsterdamer Gemeinde 1869 ist kürzlich in die englische Sprache übersetzt worden. Worin liegt der Nutzen einer solchen Übersetzung über das kirchengeschichtliche Interesse von Theologen hinaus? Trotz seinen Erfolgen auf den Feldern der Hochschulpolitik und der nationalen Politik war die Kirche stets ein Anliegen Kuypers geblieben, der seine ersten Jahre als Pfarrer dreier Gemeinden amtete. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte sich angesichts der Frage des technologischen Fortschritts, der zunehmenden Macht des Staates, dem Aufkommen der Demokratie und dem religiösen Pluralismus die Frage: Was ist die Kirche? Was ist ihre Stellung in der sich schnell weiter entwickelnden Gesellschaft? Sie brauchte eine neue Form der Legitimation. Eine „Volkskirche“ war sie – obwohl so genannt – je länger je weniger. Vereinnahmt vom allmächtigen Staat und dem alles durchdringenden Markt der Güter, war die Kirche „etwas verwirrt auf der Bank des Therapeuten“ gelandet (Pos. 160).
Kuyper stellt gleich zu Beginn die Frage: Streitet die Orthodoxie (Rechtgläubigkeit) für ein Lebensprinzip oder bloss für einige Auswirkungen dieses Lebensprinzips? Kuyper sieht zwei Prinzipien einander gegenüber stehen: Ewige Erwählung auf der einen und Humanismus auf der anderen Seite. Zwischen diesen beiden Polen sah er die Bedeutung der Kirche hin und her schwanken. Auf denen Seite riefen die einen danach, dass die Kirche in die Gesellschaft hinein fliessen sollte (Überbetonung des Organismus), auf der anderen Seite wurden klare Strukturen wie die der katholischen Kirche angepeilt (Überbetonung der Organisation). Während erstere schrien „weg mit der Kirche als Institution!“, meldeten letztere: „Die Kirche muss vorrangig zur straffen Organisation werden.“ Kuyper plädierte für einen dritten Weg. Die Kirche musste nicht nur von der Erstarrung in einer Form bewahrt werden, sondern auch vom Spiritualismus. Denn dadurch würde sie sich in der Gesellschaft verlieren. In Anlehnung an Eph 3,17 hatte die Kirche beides zu bleiben: Als Organismus musste sie unmittelbar in ihrem Schöpfer gewurzelt sein. Aus dieser Beziehung würde sie ihre Kraft beziehen. Doch das Wachstum der Kirche hatte in geordneter Form zu geschehen, darum die Ergänzung „aufgebaut“. Kuyper stellte Rolle und Bedeutung der Kirche in ihrer doppelten Form dar: Sie war nicht nur Leib (Organismus), sondern auch Haus, durch Menschenhände gebaut. Die verborgene mystische Form und ihre äussere Erscheinung dürfen nicht voneinander werden, weil sie in einer wechselseitigen Beziehung stehen.
Wenn Kuyper von der Kirche als Organismus sprach, fügte er gleich hinzu: „Eden wurde gepflanzt, aber die Menschheit kultivierte den Ort.“ (366) Dies sei das grundsätzliche Prinzip der Schöpfung. Das Potenzial lag bereits im Garten Eden verborgen, die Entdeckung und Entwicklung erfolgte durch Menschenhand im Lauf der Zeit. Dabei musste im Bewusstsein bleiben, dass unsere menschlichen Hände der Vergänglichkeit unterworfen sind. Zudem werden wir stets daran erinnert, dass die Entwicklung durch den Sündenfall verlangsamt, gedämpft und verzerrt wird anstatt ungehindert zu blühen. Das Leben der Kirche ist in sich ein Wunder, ein Einbruch des Himmels auf diese Erde. Wer immer dieses Wunder (wie die Wunder im Generellen) in Abrede stellt, dem musste die Kirche jeder Bedeutung verlustig gehen. Die Kirche wurzelt in der ewigen Erwählung. Darum kann sie nicht „hergestellt“ werden wie andere Güter dieser Erde.
Der Charakter des Organismus prägte in den ersten Jahrzehnten und Jahrhunderten die Kirche. Je länger sie aber bestand, musste sie sich durch eine bestimmte äussere Form von ihrer Umgebung unterscheiden. Wort und Sakrament bildeten die Parameter ihres Baus. Die Kirche darf darum nicht als „Vereinigung von Gleichgesinnten“ (487) missverstanden werden. Sie würde nicht imstande sein zu nähren, wo keine Regelmässigkeit und keine Ordnung herrschen. Nahrung setzt beide Prinzipien, Organismus und Organisation, voraus. Als Organisation wirkt die Kirche auf den Einzelnen, strukturell auf die Familie und direktiv auf die Gesellschaft ein. Eines ihrer Vehikel ist die Schule. (Hier entfaltet Kuyper das Gesellschaftsbild der Neokalvinisten.) Dabei musste im Gedächtnis bleiben: In der gegenwärtigen Heilszeit bleibt die Kirche stets ein unfertiges Bauwerk, das im Bild gesprochen von einem Gerüst umgeben ist. In ihrer fertigen Gestalt – ohne Gerüst – würde die Kirche erst in der Zukunft erscheinen. „Lass die Sünde ausser Betracht, und die Kirche bleibt unvorstellbar, denn die Welt würde dann selbst die Kirche sein.“ So bald Menschen Wunder in Abrede stellten, verlor die Kirche ihren übernatürlichen Charakter und wies keine andere Lebenskraft auf als die sie umgebende Welt. Im besten Fall würde sie noch über eine gewisse moralische Prägekraft verfügen. Wer hingegen mit Gottes übernatürlicher Kraft rechnet, für den wird die Kirche zu einem Ort der Kraft, an der die Soldaten des Allmächtigen für die Schlacht des täglichen Lebens gestärkt werden.
Kuyper kommt nicht ohne warnendes Wort gegen den Individualismus aus: Wer nur die Rettung einzelner Seelen im Kopf habe, dränge die Menschen an den Punkt der Bekehrung und überlasse sie dann sich selbst. Sobald dieses Ziel erreicht ist, wendet man sich auf die nächsten „Bekehrungsobjekte“. Kuyper sieht das Monster des Heilsindividualismus als Parallelerscheinung zur gesellschaftlichen Entwicklung. Im Kampf um die Freiheit der Kirche erschallen drei Imperative: Kuypers freie Kirche musste von drei Banden gelöst bleiben, nämlich vom Geld und der damit einhergehenden geistlichen Lethargie; zweitens vom kirchlichen Zentralismus (Kuypers Ideal sah eine sich selbst verwaltende Ortsgemeinde vor) und drittens vom Einfluss des Staates.
Auch wenn uns Vokabular und Metaphern gewöhnungsbedürftig vorkommen mögen, beinhaltet diese Rede Kuypers einige wichtige Lektionen für uns heute. Immer wieder stellt sich die Frage: Ist die Kirche Organismus, oder ist sie Organisation? Der eine Aspekt darf nicht gegen den anderen ausgespielt werden. Spiritualistische Strömungen ebenso wie die Ablehnung jeder äusseren Form lauern als Gefahren in manchen evangelikalen Kreisen. Gemeinden verlieren sich durch die fehlende Form in der Welt. Auf der anderen Seite droht die formalistische Erstarrung. Ebenso droht permanent die Frage „Naturalisierung“ der Kirche. Wer die übernatürliche Kraft Gottes in Abrede stellt, verleugnet das zentrale Momentum jeder Kirche. Wer ihre übernatürliche Kraft in Abrede stellt, verwandelt sie im Nu in einen Verein oder eine soziale Einrichtung. Ebenso schädlich wirkt ihre Vergeistlichung: Wer die Kirche „idealisiert“ und sie in der Gegenwart bereits als vollendetes Gebäude sehen will, blendet den Einfluss der Sünde aus und wird über kurz oder lang in seinem perfektionistischen Anspruch enttäuscht.