Der Begriff des Wertes ist ein außerordentlich gefährlicher und problematischer Begriff. Denn “Wert” ist immer das, was jeweils als Wert gesetzt, als Wert gemeint ist und ist als Wert im Prinzip interpretationsbedürftig. Eine Politik, eine Republik oder auch Europa, das versuchen würde, sich auf Werte zu gründen, würde damit einen Interpretationskampf als die Substanz der Politik um die Auslegung dieser Werte eröffnen. … Die Durchsetzung von Werten ist ein Machtkampf, d.h. der Begriff der Werte ist keineswegs so harmlos, wie wir häufig tun, weil die verantwortlichen Politiker, wenn nicht von Wirtschaft, Wachstum und wissenschaftlicher Rationalität die Rede ist, im düsteren Nebel des Geredes von den Werten versinken. Dann ist alles “Wert”, dann ist die Familie ein Wert, dann ist der Staat ein Wert, dann ist die Kirche ein Wert, dann ist der Glaube ein Wert, dann ist die Moral, die ich bevorzuge, eine abhängige Größe von der Wertpräferenz, die ich getroffen habe. Dieses Auseinanderfallen zwischen einem pragmatisch-rational bewältigbaren Sachbereich der Gesellschaft und das Versinken aller religiösen, moralischen Substanz im Nebel des Wertbegriffs ist die eigentliche tiefere Ursache für die Entwicklung, die unsere Gesellschaft genommen hat.
Günter Rohrmoser, Kann es ohne Christentum Europa überhaupt geben?