Buchbesprechung: Querbeet durch Calvins Werk

Michael Horton. Calvin on the Christian Life: Glorifying and Enjoying God Forever (Theologians on the Christian Life). Wheaton: Crossway, 2013. 272 Seiten. Euro 8,94 (Kindle-Version).

“Piety” (pietas), not spirituality, is the Reformer’s all-encompassing term for Christian faith and practice. (Pos. 187-188)

Doctrine, worship, and life are all of one piece. The doctrine is always practically oriented, and practice is always to be grounded in true doctrine. (191-192)

Calvin also shared with Reformers like Luther and Bucer a deep conviction that sound doctrine is the soul of piety, not an intellectual game. (652-653)

Warum querbeet durch Calvins Werk?

Das hätte ich von diesem Buch nicht erwartet: Dass es dem Autor Michael Horton nicht nur gelingt, seine Begeisterung für das umfassende Werk Calvins weiterzugeben, sondern dass er es in der kurzen Zeit (rund 250 Seiten) schafft, das Werk Calvins zu durchstreifen. Das ganze Werk? Diese Serie widmet sich doch der Sicht des christlichen Lebens. Gleich sind wir beim ersten Lernpunkt: Lehre und Leben schließen einander nicht aus, sondern sind ineinander verzahnt. Eben diese Einsicht und das Leben darin macht dieses Buch so wertvoll. Es vermittelt uns eine Sichtweise, die uns weitgehend abhanden gekommen ist. Es ist darum das dritte Werk in der Reihe "…on the Christian Life", das ich innerhalb von wenigen Monaten gelesen habe.

Bitte nochmals: Wo seid ihr überall durchgegangen?

Ähnlich einem Spaziergänger, der von einem Führer durch verwinkelte Gassen an geheime Plätze geführt wird, stellte sich mir oft die Frage: Wo genau stecken wir? Es erhöht den Lesegenuss beträchtlich, über den Verlauf der Tour informiert zu bleiben. Also: Zuerst muss die Sichtweise der pietas Calvins erläutert werden. Es ist ein zentraler Begriff für sein gesamtes Werk. Lehre, Anbetung und Leben sind ein Gesamtes. Im zweiten einleitenden Kapitel muss Horton das tun, was vermutlich jede Calvin-Publikation bewerkstelligen muss. Sie muss den Reformatoren aus dem Gestrüpp der Vorurteile befreien. Dann legt Horton mit dem Kernstück des Buches los. In den restlichen 12 Kapiteln fliegt er durch das gesamte Werk Calvins. Natürlich beginnt er programmatisch beim Leben vor Gott und eröffnet mit den ersten Zeilen der Institutio. Im zweiten Teil widmet sich Horton der Christologie, genauer Christus, dem Mittler, und der Einheit des Gläubigen mit Christus. Der dritte Teil taucht in das Leben im Leib Christi ein, wozu der Gottesdienst als das "himmlische Theater der Gnade", das Gebet als vornehmste Übung des christlichen Glaubens und die Identität der Gemeinde Gottes als seine neue Gesellschaft (new society) gehören. Fast hätte ich es vergessen: Die Abhandlung über Gesetz und Freiheit ist ein weiteres wichtiges Kapitel dieses Teils. Im vierten Teil geht es um das Leben in der Welt: Kirche und Staat, die Berufung des Christen und das Leben aus der Sicht der Ewigkeit. Viel Inhalt für wenig Seiten.

Ein falsches Calvin-Bild zurechtrücken

Ich kann es mir nicht verkneifen, einige Zeilen dem Calvin-Bild zu widmen. Calvin, so betont Horton, war in erster Linie kein originärer Denker, sondern einer, der das Beste der Patristiker und des Mittelalters zusammentrug und es – nicht zu vergessen – mit dem Maßstab des Wortes Gottes prüfte (619). Horton fügt als weitere prägende Merkmale des Reformatoren das Prinzip "Unterscheidung, aber keine Trennung" sowie seine Pionierarbeit als Bundestheologe dazu (755ff). Calvins "Leitstern" war stets der absolute Vorrang der Herrlichkeit Gottes. Das bewirkte Demut beim Reformatoren, so dass er, der sehr spärlich mit biografischen Begebenheiten umging, am meisten noch seine eigenen Unzulänglichkeiten erwähnte (261). Er brachte deshalb großes Verständnis für alle auf, die versagten, nie aber für diejenigen, welche Gottes Wort nicht ernst nahmen. Welcher Despot hätte je ernsthaft seine Untertanen gefragt, ob er die Grenze seiner Autorität überschritten hätte (408)?

Gelernt

Am besten gebe ich hier einen beispielhaften Einblick auf das reichhaltige Buffet. Welche "Speisen" haben mein besonderes Interesse geweckt?

  1. Die Priorität des öffentlichen Dienstes: "Private Disziplinen sind wichtig, aber der öffentliche Dienst der Kirche ist wie ein Brunnen, von dem Gottes Gaben zu den Familien und Individuen und dann durch diese in die Welt fliessen. Private Frömmigkeit ergibt sich aus der öffentlichen, nicht umgekehrt." (750-752)
  2. Das Zerrbild über Calvin hat dazu geführt, dass "vor lauter Gott" kein Raum mehr für Menschen übrig bleibt. Weit gefehlt! (801) Doch das Prinzip bleibt stets, dass der transzendente Gott sich zu uns niederlässt, nicht dass wir zu ihm durchdringen! (982)
  3. Die Trinität als Herzstück: "Die Trinität ist für Calvin nicht einfach ein Dogma, an das wir uns halten, sondern das Herz der Realität, in der wir leben, uns bewegen und in dem sich unser Sein abspielt." (1187)
  4. Die Vorsehung als Lebenslinie: Horton vergleicht die Lehre der Vorsehung mit der Lebenslinie, an der wir uns bei Gegenwind halten können. Ein schönes Bild! (1364)
  5. Gegen weltentfremdete Mystik: Wer sich Gottes Angesichts erfreuen will, der blicke zur Erde. (1391)
  6. Auswirkung des Bewusstseins von Gottes Souveränität: Die Betonung von Gottes Souveränität soll das Gewissen beruhigen, nicht ängstigen. (1440)
  7. Die Bedeutung der Christologie: Jesus ist nicht eine Sprosse, sondern die Leiter selbst. (1791)
  8. Göttliches und Menschliches: Wer das Göttliche von dem Menschlich-Geschaffenen trennt oder es gar gegeneinander setzt, führt weg von dem Gott, der in Christus zu uns gekommen ist, das äussere Wort, und den Sakramenten." (1829)
  9. Keine Reinheit: Unglaube ist bei jedem Christen mit Glauben vermischt. (2126)
  10. Die Wichtigkeit der Rechtfertigung: Es ist der wichtigste Artikel des Glaubens, das Scharnier, an dem die Religion hängt, der prinzipielle Artikel der gesamten Lehre der Errettung und das Fundament aller Religion, die Summe der Gottesfurcht. (2167-2170)
  11. Das geistliche Leben als Bankett: "Calvins gesamte Theologie kann zusammengefasst werden als "eucharistisch" – ein Leben der Dankbarkeit, gekennzeichnet durch ein Fest mit dem dreieinen Gott und untereinander. (2297)
  12. Das gepredigte Wort: "Das Predigen des Wortes ist mehr als die Gedanken des Predigers, Ermutigung, Rat und seine leidenschaftliche Bitte. Durch die Lippen des sündigen Predigers richtet, rechtfertigt, versöhnt, erneuert und verwandelt der dreieine Gott Menschen in sein Bild. (2616)
  13. Die Bedeutung der beiden Sakramente Taufe und Abendmahl: "Die Sakramente sind zuerst und vorwiegend Gottes Zeugnis gegenüber uns, und zweitens dienen sie unserem Zeugnis vor den Menschen." (2790-2791) 
  14. Der Gottesdienst ist ein Mittel, uns mehr und mehr mit Christus und durch ihn miteinander zusammen zu binden. Er ist ein "himmlisches Theater". (3228)
  15. Es gibt keinen einsamen Pilger, sondern eine Gemeinschaft der Heiligen, die unterwegs zur himmlischen Stadt sind, umgeben von einer Wolke von Zeugen. (3501)
  16. Emotionen können nicht eliminiert werden, ohne Gott selbst zu beleidigen. Calvin würde unsere Gottesdienste nicht als zu emotional, sondern als zu schmal für das gesamte Repertoire unserer Emotionen einschätzen. (3533)
  17. Mit den Reformatoren Luther und Calvin veränderte sich der Stellenwert der Ehe und die Sicht auf dieselbe. Beide sahen sie nämlich als Bund der Liebe statt als bloßes soziales Arrangement. Sie thematisierten auch die Wiederheirat und den Missbrauch der Ehefrauen. (4109)
  18. Die Kennzeichen der wahren Kirche finden sich nicht in sich selbst, sondern im Dienst des Wortes, durch den Menschen zum Leben erweckt, genährt, zum Wachstum angeregt werden und durch den sich die Botschaft bis ans Ende der Erde ausbreitet. (4392)
  19. Calvin war bestrebt, lieber weniger und mehr im Sinne von moralischer Anweisung vorzugeben, um ein geplagtes, gepeinigtes Gewissen, wie es bei vielen Katholiken und Wiedertäufern zu finden war, zu vermeiden. (4516)
  20. Calvin beklagte sich, dass die Gastfreundschaft im Vergleich zu den ersten Jahrhunderten des Christentums fast zum Erliegen gekommen sei. (4589)
  21. Nichts darf aus Eigennutz getan werden. Wir sind für Gott und füreinander geschaffen – in einem Bund. Wer nur auf die eigenen Potenziale und das eigene Wachstum sieht, nimmt sich selbst aus dem Kreislauf von Gottes Gaben. (5375)
  22. Gerade weil der Christ nicht zu viel von dieser traurigen Welt erwartet, kann er zuversichtlich seine täglichen Pflichten in Angriff nehmen. (5476)
  23. Calvin setzte seinen Fokus auf den Glauben des Christen und seine Liebe zu seinen Nachbarn eher als auf seinen transformierenden Einfluss. (5513)
  24. Wer sein Leben hingibt und nicht länger Sklave der Versprechen von Gesundheit, Wohlstand und Glück ist, wird frei, um die Gaben des großzügigen Vaters zu genießen, was zur Dankbarkeit führt. (5921)
  25. Die Rechtfertigung der Heiligen wird voll realisiert bzw. ihre Effekte voll und öffentlich in der Auferstehung und Verherrlichung realisiert.

Fazit

Horton macht kein Geheimnis daraus, dass er von Calvin begeistert ist und ihm lehrmäßig weitgehend folgt. Besonders spannend sind deshalb seine Ausführungen zum Abendmahl. Es ist nicht das erste Sekundärwerk, das ich zu Calvin gelesen habe. Bei mir vertiefte sich der Eindruck, dass Calvins Theologie der Realität meines Lebens im 21. Jahrhundert in einer städtischen Gegend in einem säkularisierten Teil der Welt sehr nahe kommt bzw. fruchtbare Impulse vermittelt. Das christliche Leben ist keine weltentfremdete, von einigen emotionalen Momenten abhängige Übung eines Einzelgängers. Nein, sie ist durch Christus in der Ewigkeit verankert und darum in der Realität des Alltags hingegeben, kraftvoll, freudig und zielorientiert!

Besonders wertvoll sind die zahlreichen Zitate aus dem Werk Calvins, vorrangig aus den Kommentaren und der Institutio. Eigentlich bietet es sich an, ein zweites Mal durch das Buch zu gehen und bei dem einen oder anderen Zitat zu verweilen oder gar eine Sammlung anzulegen. Häufig nimmt Horton zudem Bezug auf den niederländischen Calvin-Forscher Selderhuis und sein Werk über Calvin und die Psalmen, "Gott in der Mitte". Das steht auf meiner Leseliste.