Bernhard Rothen schreibt am Ende seiner Studie zu Karl Barth:
Barth hat die Lehre von der Gnadenwahl an den Anfang seiner Dogmatik gestellt (KD II). Unter dieser Voraussetzung der alles bestimmenden Gnade entfaltet er dann die Lehre von der Schöpfung (KD III) und der Versöhnung (KD IV). „Gnade” sollen wir also nicht primär zu verstehen lernen als die Vergebung, als die Annahme des schuldig gewordenen und verunehrten Menschen, als die Liebe, die den Sünder und Ungetreuen wieder einsetzt in seine verlorene Würde und ihn aufrichtet und reinigt (vgl. Lk 15,11 ff.). „Gnade” wird bei Barth viel allgemeiner definiert als die Herablassung und die ungeschuldete Zuwendung Gottes zum Menschen. Ihr Ziel ist nicht primär die Überwindung der Sünde, sondern – scheinbar! – viel umfassender die Stiftung der Gemeinschaft von Gott und Mensch. Immer deutlicher wird darum in der Kirchlichen Dogmatik der Begriff des Bundes zum beherrschenden Moment.
Barth liegt zunächst daran, sich von einer abstrakten Gnadenreligion abzugrenzen. Das spezifisch Evangelische sieht er nicht in der Betonung der Gnade, sondern es ist mit dem Namen Jesus Christus gegeben, mit dem durch den Immanuel geschlossenen Bund. Nun aber betont Barth darüber hinaus, daß schon dieser Bund als Gnade zu verstehen sei, daß schon dieser ursprüngliche Wille Gottes barmherzige Liebe sei. Barth löst also den Begriff der Gnade aus dem Versöhnungsgeschehen heraus und läßt ihn viel allgemeiner bestimmt sein durch eine Gott zugeschriebene uranfängliche Neigung. Die „ewige, freie und beständige Gnade” ist „der Anfang aller Wege und Werke Gottes.”
Die ewige Erwählung und Bestimmung des Menschen wird z.B. Eph 1,4f. und Rom 8,28-39 als ein Werk der Liebe Gottes bezeichnet. Barth will diese Liebe aber sogleich definiert haben als das Werk der gnädigen Liebe. Er nimmt so den für das Versöhnungsgeschehen prägenden Begriff und läßt ihn das ganze Tun Gottes beherrschen.
… Zur größeren Ehre Gottes, aber ebenso zur größeren Ehre des Menschen beharrt also Barth auf der Bindung an die „Gnade allein”. Kein anderes als sie soll den Menschen bestimmen, soll seine Möglichkeiten begrenzen: keine vorfindlichen Gegebenheiten, kein abgeklärter Realismus, kein gutschweizerischer Pragmatismus … einzig die freie Gnade! Höheres, mehr darf der Mensch also von sich und von seinen Mitmenschen erwarten! Wahrhaft revolutionär gilt es für ihn zur ursprünglichsten, zur letztlich einzig maßgebenden Bindung zurückzukehren. (191)
… Barth ist nicht nur der Reformation, sondern er ist – wie mir scheint weit mehr – auch dem religiösen Sozialismus und dem kritischen Idealismus verpflichtet. Die „Gnade allein”, „das Wort” des Christusgeschehens, das er gegen die „Natur” stellt, ist geprägt auch vom „Begriff”, den Hegel und Marx dem Naturrecht und dem Offenbarungspositivismus entgegengestellt haben. (192)
Bernhard Rothen. Die Klarheit der Schrift. Karl Barth – eine Kritik. V & R (1990).