Die Phase jenseits der Lebensmitte ist von einem beschleunigten Realisieren der eigenen Begrenztheit geprägt. Klar, die einen mögen sie mehr realisieren als die anderen. Einige haben zum Beispiel einen schweren Unfall hinter sich, leiden an einer chronischen Krankheit oder sind durch eine schmerzhafte Trennung von ihrer Familie gegangen. Die suggestive Kraft der Werbung, die uns dauernd umgibt und unsere innere Erlebenswelt mitformt, möchte uns weismachen, dass wir ewig jung bleiben und uns nur für die eine oder andere Option zu entscheiden bräuchten.
Das Jahresende markiert für mich den Punkt, mich meinen Grenzen vor meinem Schöpfer bewusst zu werden. Dies beinhaltet mehrere Aspekte.
- Be-Grenz-ung: Im Unterschied zu unserem Erfinder ist unser Körper mit einem Verfalldatum versehen. Unsere Begabungen und Kräfte sind endliche Güter. Die Wahrnehmung einer Option ist die Entscheidung gegen viele andere Möglichkeiten. Diese Endlichkeit der Geschöpfe wäre übrigens auch ohne Sündenfall Tatsache gewesen!
- Schwachheit: Ein mit der Begrenzung zusammenhängender Aspekt ist die Schwachheit. Es gibt spezifische Schwächungen, die z. B. mit dem Alter zusammenhängen. Die Sehschwäche fällt darunter. Weniger offensichtlich ist die unterschiedliche Veranlagung des Menschen. Einige scheinen weniger widerstandsfähig gegen physische oder psychische Hindernisse zu sein als andere.
- Sündhaftigkeit: Zwar ist die Schöpfung auf Entwicklung angelegt. Doch die Überheblichkeit des Menschen bestand gerade darin wie Gott sein zu wollen. Die gesamte Schöpfung seufzt seit dem Fall des Menschen unter einer Last. Krankheiten sind die Folge von Sünde. Damit meine ich keineswegs immer individuelle Sünde, sondern das Resultat der Gefallenheit der gesamten Schöpfung.
So neige ich wechselweise auf zwei Seiten zu kippen. Die erste, mir geläufigere «Fall-Seite» lautet «Mehr wollen als geht». An die Grenzen zu gehen und zu trainieren ist eine hilfreiche Fähigkeit. Während dies viele auf der körperlichen Seite tun – Viktor Frankl redet von der modernen Askese aufgrund des Sinnvakuums – teste ich meine Begrenzung mehr auf der intellektuellen Seite. So liegen in meiner virtuellen Schublade wohl fünf angefangene Bücher. Ab und zu öffne ich diese Schublade und seufze, um dann von meiner Frau daran erinnert zu werden, dass es unterschiedliche Jahres-Lebens-Zeiten gibt. Mich tröstet die Aussicht, dass ich spätestens in der zukünftigen Welt diese Gedanken weiterentwickeln werde. Vielleicht auch früher.
Doch leider gibt es noch eine zweite «Fallseite». Anstatt die Begrenzung zu übersteuern suchen verweigere ich das, was vor Füssen liegt. Ich re-signiere, enthalte also meine Unterschrift dort vor, wo ich sie hätte geben müssen. Ich bin nicht bereit, die Ver-Antwort-ung nicht übernehmen. Typischerweise geschieht das dort, wo sie am angebrachtesten gewesen wäre, nämlich bei meinen Nächsten.
Mein Gebet: Lass mich meine Grenzen respektieren, mich meiner Schwachheit rühmen (denn dort wird Er besonders mächtig) und meine Sünde hassen. Gewähre mir Raum für das, was realisiert werden möchte. Und hilf mir bis dahin, das anzupacken, was jetzt vor Füssen liegt.