Wie kommt es, dass sich durch das Vakuum des ethischen Relatvismus eine neue gesellschaftliche Hypermoral festsetzen kann (siehe dieses Zitat)? Es lohnt sich Alexander Grau in dessen kurzem Buch “Hypermoral” – vom Format philosophische Thesenverteidigung im Feuilletonstil – weiter zu folgen.
Grau stellt die (biblisch nicht abstützbare) These auf, dass eine Ethik sich eine überweltliche Legitimation holen musste.
Das Christentum verbannte das Göttliche aus der Welt, erklärte das Diesseits zum sündigen Jammertal und versprach individuelle und kollektive Erlösung im Jenseits. Darin liegt seine Pointe. … Indem es Gott entkörperte und in die Transzendenz abschob, stiftete es eine ethische Ordnungsvorstellung, die mit der menschlichen Vernunft fassbar war, persönliche Erlösung versprach und Herrschaft als gottgegeben rechtfertigte.
Treffsicher analysiert er dann, wie seit der Aufklärung andere Götter an die Stelle Gottes gesetzt wurden.
Gott erwies sich als austauschbar. Beispielsweise durch die Natur, durch das Wesen der Menschen oder die ethische Vernunft. Im Gestalt des säkularen Priesters versuchten Intellektuelle seit der Aufklärung, Gott durch Instanzen zu ersetzen, die den frei geworden Platz einer universalen und rationalen Moralstiftungsinstitution zu übernehmen versprachen. … (Dadurch) wurde aus der biblischen Apokalypse am Ende der Zeiten die diesseitige Apokalypse – der blutige Krieg der Ideologien im Namen des Guten.
Allerdings erhebt die Hypermoral den Anspruch, die Überwinderin aller Ideologien zu sein. Deshalb verbindet sich mit ihr ein absoluter Anspruch:
Aus der Überwindung aller Ideologie wird eine Hyperideologie, die Ideologiefreiheit, Objektivität und Zeitlosigkeit für sich beansprucht. Moralische Werte, so wird suggeriert, werden nicht etwa erfunden, sondern gleichsam entdeckt.
Was passiert mit den “Abweichlern” eines solch universellen Anspruchs?
(Diese) stempelt der Moralismus seinen Widersacher zum Opfer seiner persönlichen oder sozialen Prägung oder diskreditiert ihn schlicht als minderbemittelt, unreflektiert oder von Vorurteilen getrieben. … Wer den moralistischen Inhalten und Wertevorstellungen widerspricht, dem wird seine persönliche Autonomie und Urteilskraft abgesprochen. …So pathologisiert der neue Moralismus alle abweichenden Einschätzungen und baut damit zugleich eine Drohkulisse auf, um abweichende normative Debatten im Keim zu ersticken. … Wer sich diesem Diktat des moralischen Diskurses entzieht, gilt bestenfalls als Zyniker, sehr viel wahrscheinlicher aber als gefühlskalt, inhuman und empathielos.
Nicht nur der Anspruch ist überzogen, ebenso der individuelle Geltungs- bzw. Wirkungsbereich, wie Grau weiter aufzeigt.
Man ist für alles verantwortlich. Der Verantwortungsbereich des Einzelnen wird ins Globale gesteigert. Insbesondere der einzelne Mitteleuropäer erweist sich als verantwortlich für jedes Ungemach der Welt, für Umweltkrisen, Ressourcenknappheit, Kriege und soziales Elend. Das erzeugt ein schlechtes Gewissen. Also kauft er fair gehandelte Produkte, trennt fleißig Müll und fährt Hybridfahrzeuge. … (So) entwickelt der postideologische Moralismus folgerichtig eine Moralhypertrophie – also einer Überdehnung des moralischen Anspruchs in Raum, Zeit und Intensität. … Der zeitgenössische Moralismus fühlt sich zuständig für alles und jedes, von der Rettung eines Kleinstbiotops irgendwo an einer Bahnstrecke bis hin zum Schutz einer Vogelart auf Papua Neuguinea. Hier entlarvt er sich – seiner antiideologischen Fassade zum Trotz – als echte Ideologie. Denn Ideologien geht es ums Prinzip. Entsprechend kennt der Moralismus auch keine Abstufung der Verantwortung oder Nuancierung der normativen Geltung. Mehr noch: Wer behauptet, nur für sein unmittelbares Umfeld, seine Angehörigen und Bekannten, seine eigene Lebenswelt verantwortlich zu sein, der hat aus Sicht des Moralisten entweder die globalisierten Zusammenhänge nicht verstanden oder ist schlicht egoistisch oder eurozentrisch.
Der Historizismus ist in dieser Ideologie Trumpf, weil er die Legitimation stützt.
Konsequenterweise sieht sich der hypertrophe Moralismus nicht nur als Überwinder einer moralisch fragwürdigen Vergangenheit und Kulturgeschichte, sondern vor allem als Ausdruck und Beglaubigung einer teleologischen Moralentwicklung. … Als säkularer Erbe religiöser Absolutheitsansprüche und des teleologischen christlichen Weltbildes begreift der postmoderne Moralismus sich als Abschluss und Gipfel menschlicher Moralentwicklung. Das daraus abgeleitete Sendungsbewusstsein legitimiert eine rigide Moralmission.
Damit ist die Hypermoral auch endzeitliche Vorstellung.
Hier entlarvt sich der Hypermoralismus als endzeitliche, quasi eschatologische Lehre. Nach seiner Vorstellung treten wir soeben ein in eine letzte Phase menschlicher Moralentwicklung, in der sich die Menschheit endgültig zum zeitlos Guten emporschwingt.