Kolumne: Warum mich Herman Bavinck anhaltend fasziniert

Ich habe mich dieser Tage erneut intensiv mit Herman Bavinck beschäftigt. Weshalb ist die Beschäftigung mit diesem Universalgelehrten so inspirierend?

Zur Aktualität Bavincks

In einem Interview mit den beiden Bavinck-Forschern James Eglinton und Brian Mattson fasst ersterer zusammen:

Herman Bavinck ist einer der herausragendsten christlichen des 20. Jahrhunderts. Seine Schriften verbinden eine konsequente Auslegung der Heiligen Schrift (sowie eine lebenslange Verpflichtung ihrer Autorität gegenüber) mit der Geschichte der christlichen Traditionen und mit den großen Fragen seiner Zeit. Er schuf ein Werk, das die Theologie in das 20. Jahrhundert hineinbrachte, während gleichzeitig die Verwurzelung in der Tradition vergangener Zeiten sichtbar blieb. Somit schaffte er es, etwas Neues mit der Theologie zu tun, aber nicht auf Kosten der Theologie. Dieses Ziel verfolgen viele Theologen, doch nur wenigen ist es in der jüngsten Vergangenheit so gut gelungen wie Bavinck.

Ergänzend aus einem Jubiläumsartikel in Christianity Today:

In den Niederlanden war Bavinck zu seiner Zeit ein wohlbekannter Name. Bavinck war nicht nur der beste niederländische Theologe seiner Generation, sondern auch eine bemerkenswerte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in einer Zeit gewaltiger gesellschaftlicher Umwälzungen – er hinterließ Spuren in den Bereichen Politik, Bildung, Frauenrechte und Journalismus. Im ganzen Land wurden Straßen und Schulen nach ihm benannt. Darüber hinaus war Bavinck auch als Person von internationalem Rang bekannt. Auf einer Reise in die Vereinigten Staaten im Jahr 1908 wurde er zum Beispiel von Theodore Roosevelt im Weißen Haus empfangen. Solche Ehrungen sagen viel aus.

Vor einigen Jahren habe ich selbst versucht, auf die Frage “Wer war Herman Bavinck?” zu antworten.

Beispiel I: Was heisst neutraler Staat?

Der niederländische Kirchenhistoriker George Harinck fasst in seinem faszinierenden Aufsatz “Herman Bavinck on Antirevolutionary Politics” eine Rede Bavincks aus dem Jahr 1899 zusammen, welche ich auszugsweise wiedergebe.

“Politik als solche ist kein sündiges Geschäft, an dem an dem Bekenner des Herrn nicht beteiligt sein sollten. Diejenigen, die an Gott den Allmächtigen und an Jesus Christus glaubt, der gekommen ist, nicht um zu richten, sondern um die Welt zu bekehren, der alle Macht im Himmel und auf Erden besitzt, kann die Politik nicht als Satans Geschäft hassen.” Gottes Vorsehung ist nichts anderes als der göttliche Akt des Regierens, und da der Mensch nach seinem Ebenbild geschaffen wurde, ist Politik in einem abgeleiteten Sinn die Kunst des Regierens. Dies offenbart die hohe Autorität der Regierungen, die Gott dienen, um das Böse zu rächen.

Bezogen auf die Antirevolutionäre Partei, an deren Anlass in Rotterdam er auftrat, argumentierte er:

Die Grundsätze der Partei stammten aus dem Paradies, aber ihr Ausdruck sei zeitgemäß. Sie strebe nicht die Wiederherstellung einer protestantischen Nation mit einer Staatskirche an wie zu Zeiten der niederländischen Republik, und sie lehne die Demokratie nicht ab, sondern favorisiere die moderne Gesellschaft. Als das Schulgesetz von 1857 verabschiedet wurde, das eine “neutrale” Haltung des Staates schuf, der die Überzeugung eines jeden respektierte, aber die religiösen Konfessionen ausschloss, entschied sich Groen van Prinsterer für den neutralen Staat. Nicht aus Prinzip, sondern wenn das orthodox-protestantische Bekenntnis abgewehrt wurde, dann auch das nicht-christliche: “kein scheinneutraler Staat”. Bavinck nutzte dieses Argument und schlug die Loslösung der theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten (einschließlich der in Leiden!) und eine vollständige Trennung von Kirche und Staat vor. … Ein Staat, der sich auf seine Neutralität beruft, darf sich nicht in die geistigen Interessen der Nation einmischen. Ein solcher Staat hat keine Autorität in religiösen Angelegenheiten und hat nach Bavinck als Hauptaufgabe nur die die bürgerlichen Freiheiten und die Gleichheit aller seiner Bürger zu schützen. Der Staat müsse der freien Entwicklung der Gesellschaft dienen.

Beispiel II: Mit Gegnern Freundschaft schliessen

James Eglinton fasst die aussergewöhnliche lebenslange Freundschaft Bavincks mit dem Islamforscher Christiaan Snouck Hurgronje (1857–1936) zusammen:

Im weiteren Verlauf ihres Lebens gingen Bavinck und Snouck unterschiedliche Wege: Bavinck wurde ein berühmter Theologe, der seine eigene Ausprägung einer orthodoxen, sozial engagierten christlichen Frömmigkeit bis zum Schluss auslebte. Snouck erwarb einen Doktortitel in Islamwissenschaften. Er reiste nach Mekka, wobei er unterwegs zum Islam konvertierte, um Zutritt zu der nur für Muslime zugänglichen Stadt zu bekommen. Er machte dort einige der ersten Fotos von Mekka während der Pilgerfahrt (Hadsch) und veröffentlichte sie im Anschluss in einem Buch, das ihm internationalen Ruhm einbrachte.

Snouck lebte viele Jahre in der Region, die wir heute als Indonesien kennen, und zwar als Muslim (unter dem Namen Abd al-Ghaffar). Er heiratete muslimische Frauen und wurde Vater muslimischer Kinder. Dann kehrte er in die Niederlande zurück, wo er wieder seine liberale niederländische Identität annahm und eine Niederländerin heiratete. Er war zweifellos der berühmteste Orientalist seiner Generation und war seinerzeit viel bekannter als sein Freund, der Theologe (wobei sich das inzwischen geändert hat).

Trotz dieser beachtlichen Gegensätze, die zwischen beiden in Bezug auf Glauben und Leben bestanden, blieben Bavinck und Snouck lebenslang in regelmäßigem Kontakt, sowohl persönlich als auch brieflich. In ihren Briefen wird deutlich, dass beide eine „kritische Freundschaft“ schätzten. Sie waren der Meinung, dass die eigenen Ansichten schnell schal werden können, wenn man nur von Menschen umgeben ist, die ebenso denken wie man selbst.

Hier geht es zu einem Vortrag in Washington DC (2022) und der Frage des Zusammenhangs zwischen Biografie und Theologie am Beispiel von Herman Bavinck.