Input: Familieninterviews – wie wurde ich trotzdem Ich?

Von Freunden haben ich das Buch “Ein Hof und elf Geschwister – Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben” bekommen. Gerne verweise ich auf diese eben erschienene Rezension eines Bekannten. Der Historiker Ewald Frie (* 1962) wagt darin einen Spagat, nämlich die eigene Familiengeschichte auf dem grösseren Hintergrund der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zu beschreiben:

Die Familie ist mir sehr nahe. Aber ich versuche sie auf Distanz zu halten, um sie beobachten zu können: durch erlernte geschichtswissenschaftliche Techniken, durch Interviews und deren Vergleich, durch Archivrecherchen, durch die Lektüre des Landwirtschaftlichen Wochenblatts und anderer zeitgenössischer Literatur, durch die Sichtung von dem, was die Forschung zu den nachher angesprochenen Themen hergibt. Dennoch bleibe ich ein betroffener Beobachter. Ich bemühe mich um Detailtreue und Objektivität: Ich zitiere mit Anführungszeichen, ich schreibe Fussnoten, es gibt ein Quellen- und ein Literaturverzeichnis.

Das Vorgehen ist spannend:

Ich verstehe uns als Tor zu einer Geschichte der Bundesrepublik. Ich erzähle sie aus transkribierten Interviews, die ich im Sommer 2020 geführt habe. Ich habe eine Rundreise durch die Republik unternommen: von Tübingen, wo ich wohne, durch das Rheinland und Westfalen, wo die meisten meiner Geschwister heute leben, bis zur Ostsee. In jedem Zuhause habe ich einen Nachmittag und einen Vormittag verbracht und ein leitfadengestütztes Interview geführt.

Wie liefen diese Gespräche ab?

Natürlich sind die Gespräche nicht einfach Geschichte. Meine Geschwister und ich erinnern uns zwar nicht im Modus von ‘Früher war alles besser!’. Aber unsere Erzählungen folgen auch einer Logik: ‘Wie war das möglich?’, fragen wir, oder: ‘Wie wurde ich trotzdem Ich?’ Doch die Logiken machen die Erzählungen nicht wertlos. Sie weisen hin auf den Wandel von Normen und Gewohnheiten. Und die verarbeiteten Geschehnisse, Momente des Arbeitens und des Ausseralltäglichen, des Streits und der Versöhnung, weisen hin auf Lebenswelten, die auf- und untergegangen sind.