Zitat der Woche: Maos Ethik

Erschütternd, jedoch in einer gefallenen Welt nicht erstaunlich:

Maos Einstellung zur Moral kreiste um einen Kern: das Selbst, das Ich, das über allem stand: »Ich bin nicht der Ansicht, dass das Motiv des Handelns, um moralisch zu sein, dem Nutzen anderer dienen muss. Moral muss nicht in Relation zu anderen definiert werden… Menschen wie ich möchten… unserem Herz vollauf Befriedigung verschaffen, und damit besitzen wir automatisch den wertvollsten Moralkodex. Natürlich gibt es auf der Welt noch andere Menschen und Dinge, aber sie sind alle nur für mich da.»

Mao scheute jede Form von Verantwortung und Verpflichtung, weil er sie als Zwang betrachtete. »Menschen wie ich sind nur sich selbst verpflichtet, wir haben keine Verpflichtung anderen gegenüber.« Oder: »Ich bin nur für die Realität verantwortlich, die ich kenne, und sonst für absolut gar nichts. Ich kenne die Vergangenheit nicht, ich weiß nichts von der Zukunft. Sie haben nichts mit der Realität meines eigenen Selbst zu tun.« Ausdrücklich lehnte er jede Verantwortung gegenüber kommenden Generationen ab. »Es gibt die Behauptung, man sei für die Geschichte verantwortlich. Das glaube ich nicht. Ich kümmere mich nur um meine eigene Entwicklung… Ich habe Wünsche und handle entsprechend. Ich bin niemandem verantwortlich.«

Mao glaubte nur dann an etwas, wenn es ihm persönlich nützte. Ein guter Ruf nach dem Tod, sagte er, »kann mir keine Freude machen, weil das in der Zukunft liegt und nicht zu meiner Realität gehört.« »Menschen wie ich bauen keine Leistungen auf, die sie zukünftigen Generationen hinterlassen. « Es kümmerte Mao nicht, was er hinterließ.

Er argumentierte, sein Gewissen sei ihm vollkommen gleichgültig, wenn es seinen Impulsen widerspreche: «Diese beiden sollten ein und dasselbe sein. All unsere Handlungen… sind impulsgesteuert, und ein weises Gewissen fügt sich jedes Mal. Manchmal… bremst das Gewissen einen Impuls, etwa, wenn man zu viel isst oder zu viel Sex will. Doch das Gewissen ist nur als Mäßigung gedacht, nicht als Gegner. Und die Mäßigung dient der besseren Umsetzung des Impulses.»

Weil das Gewissen immer eine gewisse Sorge um andere impliziert und nicht mit dem Hedonismus einhergeht, lehnte Mao diese Vorstellung ab. Er vertrat die Ansicht: »Ich glaube nicht, dass diese [Gebote wie ›du sollst nicht töten‹, ›du sollst nicht stehlen‹ oder ›du sollst nicht verleumdend] etwas mit dem Gewissen zu tun haben. Ich glaube, sie dienen nur der Selbsterhaltung und entstanden aus Eigennutz.« Alle Erwägungen sollten »nur auf dem eigenen Kalkül basieren, auf keinen Fall aber auf der Befolgung externer ethischer Gebote oder dem so genannten Verantwortungsgefühl…«

Maos Haltung war geprägt von grenzenloser Selbersucht und Verantwortungslosigkeit. Diese Eigenschaften waren seiner Meinung nach den «Großen Helden« vorbehalten – einer Gruppe, zu der er sich selbst auch zählte. Über diese Elite sagte er: «Alles, was ihrer Natur fern ist, wie Einschränkungen und Zwänge, muss von ihrer gewaltigen Charakterstärke hinweggefegt werden… Wenn Große Helden ihren Impulsen freien Lauf lassen, sind sie wunderbar mächtig, stürmisch und unbesiegbar. Ihre Macht ist wie ein Wirbelsturm, der sich aus einer tiefen Schlucht erhebt, oder wie ein Sexbesessener auf der Suche nach einem Partner… nichts kann sie aufhalten.»

Eine andere zentrale Charaktereigenschaft, die Mao nun in seinen Kommentaren zum Ausdruck brachte, war seine Freude an Aufruhr und Zerstörung. »Ungeheure Kriege«, schrieb er, »wird es geben, so lange Himmel und Erde bestehen, sie werden nie aussterben … Die ideale Welt der großen Gleichheit und Harmonie (da tong, die ideale konfuzianische Ge-sellschaft) ist ein törichtes Konzept.« Das war nicht einfach die Aussage eines Pessimisten, nein, Mao glaubte, dass man den Kriegszustand anstreben müsse. Auch die Bevölkerung wünschte sich das seiner Meinung nach.

»Ein lang anhaltender Frieden«, behauptete er, «ist für die Menschen unerträglich, daher müssen in diesem friedvollen Zustand immer wieder Wellen der Unruhe geschaffen werden… Ein Blick in die Geschichte lehrt uns, dass wir die Zeiten [des Krieges) verehren, in denen sich ein Drama nach dem anderen ereignete … denn dann macht die historische Lektüre großen Spaß. Die Zeiten des Friedens und des Wohlstands dagegen langweilen uns … Die menschliche Natur liebt plötzliche, schnelle Veränderungen.»

Mao setzte sich einfach darüber hinweg, dass es einen Unterschied macht, ob man über turbulente Ereignisse liest oder verheerende Umwälzungen selbst erlebt. Er ignorierte die Tatsache, dass Krieg für die überwältigende Mehrheit Elend bedeutete.

Selbst gegenüber dem Tod vertrat er eine unbekümmerte Haltung: «Der Mensch ist von Natur aus neugierig. Warum sollten wir dem Tod anders gegenüberstehen? Wollen wir nicht das Unbekannte erleben? Der Tod ist der große Unbekannte, den man nie kennen lernen wird, wenn man weiterlebt … Manche fürchten sich davor, weil die Veränderung zu drastisch ist. Aber ich denke, dass gerade das so wunderbar daran ist: Wo sonst auf der Welt können wir eine so phantastische und drastische Veränderung erleben?»

Unter Verwendung des majestätischen »Wir«, fuhr Mao fort: » Wir lieben es, auf einem Meer des Aufruhrs zu segeln. Wenn man sich vom Leben in den Tod begibt, ist das der größte Aufruhr. Ist es nicht wunderbar!« Diese Aussage wirkt auf den ersten Blick vielleicht surreal, passt aber zu einer späteren Äußerung Maos. Als unter seiner Herrschaft über 1o Millionen Chinesen verhungerten, erklärte Mao seinem inneren Führungskreis, es spiele keine Rolle, wenn Menschen sterben würden, dass der Tod vielmehr gefeiert werden müsse. Wie so oft wandte er diese Maxime nur auf andere Menschen an, nicht aber auf sich selbst. Sein Leben lang war er förmlich besessen davon, Mittel und Wege zu finden, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Er perfektionierte seine Sicherheit und nahm stets die beste medizinische Betreuung in Anspruch.

Bei der Frage » Wie verändern wir [China]?« betonte Mao vor allem die Macht der Zerstörung: »Das Land muss… zerstört und dann neu geformt werden.« Diese Aussage übertrug er auf die ganze Welt – selbst auf das Universum: »Das gilt für das Land, die Nation und die Menschheit… Die Zerstörung des Universums ist nichts anderes… Menschen wie ich sehnen sich nach seiner Zerstörung, denn wenn das alte Universum zerstört ist, wird ein neues Universum gebildet. Das ist doch besser!«

Diese Ansichten, die Mao mit vierundzwanzig so deutlich formulierte, bildeten sein ganzes Leben lang den Kern seines Denkens. 1918 waren die Aussichten gering, dass er sie je in die Praxis umsetzen würde, daher hatten sie keine Wirkung. 

Jung Chang. Jon Halliday. Mao. Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes. Pantheon (2005:29-32).