Input: Marx für die Gesellschaftslehre, der christliche Glaube fürs Persönliche

Jacques Ellul (1912-1994), von mir geschätzter Technologiekritiker, schreibt in der autobiografischen Abhandlung (in A temps et a contretemps, S. 17-20): 

In der Tat erschien mir das Christentum überhaupt nicht als eine Erklärung der Welt. Man darf nicht vergessen, dass sich die Hauptdebatte der Christen zu dieser Zeit um die Erlösung und das individuelle Heil drehte. Es war eine rein persönliche Angelegenheit. Aber gerade auf der Ebene dieser persönlichen Frage schien mir Marx zu versagen. Er konnte mir meine Situation erklären, aber nicht mein Menschsein, mein sterbliches, leidendes und liebendes Menschsein, meine Beziehungen zu anderen Menschen. 

… Da ich das Denken von Marx sehr ernst nahm, da Marx darauf bestand, dass es sinnlos sei, die Frage nach Gott zu stellen, und da er jede andere als die wirtschaftliche und politische Dimension ablehnte, sah ich keine Möglichkeit einer Versöhnung. Außerdem sah ich keine Möglichkeit, das Christentum im wirtschaftlichen und politischen Bereich zu systematisieren. Die Sozialtheorien der Kirche erschienen mir antik, und der christliche Sozialismus, das soziale Christentum […] erschien mir sehr oberflächlich und ging nicht auf den Kern des Problems ein. War die Offenbarung, die ich von Gott erhalten hatte, überhaupt einer Systematisierung, einer Verallgemeinerung zugänglich? Ich sah sehr wohl die Möglichkeit einer Kommunikation auf der individuellen Ebene, der Frömmigkeit, des Gebets… nichts darüber hinaus. Ich bin also unfähig, Marx zu eliminieren, unfähig, die biblische Offenbarung zu eliminieren, unfähig, beide zu verschmelzen. Für mich war es nicht möglich, sie zu addieren. Ich begann also, zwischen beiden hin- und hergerissen zu sein, und blieb es mein ganzes Leben lang. Die Entwicklung meines Denkens lässt sich aus diesem Widerspruch heraus erklären.

… In meinem Fall war es nicht unmöglich, in Bezug auf die Interpretation der Welt intellektuell streng mit Marx’ Denken zu sein. Andererseits war ich von Anfang an davon überzeugt, dass es keine christliche Politik, keine christliche Wirtschaft und keine christliche Gesellschaft geben kann, sondern dass die Offenbarung eine grundlegende existenzielle Wahrheit liefert. Es ging darum, dass diese beiden Wahrheiten gemeinsam gelebt werden können. Ich sage bewusst gelebt und nicht intellektuell in einem System versöhnt. Der wirtschaftliche und politische Aspekt von Marx’ Denken […] wurde für mich zu einem guten Rahmen, um die Gesellschaft, in der ich lebte, zu verstehen. Aber die Offenbarung […] ermöglichte es mir, in ihr zu leben, in ihr lebendig zu sein. 

Offenbar, so schlussfolgert Jean-Marc Berthoud (in  L’ Histoire alliancielle de l’ Église dans le Monde, Tome V), war Elluls Denken durch die kantianische Zweiteilung des Lebens zwischen einer öffentlich-faktischen und einer existenziell-privaten Sphäre geprägt:

So wurde ihm seine Interpretation der Welt – eine vollkommen objektive Interpretation, da sie keinen Glauben impliziert – von einem Denker vermittelt, dessen gesamtes Denksystem dem christlichen Glauben grundlegend entgegengesetzt war. Es liegt ihm fern, die marxistische Gesellschaftslehre aus christlichen Gründen abzulehnen. Elluls soziales, wirtschaftliches und politisches Denken hat von Anfang an eine radikal atheistische Grundlage. (75) … 

Für Ellul sind die beiden Pole dieses gelebten und reflektierten Neokantismus, was die Phänomene betrifft, Karl Marx; und was das Noumenon betrifft, Karl Barth. Barth spielt hier die Rolle des Kierkegaardschen existentialistischen Augenblicks; Marx die der Phänomene – vor allem der rationalisierten politischen und wirtschaftlichen Phänomene des Hegelianismus. Es ist der für das moderne Denken charakteristische Gegensatz zwischen Freiheit auf der einen und Notwendigkeit auf der anderen Seite. (84)

… Es bleibt uns noch zu bemerken, wie er diese intellektuelle Schizophrenie vermieden hat, die seinen grundlegenden Dualismus so gut charakterisiert: existentielle Freiheit und soziologischer Determinismus. Diese Versöhnung erfolgt zunächst durch eine praktische Dialektik, eine Dialektik des Handelns. Diese Lösung theoretischer Schwierigkeiten durch Handeln beherrscht unsere gesamte moderne Zivilisation, die zugleich pragmatisch und aktivistisch ist.  (73)

Achtung: Das bedeutet nicht, dass Ellul nicht scharfsinnig wichtige gesellschaftliche Zusammenhänge erkannt hätte. Berthoud:

die Menschen sind, Gott sei Dank, nicht völlig logisch mit ihren falschen Prinzipien. Ihre Werke können viel mehr enthalten als das, was die Grundausrichtung ihres Denkens impliziert. Dies trifft natürlich auf Jacques Ellul zu. Seine große intellektuelle Tugend ist das, was er selbst einen bodenständigen Realismus nennt, der die Mythen und Täuschungen der Menschen, die versuchen, die Realität zu betrügen, gnadenlos ablehnt. (87)