Input: Barths kantianische Epistemologie

Jean-Marc Berthoud (* 1939)  kritisiert Karl Barths moderne Epistemologie und Methodologie ausgehend von Bruce L. McCormack, Orthodox and Modern. Studies in the Theology of Karl Barth (Baker Academic, Grand Rapids, 2008) in L’ Histoire alliancielle de l’ Église dans le Monde, Tome V, S. 52-58.

Wie, so fragt er (McCormack) sich, kann man gleichzeitig “orthodox” und “modern” oder, anders ausgedrückt, kritisch und realistisch sein? Barths “moderner” oder “kritischer” Charakter mit seinem uneingeschränkten Festhalten an der historisch-kritischen Methode des Bibelstudiums, seiner im Wesentlichen kantischen Epistemologie und seiner zeitweise hegelianischen Ontologie kann für ihn kein Problem sein. Doch was ist dann von den Bezeichnungen “realistisch” und “orthodox” zu halten? Der Ausdruck “kritischer Realismus” (wie “orthodox und “modern”) ist das, was man als Bastard bezeichnen kann, die Verbindung zweier gegensätzlicher, unvereinbarer Konzepte: “Realismus” bezieht sich hier auf die intellektuelle Realität der Universalien, die durch ihre konkreten, stabilen, geschaffenen Formen erkannt werden. Dort bezieht sich das Wort “Kritik” auf die nominalistische Zerstörung jeder Möglichkeit, dieselben Universalien zu erkennen. Ähnlich verhält es sich mit der Verbindung von “orthodox” und “modern”. Die Orthodoxie, die “rechte Lehre”, hat in der Tat nichts mit den Bedingungen der Zeit zu tun, in der sie sich ausdrückt, d. h. weder mit ihrem “Alter” noch mit ihrer “Modernität”. Dasselbe gilt für den “Irrtum” und auch für die “Häresie”; ob sie alt oder modern ist, ändert nichts an ihrem Status als Irrtum. Wir sehen den völligen Unsinn der “historistischen” Sichtweise. Diese Ideologie ist völlig gegen jede Möglichkeit, dass sich in dieser Welt, unserem “Technokosmos”, eine stabile Schöpfungsordnung oder irgendeine Form von übernatürlicher Realität manifestieren könnte.

Weiter verfolgt Berthoud McCormacks Überlegungen zu den Bekenntnissen:

Ich (Mc Cormack) sage dies alles, um darauf hinzuweisen, dass auch die ökumenischen Glaubensbekenntnisse nur vorläufige Erklärungen sind. Sie sind als Definition dessen, was “Orthodoxie” ausmacht, nur relativ verbindlich. 

(Berthoud) Für ihn hat das einzige absolut sichere Dogma notwendigerweise einen eschatologischen Charakter und kann in dieser Welt niemals mit absoluter Sicherheit erkannt werden. Er folgt einer modernen, offensichtlich skeptischen Neigung, den spezifischen Grad der mathematischen Gewissheit als normativ für alle Formen des menschlichen Denkens zu betrachten, und fährt fort: 

(McCormack) Die “Dogmen” (d.h. die formell angenommenen und von den einzelnen Kirchen verkündeten Lehren) sind allesamt Zeugen des Dogmas. […]

(Berthoud) Das Dogma “an sich” (als treuer Kantianer, der er ist), ist für ihn hier auf Erden völlig unerkennbar. Jede dogmatische Formulierung 

[…] befindet sich auf ihn [das einzig wahre Dogma, von Natur aus ausschließlich himmlisch, “eschatologisch”] in einer mehr oder weniger großen Annäherung. Aber die Menschen erreichen es nicht vollkommen – was die Konsequenz der Reformierbarkeit nach sich zieht, die allen “Dogmen” innewohnt. Die Orthodoxie ist folglich keine statische, feststehende Realität. 

Die absolute Wahrheit existiert also nicht hier auf Erden; sie entwickelt sich auf historistische Weise, entsprechend dem variablen Prozess der Epochen ihrer Formulierungen. Sie ist ein Lehrkörper, der aus einer und zu einer Geschichte erwächst, die bislang unvollständig ist und ständig überarbeitet werden muss. 

Bertoud entgegnet:

Die Bibel gibt uns die Gewissheit, dass Gott wirklich zu den Menschen in einem Geist spricht, in dem er seine unergründliche Größe mit unserer Schwäche als nach seinem Bild geschaffene Geschöpfe in Einklang bringt; dieses Wort, das gleichzeitig (und ohne Widerspruch) göttlich und menschlich ist, lässt uns die Herablassung Gottes gegenüber seinen Kindern begreifen; es versichert uns der Analogie, die den Geist seiner schriftlichen Offenbarung beseelt, nämlich der inneren Beziehung zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Realität. Sie spricht zu uns nicht in einer mathematisch eindeutigen oder skeptisch äquivokalen Weise, sondern sie spricht väterlich zu uns in einem Geist der Analogie, in dem die ganze Schrift uns, die wir Gläubige nach dem Bild Gottes sind, genau, aber niemals erschöpfend, die wahren Gedanken Gottes mitteilt, wie wir sie sinnvoll verstehen können. Mehr noch, auch die gesamte Schöpfung spricht zu uns von ihm und dem ständigen Wirken seiner Vorsehung in der Geschichte. Die menschliche Sprache ist geeignet, eine solche Mitteilung von Gott an die Menschen zu tragen. 

In derselben Auseinandersetzung befand sich Herman Bavinck, der zwar mit dem Modernismus rang, meines Erachtens jedoch im Unterschied zu Karl Barth methodologisch und inhaltlich auf der Seite der Kirchenväter und Reformatoren blieb.