Buchbesprechung: Tim und Struppi – die Bände 0 und 1

Es gibt eine Reihe von Artikeln zur fehlenden politischen Korrektheit der ersten beiden (drei) Tim und Struppi-Bände (WeltDFDF,Blick). Als Christ schliesse ich die Augen nicht vor Schattenseiten; aus biblischer Weltsicht sind jede Form von Rassismus und Antisemitismus unakzeptabel. Auffällig ist zudem die Kontextlosigkeit von Tim (siehe hier).

Wovon er lebt? Er lebt einfach. Woher er kommt? Er ist einfach da. Wer seine Eltern sind? Er wurde wohl einfach geboren. Warum er nie älter wird? Soll vorkommen. Was ihn antreibt? Eigentlich ist er Journalist. Aber schreiben tut er nie, und was ihn antreibt, bleibt offen.

Mit Interesse studierte ich Plot, Ereignisse und Darstellung in den beiden ersten Bänden (Band 0 und Band 1; Informationen zu Handlung und Kontext). Die Diskussion spiegelt sich in den zahlreichen Rezensionen auf Amazon. Einige Aussagen zu Tim und Struppi

… im Lande der Sowjets (1929)

Rahmen: Als Reporter des “XX. Jahrhunderts” soll Tim in die Sowjetunion reisen und einen Bericht über die dortigen Verhältnisse verfassen. Die Sowjets sehen das überhaupt nicht gerne. Schließlich geben sie nach außen hin den Sieg und die Leistungsfähigkeit ihres Gedankenguts an.

Hintergrund: Hergé arbeitete damals für die Tageszeitung Le XXe Siècle und war später verantwortlich für die dortige Jugendbeilage Le Petit Vingtième. Dazu muss man, um den Hintergrund der dort erschienenen Comic-Geschichte besser zu verstehen, wissen: „Le XXe Siècle war eine nationale katholische Tageszeitung“, sagte Hergé. „Und wer katholisch sagte, meinte zu jener Zeit antikommunistisch“. Unter anderem diese dortige Atmosphäre hatte Hergé zweifelsohne stark bei der Bearbeitung des Werks beeinflusst. In „Tim im Lande der Sowjets“ zeichnet Hergé ein trostloses Bild von Sowjetrussland. Aber man sieht schon die Genialität des Künstlers – Spannung wird am laufenden Band erzeugt durch halsbrecherische Verfolgungsjagden und Tims Einfallsreichtum in bestimmten Situationen dringt schon durch. Hergé selbst bezeichnete später den ersten Comic als „Jugendsünde“, daher wurde er über Jahre kaum nachgedruckt. Erst als es immer häufiger zu Raubdrucken kam, erlaubte er eher widerwillig 1973 erstmals einen offiziellen Nachdruck. 

Zur historischen Zuverlässigkeit: (Eigentlich ist der Vorwurf) Hergés Comic würde unwahres und verzerrtes Bild des damaligen Sowjetlandes zeichnen, ein Strohmann. Denn Hergé hatte keine verlässlichen Informationen und konnte ganz einfach nur auf Gerüchten, Mutmaßungen, ungeprüften Annahmen bauen. Dabei ist ein Comic selten, so auch hier nicht, eine wissenschaftliche Dissertation. Ein Comic vereinfacht und wirkt immer plakativ. Ein Comic ist Satire, dieses Comic ist Satire.

Vor diesem Zusammenhang und mit unserem heutigen historischen Wissen ist es überaus verblüffend, wie exakt Hergé die Methoden der frühsowjetischen Geheimdienste abbildet und die damalige Denk- und Betrachtungsweise wiedergeben kann. Dass dabei so manches im Gegenteil naiv daherkommt: geschenkt. Auf jeden Fall war das frühe Werk Grund genug, Hergés gesamtes Werk in sozialistischen Regimes zu verbieten. So kam es, dass Tim und Struppi östlich der Elbe völlig unbekannt blieben und deshalb auch heute in Mittel- und Osteuropa als Kulturgut so gut wie keine Rolle spielen. Diktaturen fürchten nichts mehr als Lachen.

Meine Anmerkung: Man lese zu den Verhältnissen in der Sowjetunion der 1920er und 30er die Autobiografie von Malcolm Muggeridge, Chronicles of Wated Time (auch online), dargelegt etwa in Winter in Moscow (1933).

… im Kongo (1930; zweite, abgemilderte Fassung von 1946)

Inhaltliche und zeichnerische Entwicklung: In der ersten Version (schwarz-weiß, als Cartoonwochenstreifen entstanden und dadurch ohne große Linie) patronisierte Tim die “dummen faulen” Kongolesen offen, nannte das Land und (dessen Ausbeuterpatron) Belgien beim Namen, rabaukte sich durch die Fauna undundund.

Diese farbige Version nun ist in vielerlei Hinsicht überarbeitet: neben der Kolorierung ist die Zeichung auf einmal klassisch-Hergé, also mit “claire ligne” und detailverliebt. Die Handlung ist gestrafft, die krassen Auswüchse des weißen Überheblichkeitsdünkel sind draußen, sogar die Tiere werden etwas netter behandelt. Hergé hatte sich da bereits begonnen für diese seine zweite Tim-Geschichte zu schämen.

Zum Umgang mit Tieren: Da wird einem Krokodil mit Hilfe eines Gewehrs das Maul blockiert und seinem Schicksal überlassen, 12 Antilopen nacheinander abgeballert, Tim quält einen Leoparden indem er ihm einen Schwamm zu essen gibt, Struppi reißt einem Löwen den Schwanz ab, Tim häutet einen Schimpansen und schlüpft in seine Haut (Grotesk!), zwei Anacondas müssen auch dran glauben und zu guter letzt wird sogar ein Elefant wegen seiner Stoßzähne vom braven Reporter erledigt.

Herblassender Umgang: Auch sonst verhält sich Tim nicht so, wie man es von ihm gewohnt ist. Gegenüber den Bewohnern eines Eingeborenendorfes tritt er ziemlich hochnäsig auf und die Schwarzen werden meist als ziemlich naiv und abergläubisch dargestellt.… Seltsam, dass Tim trotz dieser doch sehr überschaubaren Leistung offenbar bei fast allen Bewohnern des fremden Landes bekannt ist und als Held gefeiert wird.

Einbettung in die Entstehungszeit: Wäre der Comic 2017 gezeichnet worden, wäre er eindeutig rassistisch. Der Comic wurde 1930 veröffentlicht. Der Autor war zeichenbegabt, hatte aber zu der Zeit noch eine unkritische Sicht der Welt. Er wollte Erfolg haben, witzig sein und die Gesellschaft nicht provozieren. Daher übernahm er die gängigen Vorurteile. Hergé hat sich später weiterentwickelt. Das sollte man anerkennen. 

Es gibt eine Gesamtausgabe der gesamten Reihe (1929-1973). Ebenso gibt es eine Vielzahl von Analysen und Kommentaren, u. a. Tim und Struppi und das Geheimnis der Literatur (2010) sowie Tim und Struppi – Die Meisterwerke von Hergé (2016). Zur umfangreichen Sekundärliteratur gibt es hier eine Liste.