Podcast: Wir stehen in der Gefahr, unsere eigenen Erwartungen über den biblischen Text zu stülpen

Aus dem aktuellen Podcast der RTS Washington Faculty habe ich Auszüge der Folge 170 zu Inspiration und Intepretation transkribiert:

Gilgamesch und die Bibel: Wenn ich Gilgamesch lese und erfahre, dass Gilgamesch am Rande des Ozeans auf Skorpionmänner stösst, stört mich das nicht, weil ich nicht an Skorpionmänner glaube. Wenn wir nur Gelehrte des Alten Orients wären, die den Text als Fenster in die Geschichte benutzen, und das ist alles, was uns interessiert, dann ist es wirklich egal, wenn Josua sich in Widerspruch zu Mose setzte oder Paulus eine andere Religion zu predigen scheint als Jesus. Aber dies ist nicht Gilgamesch. Dies ist Gottes Wort, Gottes heiliges Wort an uns, von dem wir glauben, dass es von Gott inspiriert ist. Es ist von Gott ausgehaucht, und aus diesem Grund ist es maßgebend, zuverlässig, und wir sollten es als irrtumslos (inerrant) verstehen.

Plenarinspiration: Wenn wir an Irrtumslosigkeit denken, verstehen wir dies oft in einer mechanistischen Weise als diktierter Text. In technischer Hinsicht bezieht sich die plenare Verbalinspiration darauf, dass jedes Wort in der Bibel von Gott inspiriert wurde. Jedes Wort in der Bibel ist genau das, was Gott uns mitteilen will, und dies bedeutet irrtumslos.

Literarische Gattungen/Textsorten: Die Bibel ist nicht wie ein wissenschaftliches Handbuch im modernen Sinne. Wenn man sich zum Beispiel die Psalmen anschaut und sich fragt, inwiefern einige der Psalmen, die poetische Literatur darstellen, buchstäblich wahr sind, und zwar auf eine Art und Weise, die sich von historischen Dokumenten unterscheidet, oder auf eine Art und Weise, die sich von den Evangelien unterscheidet, die eine antike Form der biografischen Schrift darstellen.

Beschreibung/Anweisung: Wir sollten auch die Unterschiede zwischen einer historischen Erzählung oder Beschreibung und einer normativen oder präskriptiven Aussage berücksichtigen. Dies ist wichtig, wenn wir z. B. von Salomos Polygamie lesen.

Ein neue (moderne) Lehre? Die Lehre der Irrtumslosigkeit ist kein modernes Konstrukt. Schon für Augustinus war klar: Es gibt keinen wirklichen Widerspruch in der Bibel, und es gibt keine Möglichkeit, dass Gott einen Fehler gemacht haben könnte. Entweder habe ich den Text nicht verstanden oder mir liegt eine falsche Übersetzung vor.

Unterschiedliche Autoren, ein göttlicher Autor: Es gibt eine Vielzahl menschlicher Autoren, eine Vielzahl menschlicher Propheten, die das Wort Gottes gesprochen haben. Aber die Quelle, die eigentliche Quelle, ist der Heilige Geist, der diese Menschen “getrieben” hat (2Petr 1,21). Gott nimmt diese Menschen in seiner Vorsehung mit ihren Persönlichkeiten, ihrer Geschichte, ihrem Stil und ihren Zielen. Er setzt sie ein, nimmt sie mit, begleitet sie und sorgt dafür, dass sie genau das hervorbringen, was Gott mitteilen will. Dabei behalten sie ihren eigenen Stil, ihre Persönlichkeit, ihre Geschichte und ihren Kontext. Die Bibel stellt ihre Propheten nicht so dar, dass sie in Trance fallen und einfach Worte sagen, von denen sie keine Ahnung haben, ob sie richtig sind. Sie stellt den Text nicht so dar, dass er aus dem Himmel herabfällt, ohne dass der Autor seine Hand im Spiel hat.

Gottes Offenbarung in unterschiedlichen Kontexten: Es geht darum, dass Gott sich in verschiedenen kulturellen Kontexten und persönlichen Situationen offenbart. Es gibt Zeiten des Weinens, Zeiten des Sieges, Zeiten des Feierns, Zeiten des Mangels und der Knappheit.

Dominanz der Naturwissenschaft über die Geisteswissenschaften: Wir leben in einer Zeit, in der die Naturwissenschaften die universitären Disziplinen zu dominieren scheinen und die Geisteswissenschaften und die freien Künste stark an Bedeutung verlieren. Das ist eine große Gefahr, weil es Ungeduld mit alten literarischen Dokumenten und mit Primärquellen hervorruft und begünstigt. Das hat übrigens nicht nur Auswirkungen auf die Bibelwissenschaften, sondern auch auf die Philosophie. Es wirkt sich auf die Islamwissenschaft aus, denn die Leute werden Texte wie Platon und Aristoteles, den Koran oder die Bibel mit gesundem Menschenverstand und wörtlich lesen. Alles, was sie damit ausdrücken wollen, ist ihr eigenes Empfinden des 21.Jahrhunderts, was wiederum nicht kritisch hinterfragt wurde. Extremistische Ideologien finden in der Tat viel Zulauf bei Wissenschaftlern, bei ausgebildeten Technikern, gerade weil sie jetzt zum Beispiel den Koran oder die Hadithen auf ihrem iPhone lesen, ohne dass sie dafür ausgebildet wären, diese Texte zu lesen.

Direkte Ansprache in einer spezifischen Situation:  Die Bibel ist in menschlicher Sprache verfasst. Sie geht nicht darüber hinaus. Sie kommuniziert auf die Weise, wie die menschliche Sprache funktioniert. Mit all diesen Einschränkungen kann man auch nur so viel sagen, wie man sagen kann. Es geht nicht nur um die Worte und die Grammatik, sondern auch um die Linguistik, die ja bekanntlich mehr ist als nur Lexikon und Syntax. Letztlich spricht sie den Menschen an. Als forschende Theologen gehen wir wie andere Wissenschaftler auch nach Hause und werden von seiner Frau angesprochen, die einen Platz im Herzen gewonnen hat. Wenn ich in die Schrift gehe, gehe ich als Schüler zu einem Lehrer, der immer wieder bewiesen hat, dass er weiser ist als ich und mehr weiß als ich, der immer wieder bewiesen hat, dass er Dinge weiß, die ich nicht weiß, und dass er in der Lage ist, mich tatsächlich aus der Unwahrheit heraus in die Wahrheit zu führen.

Sich zuversichtlich den Fragen stellen: Gresham Machen hatte großes Zutrauen in den Text der Heiligen Schrift und die historischen Ansprüche unserer christlichen Lehre, und er war bereit, sich den schwierigen Fragen zu stellen, die gestellt wurden, weil er wusste, dass die Orthodoxie immer noch den Sieg davontragen würde. … Ich kann produktiver sein, ich kann konstruktiver vorgehen. Ich versuche nicht zu beweisen, dass der Text wahr ist. Ich versuche, die tiefere Bedeutung des Textes zu erkennen, die ich vielleicht nicht erkennen kann. Der Zugang zum Text zu erhalten ist fein, wir müssen nur klug sein und lernen, ihn zu schätzen. So kann ich ihn jetzt studieren, ohne Angst haben zu müssen, dass er meinen Glauben widerlegt.

Überhebliche oder demütige Herangehensweise:  Wenn man an Texte in der Haltung herangeht (aus anderen Jahrhunderte wie Descartes oder Spinoza), na ja, ich weiß es besser, ich bin ein moderner Mensch. Ich bin verwestlicht, warum auch immer. So werden wir nie wirklich verstehen, was diese mit diesen Texten bezwecken wollten. Du wirst nie verstehen, warum sie so einflussreich waren. Und du wirst auch nicht erkennen, wie stark du selbst indirekt von solchen Texten geprägt bist.

Demütige Haltung nicht nur bei der Bibel, sondern auch bei anderen Wissenschaftlern: Wir sollten nicht nur von ihnen denken, dass sie Idioten seien, die Gott hassen. Sondern davon, dass sie echte Fragen stellen, auf die es gut begründete Antworten gibt.