Input: Weltanschauung als korrigierbare Landkarte

Nathaniel Gray Sutanto schreibt im hilfreichen Begleitartikel zu Herman Bavincks Text “Christliche Weltanschauung”:

(Wir Editoren haben in der Einleitung) den Aufbau einer christlichen Weltanschauung anhand der Analogie der Landkarte dargestellt und nicht anhand der üblichen Analogie der Brille. Während letztere Analogie oft vermittelt, dass eine christliche Weltanschauung ziemlich schnell “aufgesetzt” werden kann, verdeutlicht der Bau einer Landkarte, dass der Aufbau einer Weltanschauung schrittweise und induktive Arbeit erfordert, die dann revidiert werden kann, wenn neue Informationen auftauchen. Der Aufbau einer christlichen Weltanschauung hat zwar trinitarische Parameter und Prinzipien, aber Organisation und Aufbau stehen für empirischen Daten offen, die eine Korrektur und Erweiterung der Karten versprechen, mit denen wir die Welt erforschen. Es besteht also eine wechselseitige Beziehung zwischen den Karten, die wir verwenden, und der untersuchten Welt – wenn wir die Ergebnisse der Wissenschaften erforschen, konfigurieren wir unsere Karten neu, aber wenn wir diese Karten neu erkunden, begeben wir uns auf neues Terrain, wobei wir uns fest von ihnen leiten lassen.

… Die Philosophie geht der Zusammenfassung dieser Errungenschaften nach und verfolgt dann, der Weisheit folgend, die Einheit hinter den Wissenschaften bis hin zu den ersten Prinzipien darin. Eine Weltanschauung baut also auf dem “letzten Grund aller Dinge” auf, nachdem sie entdeckt hat, dass “die Welt im Denken ruht und dass Ideen alle Dinge beherrschen”. Die empirischen Phänomene, denen wir im täglichen Leben und in der Wissenschaft – einschließlich der vielen akademischen Disziplinen – begegnen, führen uns tatsächlich zu unsichtbaren, ja göttlichen Wirklichkeiten.

Es ist eindrücklich, wie präzise Bavinck 1904 die kommende Tragödie des Nationalsozialismus voraussah:

Bavincks Argumentation in Bezug auf die Ethik ist besonders stark, vor allem wenn man bedenkt, dass er sie in den Jahren vor zwei Weltkriegen schrieb. Er ringt einmal mehr mit der These, dass die Ethik – das Gute und der Wert – nicht in einer göttlichen Quelle außerhalb von uns begründet ist. Die Hauptalternative, die im neunzehnten Jahrhundert in Erwägung gezogen wurde, besteht also darin, zu argumentieren, dass Ethik und Normen in der Geschichte begründet sind. Bavinck entgegnet, dass wir in dem Moment, in dem Ethik und Wert nicht in transzendenten Normen, sondern in der immanenten Geschichte begründet sind, die Frage beantworten müssen: Welche Geschichte? Oder, was vielleicht noch wichtiger ist, wessen Geschichte?

Bavinck argumentiert, dass die Ablehnung transzendenter Normen bedeutet, dass wir unsere eigenen Präferenzen verabsolutieren und damit auch die Präferenzen unserer eigenen Volksgruppe in der Gegenwart. Die Geschichte unserer Kultur, Nation und unseres Volkes wird zum absoluten Maßstab, nach dem wir zwischen anderen Geschichten, Kulturen und Volksgruppen urteilen. Dies geschieht genau deshalb, weil wir, nachdem wir die göttlichen Ideen abgeschafft haben, unweigerlich anderswo nach Stabilität suchen werden: “Weil der Mensch aber immer irgendeine Form von Stabilität braucht, entsteht schnell die ernste und keineswegs eingebildete Gefahr, dass er durch diese einseitige geschichtliche Betrachtungsweise zu einem falschen Nationalismus, zu einem engstirnigen Chauvinismus, zu einem Fanatismus über Rasse und Instinkt verleitet wird”

Auf erschreckende Weise führt Bavinck dies auf die zu seiner Zeit aufkommenden deutschen nationalistischen Philosophien zurück. Als er 1904 schrieb, ahnte Bavinck in erschreckender Weise die Tragödien voraus, die nur wenige Jahrzehnte später eintreten würden.