Standpunkt: Die Wahrheitsfrage als Schlüssel zum Verständnis unseres säkularen Umfelds

Das Werk "Total Truth" von Nancy Pearcey steht bei vielen (ehemaligen) Studierenden ganz oben auf der Liste der "Augenöffner". Ich habe habe Buch vor einiger Zeit auf theoblog.de besprochen.

In einem unveröffentlichten Aufsatz habe ich die Kernüberlegung so zusammengefasst:

Kein Mensch ohne individuelle Sicht auf Welt und Leben

Jeder Mensch verfügt über eine grosse Anzahl verinnerlichter Grundüberzeugungen, die ihn in seinem Denken und Handeln anleiten. In der Regel sind wir durch die dominanten Überzeugungen unserer Beeinflusser programmiert und gesteuert: Unsere Familie, unsere Freunde, unsere realen und medialen Rollenvorbilder.

Was uns Christen fehlt, ist ein Bewusstsein, dass unser Denken erneuert und verändert werden muss. Sonst mögen wir zwar über ein christliches Bekenntnis verfügen, unser gelebtes Bekenntnis spricht jedoch eine ganz andere Sprache. Die Entwicklung einer christlichen Weltsicht schützt uns vor der unbemerkten Inbesitznahme durch die säkularen Überzeugungen der Umgebung.

Der Schlüssel zum Verständnis des Säkularismus: Die Wahrheitsfrage

Die Menschen in unserer Gesellschaft haben einen doppelten inneren Wahrnehmungsfilter eingebaut:

  • Die sichtbare Welt ist unseren Sinnen zugänglich (messbar) und darum objektiv.

  • Die moralische Ordnung kann nicht durch die Sinne erfasst werden (nicht messbar) und basiert darum auf subjektiven Gefühlen. Sie ist allerdings erfahrbar, auch wenn sie nicht wörtlich wahr sein muss. Damit ist die Religion eine soziale Konstruktion, die den emotionalen Bedürfnissen der Menschen begegnet.

Diese Trennung von Werten und Fakten ist der Schlüssel, um den übergeordneten Denkrahmen unserer Gesellschaft zu verstehen. Sie gehört zur kulturellen Luft, die wir stündlich einatmen.

Dieses Denken ist auch in jungen Menschen aktiv, die in christlichen Gemeinden aufwachsen. Was sie in der Schule lernen, ist Faktenwissen, die Kirche stellt die emotionale Unterstützung sicher. Sie hilft, mit der Realität zurecht zu kommen. Eine religiöse Aussage wird erst dann wahr, wenn sie mit der inneren Erfahrung übereinstimmt. Christliche Lehrinhalte mögen zwar kognitiv erfasst worden sein. Emotional werden diese jedoch anders bewertet, sobald es um eigene Entscheidungen geht.

Die christliche Weltsicht geht im Gegensatz dazu von einem einzigen, zusammenhängenden System aus, das durch den persönlich-unendlichen Gott geschaffen worden ist (vgl. Joh 1,1; Kol 1,17). Persönlich bedeutet, dass Gott eine Person ist, unendlich, dass er vom Geschaffenen getrennt und darüber erhaben ist. Wahre Weisheit kann in jedem Erkenntnisbereich durch die „Linse“ von Gottes Wahrheit wahrgenommen werden.

Die fromme Zweiteilung zwischen privatem und öffentlichem Leben

Meine christliche Peer (Vergleichs- bzw. Referenzgruppe) setzt sich fast ausschliesslich Menschen zusammen, die das Heil in Jesus Christus als eine rein innerliche Sache auffassen. Dies ist eine Spielart der Trennung des Lebens zwischen öffentlichem und privatem Bereich. Trotzdem glaube ich bei ihnen ein schlummerndes Bedürfnis wahrzunehmen, einen übergeordneten Rahmen für das gesamte Leben zu finden. Die strikte Trennung zwischen heiligen und nicht-heiligen Lebensbereichen ist zum Gefängnis geworden. Was bedeutet es, vor Gott zu leben in unserer Ehe, an der Arbeit, in der Erziehung der Kinder, wenn wir ein Buch lesen, Musik hören oder einen Film anschauen?

Die Trennung zwischen Kopf und Herz ist allerdings von klein auf verinnerlicht. Das Herz als Sammelbegriff für unser Inneres ist für die Religion reserviert, der Kopf für die Wissenschaft. Das Herz ist ein privater Bereich, der niemandem zugänglich ist ausser sich selbst; der Kopf wird durch die Ausbildung von Fakten gespeist und entsprechend geformt. Die öffentlichen Institutionen (Schulen, Universitäten) werden als wissenschaftlich und wertfrei angesehen. Es gibt also den Bereich unseres Lebens, der von objektiven Fakten gesteuert wird, und einen zweiten, der nur von existenziellen Entscheidungen abhängt. Werte sind subjektiv, Fakten objektiv bindend. Unsere religiösen Überzeugungen gehören einer nicht-rationalen Welt an, unsere Ausbildung und unser Beruf zur rationalen, überprüfbaren Welt.

Die Trennung überwinden

Das bedeutet: Als Christen müssen wir einen Weg finden, um die Trennung zwischen privaten und öffentlichen Überzeugungen, zwischen Fakten und Werten, zwischen säkularen und religiösen Bereichen des Lebens zu überwinden. Die zentrale Aufgabe, die wir zuerst erledigen müssen, besteht darin, die Denkvoraussetzungen des Säkularismus zu verstehen. Von dieser Basis aus können wir die dominanten Ideologien unserer Zeit adressieren, kritisieren und adaptieren. Zwei Strategien erweisen sich als unzureichend:

  • Die Festungsmentalität, die meint alle Ideen an sich abperlen lassen zu können, hält in der Regel eine Hintertüre für das ungehinderte Eindringen von säkularen Ideen offen.

  • Ein geschäftiger, sich anbiedernder Gehorsam inhaliert ausgiebig die feindlichen Ideen, was zur Erkrankung des Glaubens und zur Kapitulation führen wird.

Es bleibt uns kein anderer Weg, als uns mit den herrschenden Gedankengebäuden auseinander zu setzen, gerade auch in der Familie. Unsere Kinder müssen befähigt werden, Leitideen unserer Zeit zu erkennen und konsequent zu Ende zu denken. Leider werden sie in der von emotionaler Befriedigung geprägten, denkfeindlichen Umgebung christlicher Gemeinden nur unzureichend auf die raue Umgebung, die sie an weiterführenden Schulen und Universitäten erwartet, vorbereitet. Wer sendet – ein Vergleich aufgenommen – Spieler aufs Feld, die weder über einen eigenen Spielplan verfügen noch den ihres Gegners kennen?