Interview: Die grösste Not betrifft die Treue gegenüber unserem Herrn

Ich verfolge seit Jahren aufmerksam das Werk von Os Guinness, Religionssoziologe und prominenter Sozialkritiker (siehe mein eigener Blog-Tag). theoblog.de hat auf ein kürzliches Interview an der Beeson Divinity School hingewiesen. Ich habe wichtige Aussagen des halbstündigen Gespräches mitnotiert.

Hauptbotschaft: Die wahre Not unserer Zeit betrifft nicht Kultur und Politik, sondern Treue gegenüber unserem Herrn.

Seitenblick Präsidentenwahl: Durch diese Wahl hätten die US-Amerikaner Gelegenheit erhalten, ihren eigenen Kurs zu überdenken.

Die Probleme der (westlichen) Evangelikalen hätten sich in den letzten Jahren verschärft: Sie haben vor den Herausforderungen der Moderne kapituliert. Beispiel: Der Hymne, die am Anfang einer Andacht an einem christlichen College gesungen wurde, fehlte sämtlicher christologisch-trinitarischer Inhalt! Es wird eine Form von weichem, individualistischem Protestantismus gelebt.

Eine biblisch-theologisch getragene Apologetik (Verteidigung unseres Glaubens) im Stil von Timothy Keller oder Ravi Zacharias sollte in die DNA unserer Gemeinden zurückfinden, und zwar in einer Form, die jeder Nachfolger Christi verstehen kann.

Für diese Aufgabe der Verteidigung unseres Glaubens ist es unabdingbare Voraussetzung, die "Anatomie" des ungläubigen Verstandes gut zu verstehen. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass die globale Vielfalt (jedermann überall) ein Gefühl der Angst hervorbringt. Die Bibel spricht mehrere Dutzend Male von "Liebe gegenüber dem Fremden", also dem, der gerade nicht so ist wie wir selbst.

Francis Schaeffer, bei dem er einige Jahre in den turbulenten späten 1960er verbringen durfte, betrachtet Guinness als grössten 1:1 Apologeten. Er hatte eine umfassende Vorstellung davon, was die Menschen seiner Zeit beschäftigte, kombiniert mit einer tiefen eigenen Überzeugung sowie Liebe und Leidenschaft für sie. Bezüglich seiner grossen Ideen geht Guinness nicht überall mit ihm mit.

Schaeffer habe zu wenig Bücher gelesen, allerdings las er seine Bibel. Das sollte für unsere Zeit auch eine Warnung sein. Viele jungen Leute holen sich ihre Leseinhalte ausschliesslich aus dem Netz und lesen keine Bücher mehr. Guinness empfiehlt die Klassiker (wie Augustinus oder Pascal). Er betont aber auch, wie wichtig es sei, im eigenen Fachgebiet, dem Ort der eigenen Berufung, möglichst breit zu lesen. Und er empfiehlt die Auseinandersetzung mit der Geschichte vor allem mittels Biographien – Menschen in ihrer Zeit. Er betrachtet sich selbst als Denker, weniger als Gelehrter der Akademie und empfiehlt sein Werk "The Global Public Square: Religious Freedom and the Making of a World Safe for Diversity" (siehe meine Rezension).

Guinness betont die doppelte Perspektive auf die Geschichte leitenden Ideen und gleichzeitig auf die Analyse der Kultur. Wenn er zum Beispiel auf die Verwirrung blickt, die durch die Sexuelle Revolution der letzten Jahrzehnte entstanden ist, ortet er bei Evangelikalen eine tragische Naivität wie auch den fehlenden Blick auf das Gesamte. Der Buchtitel "Homo Deus" bringt für ihn einen Hauptstrang der Entwicklung auf den Punkt: Der Mensch betrachtet sich als Gott auf seinem eigenen Planeten. Guinness bezeichnet dies als "Babel Drive".

Welche Haltung sollte einem Christen angemessen sein? Guinness selbst ist zwar nicht schockiert, jedoch traurig. Er fordert einen realistischen Blick, verbunden mit der Hoffnung auf das Evangelium. Dabei sei nochmals der Anfang erwähnt: Lassen wir Kultur und Politik beiseite, die hauptsächliche Not betrifft die Treue gegenüber unserem Herrn!