Daß Kants eigene Antwort, die die Religion zu einem Appendix der Moral macht, für beide Teile, insbesondere aber für die Religion unbefriedigend sei, wurde schon zu Kants Lebzeiten erkannt und von niemanden schärfer ausgesprochen als von Schleiermacher. Er versuchte sie aus dieser unwürdigen Abhängigkeit zu befreien, ihr, wie er sagt, ihre eigene Provinz zuzuweisen und als solche erkannte er: das fromme Gefühl. Der Objektivität des Kulturbewußtseins gegenüber vertritt sie die Subjektivität, kann also darum mit ihm nicht in Konflikt geraten. Denn den denkenden und handelnden Menschen begleitet sie bloß, wie eine heilige Musik.
Gerade dieser Rückzug auf die innerste Linie der Subjektivität, der sie scheinbar vor dem Konflikt sichert, war es aber, der Hegels rechten Widerspruch herausforderte. Soll Religion Anteil haben am Geist, so muß sie auch Anteil haben an seiner Objektivität, seiner Gesetzmäßigkeit und Allgemeingültigkeit. Religion des Geistes ist nicht ein stiller Garten, abseits vom Kampfplatz der großen Kulturmächte.
… Evangelischer und reformatorischer Glaube aber ist nicht am Erlebnis, nicht am Menschen, sondern an Gott orientiert. Nicht schrittweise sich realisierende Freiheit, sondern Schuld und Erlösung, nicht der immanente Denkprozeß, sondern der schroffste Dualismus von Gott und Mensch, nicht die gerade stolz aufsteigende Linie der Entwicklung, sondern die gebrochene Linie des Kreuzes — das sind die jedem humanistischen Ohr widerwärtigen Themata der Religion, gerade der Religion, mit der er sich allein identifizieren möchte.
Emil Brunner. Die Grenzen der Humanität. (Habilitationsvorlesung an der Uni Zürich, 1921)