Live: Andreas in Irpin

Seit dem Krieg in Bosnien und der Belagerung von Sarajewo – heute vielfach dokumentiert, für mich unvergesslich im Film Le Cercle Parfait (1997) festgehalten – habe ich mich nicht mehr so intensiv mit einem Konflikt auseinandergesetzt. Mein Freund Andreas war noch viel näher dran und verfasste diesen Bericht über seinen Besuch in Irpin am Abend des 14. April 2022.

Es wurde bereits dunkel, als wir aus Borodjanka nach Irpin kamen, dem mittlerweile berühmt gewordenen Vorort von Kiew. Hinter uns lagen zerstörte Fahrzeuge  am Straßenrand, Häuser ohne Dach, Innenwände oder nur noch Fundamente und Menschen, die rastlos versuchten, im Chaos Ordnung wiederherzustellen. Der Sonnenuntergang war schön und es war windstill. Aber die zerstörten Einkaufszentren und Bürogebäude bildeten einen umso stärkeren Kontrast zum schönen Himmel.

Wir hatten nicht nur unsere Augen voll von Zerstörung, auch unsere Ohren hatten einiges zu verarbeiten. Geschichten von erschossenen Zivilisten, neuen Funden von Körpern in den Trümmern und tränenreiche Berichte von Plünderungen in Häusern. Das Gebäude der Irpin Bible Church ragte wundersam unversehrt aus dem Umfeld von beschädigten Häusern heraus. Das war unser Zwischenziel für heute Abend.

Der befreundete Diakon war während der gesamten Zeit der Kampfhandlungen mit seiner Frau vor Ort geblieben und hatte zahllose Hilfseinsätze hinter sich. Beim Abendbrot erzählte er fast ununterbrochen von seinen Erlebnissen, die nicht weniger dramatisch waren als das, was wir bisher gehört hatten. Ich war hundemüde. Seine Worte flossen alle irgendwie gedämpft an mir vorbei, so dass die erzählten Einzelereignisse sich zu einem undefinierbaren Haufen von Leid, Tragik und Wundern vermischten.

Wenn ich eine theologische Einordnung setzen müsste, dann wäre es zunächst einmal die grausame Realität des Bösen. In einer Dimension, die ich so nur aus Büchern und Filmen kannte. Aber hier waren um mich herum Menschen, die dieses Böse mit eigen Augen gesehen, mit den Ohren gehört, mit den Händen betastet und der Nase gerochen haben. Und eine Konzentration dieser schwersten Sünden drängte sich an diesem Tag in meinen Kopf. Und in mein Herz.

In diesen Zeiten des Krieges hatte die Gemeinde die Gewohnheit, jeden Morgen und jeden Abend einen Gottesdienst abzuhalten. Aktuell wohnten ca. 40 Leute in den Gemeinderäumen. Es gab noch keinen Strom, kein Gas und keine allgemeine Wasserversorgung. Der Generator lief nur stundenweise. Obwohl ich nur noch müde war, wollte ich mir den Abendgottesdienst nicht entgehen lassen. Nachdem wir unsere Schlafplätze im Kellerraum bezogen hatten, ging ich ins Foyer, wo die Abendgottesdienste stattfanden. Alle saßen im Kreis mit 4-5 Leuchten in der Mitte. Einige Pastoren der Gemeinde waren da, wer wollte, konnte von seinen Eindrücken berichten und eine Ermutigung weitergeben. Ich verstehe das Ukrainische nicht so gut, also versuchte ich in etwa zu erfassen, worum es ging. Einer nach dem anderen teilte sich mit: Kleine Ereignisse des Tages, Gedanken zu einem Bibelvers. Ich erinnere mich kaum an die Inhalte, vor allem aber an Atmosphäre an diesem Abend. Gott war da.

Für die Menschen hier, die teils müde, teils aufgewühlt waren war es klar, dass der Gott des Universums bei ihnen an diesem Ort war. Ich wurde auch gebeten, was zu sagen, aber an diesem Abend war ich dazu nicht in der Lage. Vielmehr war ich von Herzen dankbar, dass dieser Tag mit seinen Eindrücken des Bösen einen Abschluss mit einer ergänzenden Botschaft brachte: Der lebendige Gott regiert. Die Handys wurden rausgeholt und ein Lied gesungen, in dem die Ukraine Gott anbefohlen wird, mit der Bitte, dass Gott sie doch bitte retten solle. In so einer Atmosphäre fiel es mir gerade beim Singen sehr schwer, die Fassung zu bewahren. Nach dem Gebet ging jeder im Licht seiner Handytaschenlampe zu seinem Schlafplatz. In dem Keller war es kalt. Aber ich war dankbar, dass ich von Gnade umhüllt in die Nacht gehen konnte.