Zitat der Woche: Ich pfeif’ auf deine Frömmigkeit

Wolfgang Bühne beschreibt in seiner neu erschienenen Biografie das Leben der frommen Heuchelei – aus der Innenperspektive (32-38; 51):

Ich kann mich zwar nicht erinnern, dass es jemals eine Zeit gab, in der ich an der Existenz Gottes oder der Wahrheit der Bibel gezweifelt hätte. Aber sie bedeuteten mir absolut nichts. Der Sonntag war für mich der langweiligste Tag der Woche. Die ermüdenden Stunden in der Versammlung über Themen, die mich absolut nicht interessierten und meist auch nicht Interesse weckend vorgetragen wurden, waren mir einfach nur lästig.

Die Lieder, die ganz ohne Begleitung, aber immerhin vierstimmig gesungen wurden, schienen mir von den Melodien eher einschläfernd und die Texte, die oft von einer Himmelssehnsucht handelten, standen in einem seltsamen Gegensatz dazu, wie erdverbunden im Alltag gelebt wurde.

Zudem bekam ich den Eindruck, dass Christsein nur aus Dingen besteht, die man nicht tun darf, und umgekehrt alle Dinge, die man gerne tun wollte, verboten – weil »weltlich« – waren. Eine Ausnahme war eigenartigerweise das Rauchen von Zigarren und Zigaretten, was damals wie selbstverständlich von den meisten Brüdern praktiziert wurde. Nein – Christsein erschien mir als ein Hundeleben, als eine freudlose, triste Angelegenheit, an der ich nichts Anziehendes erkennen konnte. …

Christ zu werden nach dem Muster, das mir vorgelebt wurde, kam für mich nicht infrage. Offen auszubrechen und der Frömmigkeit meiner Eltern zu entfliehen – dazu war ich zu feige. Also gab es nur noch den Weg der Heuchelei: So tun als ob! Einen frommen, angepassten Schein wahren, was die äußere Frömmigkeit betrifft. Mit der Bibel unterm Arm die Versammlungen besuchen und fromme Lieder mitsingen. Das fromme Vokabular beherrschte ich ja einigermaßen und letztlich redete ich mir ein, dass ich mich doch schon ein paar Mal als Kind »bekehrt« hatte. Das waren jene typischen Situationen, wenn z. B. die Eltern mal nicht zu Hause waren und von meinen Geschwistern keiner zu sehen war. In der Angst, die Entrückung der Gemeinde hätte nun ohne mich stattgefunden, hatte ich Rotz und Wasser geheult und zu Gott um Erbarmen geschrien. Diese Angst verschwand aber in dem Moment, als die Eltern von einem Besuch zurückkamen oder meine Geschwister plötzlich irgendwoher auftauchten. …

Mehrere Jahre habe ich dann gestohlen und hatte keine Skrupel, vor dem Diebstahl zu beten, dass Gott mich davor bewahren möge, erwischt zu werden. Und da ich wusste, dass Stehlen Sünde war, habe ich abends Gott artig um Vergebung gebeten, um dann ruhig einzuschlafen und am nächsten Tag die gleiche Sünde zu begehen.

… Nachts –  versteckt unter dem Oberbett, damit meine Eltern nichts davon erfahren konnten – versuchten wir dann irgendeinen knisternden und kaum verständlichen Sender zu empfangen, um mit klopfenden Herzen einer Unterhaltungssendung des NWDR etwas abzugewinnen. … Unsere Stammkneipe wurde »Tante Olga« in der Mittelstraße, wo wir abends – oft bis Mitternacht – tranken, knobelten, pokerten und uns prügelten, wobei ich als Jüngster meist den Kürzeren zog. In unseren Statuten hatten wir festgelegt: Wer von uns als Erster dem anderen eine Ohrfeige oder einen Schlag in die Rippen austeilte, musste eine Mark in die »Nöckerkasse« einzahlen. Wer aber dann zurückschlug, brauchte nur die Hälfte zu zahlen. … Unsere Eltern ahnten damals nicht, was wir in der Nacht trieben. Sie pflegten abends recht zeitig ins Bett zu gehen und schliefen schon tief und fest, wenn wir uns mit einem dicken Tau aus unserem Zimmer im ersten Stock abseilten und lautlos verschwanden. Wenn wir dann bis spät in die Nacht im Kreis der »Nöcker-Brüder« etwas weinselig und leicht beduselt über die »Brüder« in der Versammlung spotteten und unsere Witze rissen, die – unserer Überzeugung nach – keine Ahnung vom wirklichen Leben hatten, waren wir uns unserer geistigen und geistlichen Armut nicht bewusst.

… Die »Umwertung aller Dinge« geschah in meinem Leben eher unbewusst. Mir hatte damals keiner gesagt: »Rauchen ist Sünde!«, »Alkoholgenuss gehört zu deinem alten Leben!«, »Du musst nun die Bibel lesen und beten!« Rauchen und Trinken – das taten damals die meisten Christen in meiner Umgebung mit Dankbarkeit und gutem Gewissen. Das macht deutlich, dass unser Gewissen kein absoluter Maßstab für Gut und Böse ist, wenn es mehr durch die Umgebung und Tradition als durch Gottes Wort geprägt und justiert ist. Es vergingen noch einige Jahre, bis mir bewusst wurde, wie ich Gott durch diese unguten Gewohnheiten verunehrt hatte und für Süchtige auf diesem Gebiet kein Vorbild sein konnte.