Zitat der Woche: Die Bedingungen der (Post-)Moderne und die Hoffnung einer christlichen Wissenschaft

Ich lese die ausgezeichnete Einführung zu dem vom Bavinck-Forscher Nathaniel Gray Sutanto neu in die englische Sprache übersetzten Text “Christentum und Wissenschaft” (1904) von Herman Bavinck. Ebenso empfehlen kann ich den ebenfalls frisch redigierten und kommentierten Text “Christliche Weltanschauung” (1904) sowie “Philosophie der Offenbarung” (1908). Alle drei Texte lese ich zum wiederholten Mal (Vom Wert des Nochmal-Lesens).

Was trieb Bavinck zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, aus christlicher Weltsicht in einem Bereich zu schreiben und zu wirken, der völlig vom logischen Positivismus vereinnahmt worden war? Gray Sutanto fasst zusammen (S. 16-20):

Obwohl viele heute die Bedingungen der Moderne als grundlegend ungünstig für eine Idee wie die einer christlichen Wissenschaft ansehen würden, war Bavincks eigene Vision davon entschlossen hoffnungsvoll. Er deutete dies in mehreren Bemerkungen an: “Nachdem der Durst nach Fakten zunächst gestillt ist, kommt der Hunger nach der Erkenntnis des Ursprungs und des Ziels, nach der Ursache und dem Sinn der Dinge oben wieder zum Vorschein. ” Im Gegensatz zu dem antisupernaturalistischen Antrieb, der einen Großteil der intellektuellen Kultur des 19. Jahrhunderts kennzeichnete, stellte er fest, dass der Mensch des 20. Jahrhunderts wieder die kindliche Sehnsucht nach dem Unsichtbaren, nach dem Leben hinter dem Vorhang aufwies. Er sah darin keine Rückkehr zur kindlichen Unreife, sondern eine Sehnsucht nach einem echten Sinn für das Wunderbare. … 

Am Ende des 19. Jahrhunderts, so Bavinck, wurden die Gläubigen durch das Ausmaß der Wirkung des Positivismus und die fundamentale Herausforderung, die er für ihren übernatürlichen Glauben darstellte, aus ihrem intellektuellen Schlummer aufgerüttelt. Die Gläubigen begannen wieder, sich um das zu kümmern, was früher vernachlässigt worden war: die Pflege des christlichen Geisteslebens. Und warum? Bavinck hatte vor allem den “Eindruck”, dass “das Banner des Evangeliums auch über der Welt der Wissenschaft gehisst werden muss”. Welchen Unterschied macht das Evangelium für die akademische Gemeinschaft? Sowohl in “Christliche Weltanschauung” als auch in “Christentum und Wissenschaft” zeichnet Bavinck das Bild einer menschlichen Natur, die verzweifelt nach Ganzheitlichkeit dürstet, als Antwort auf das durch den Empirismus zerbrochene Selbstverständnis. …

Das neunzehnte Jahrhundert brachte Verwirrung hervor: “Vor allem”, so Bavinck, “fällt uns in der Moderne die innere Zerrissenheit auf, die das Selbst verzehrt”. Der moderne Mensch zeichnete sich durch die Verleugnung (oder vielleicht noch besser: die Unterdrückung) des inneren religiösen Bewusstseins aus, die Bavinck als eine Krankheit der Seele ansieht, die eine ” Disharmonie zwischen unserem Denken und Fühlen, zwischen unserem Wollen und Handeln. zwischen Wissenschaft und Leben”.

Die offensichtlichste Hoffnung der christlichen Wissenschaft ist also die existenzielle Befriedigung, die sich aus der Einheit von Metaphysik und beobachteten Tatsachen ergibt. Denn “das metaphysische Bedürfnis liegt zu tief in der menschlichen Natur, um auf Dauer zum Schweigen gebracht zu werden.”