Franz Graf-Stuhlhofer (* 1955), der mit einem umfangreichen Archiv an Artikeln online ist, erörtert in der aktuellen Ausgabe GuDh 2/2023 die Israeltheologie der Evangelikalen.
Mitunter wird in Frage gestellt, dass es sich bei dieser Sonderstellung Israels wirklich um eine Vorzugsstellung handelt, etwa indem gesagt wird: „Erwählung bedeutet nicht Bevorzugung, sondern eine besondere Beauftragung. Israel und seine Nachkommen sind als ‚Knecht Gottes‘ zugleich Zeugen Gottes in der Welt.“ Hier wird immerhin eine Konkretisierung versucht. Aber geht es Gott im Blick auf das gegenwärtige Israel primär darum, dass dieses das von Gott Erkannte bezeugen soll, oder eher darum, dass Israel Gottes Selbstoffenbarung in seinem Sohn annimmt? Das Letztere betrifft, nach evangelikaler Einschätzung, alle Völker: Dass Gott wünscht, dass sie Gott erkennen und sich auf eine Beziehung mit Gott einlassen. Jene Individuen, die das tun, sollen dann natürlich auch Zeugen für Gott sein.
Mit der Ansicht einer Sonderstellung Israels verbindet sich zudem die Meinung, dass Gottes atl. Verheißungen auch das Volk Israel der Gegenwart betreffen. Das klingt durchaus nach einer Bevorzugung dieses Volkes.
Wie ist es einzuschätzen, dass die Mehrheit der heutigen Juden den An- spruch Jesu, der im AT verheißene Messias zu sein, ablehnt? Der Zugang zum Heil liegt aber im Glauben an Jesus, so jedenfalls die evangelikale Überzeugung.
Wenn also die von der Haltung gegenüber Jesus unabhängige, bleibende Erwählung Israels betont wird, kann eine Inkonsequenz entstehen, auf welche Helgo Lindner aufmerksam macht, „wenn einerseits Jesus eine zentrale Rolle im christlichen Glauben spielen soll, andererseits aber von einem Nein zu ihm überhaupt nichts mehr abhängig gemacht wird“.11 Beim Betonen der bleibenden Erwählung Israels sollte auch deutlich ausgesprochen werden, was jenen Juden fehlt, die nicht an Jesus glauben. Umgekehrt sollte aber auch konkret dargelegt werden, was alle Juden – auch ohne an Jesus zu glauben – aufgrund ihrer Vorzugsstellung haben.