Vorlesung: Eine Theologie der Nationen

Vorlesungsnotizen aus einer Vorlesung mit Didier Erne am Martin Bucer Seminar (18.11.23)

Anknüpfen an der Aktualität

  • Kontroverse Frage: Ist eine wertekonservativ-nationale Einstellung bezüglich Migration mit Nächstenliebe vereinbaren? Übergeordnet: Was hat Gott mit der Schweiz zu tun? Ist sie ausschliesslich ein Produkt menschlichen Wirkens?
  • Aktualität Ukraine und Israel: Inwiefern hat eine Nation das Recht sich zu verteidigen? Wie sollen sich Christen bezüglich Israel positionieren?

Definition einer Nation

  • Fünf wesentliche Faktoren (gem. Oxford Shorter Dictionary): Sie definiert sich durch Land, Sprache(n), Familien (gemeinsames Erbe), Nationalität (Politik), Generationen.
  • Ausformuliert am Beispiel der Schweiz: Sehr stabile geografische Verhältnisse; vier Sprachen und zwei Konfessionen (katholisch und reformiert), kompensiert durch den politischen Willen zur Freiheit 
  • Ausformuliert am Beispiel von Deutschland: Im Laufe der letzten Jahrzehnte veränderte Geografie, starke Bindung durch gemeinsame Sprache, Abstammung stark im Verruf geraten, ebenso ein angefeindetes Bild von Nationalität, Generationenbruch
  • Schöpfungsordnung: Gott schuf Menschen als Individuen und setzte diese in Beziehung zu verschiedenen Gruppierungen von Menschen. Der Mensch ist als Individuum erst in einer Familie komplett. Als nächste Schicht der Gruppierungen kommt die Kirche hinzu, wo Menschen aus mehreren Familien zusammengefügt werden. Dann gibt es Zusammenschlüsse von Familien gleicher Abstammung und ähnlichen Gewohnheiten (12 Stämme Israels); das ist eine Variation (Vielfalt) innerhalb einer Nation (Einheit). Dies ist Teil von Gottes Heilsplan. 
  • Die Nation als Abbild des Prinzip von Einheit und Vielfalt: Gott selbst schafft und erhält Nationen, deren Verlauf er durch seine göttliche Vorsehung lenkt. Keine Nation kann die Menschheit in ihrer Gesamtheit darstellen; so wenig eine einzige Pflanze die Gesamtheit der Pflanzen abbilden kann. Im Islam muss alles auf eine einheitliche Kultur (z. B. arabische Sprache) zurückgeführt werden (Überbetonung der Einheit).
  • Im Heilsplan Gottes kommen in Gen 10 zum ersten Mal Nationen zur Sprache. Nationen verkörpern unterschiedliche Aspekte von Gottes Plan. Wachstum wie Niedergang wird von Gott bestimmt. Gott hat die Zeiten vorhergesehen und nach seinem Gutdünken geordnet. Jede Nation wollte in ihren Grenzen zufrieden sein.
  • Nominalismus vs. Realismus: Im Nominalismus ist der Begriff der Nation eine abstrakte Kategorie bzw. eine Wortschöpfung; sie widerspiegelt keine universelle Realität. Im Realismus bildet die Nation eine von Gott geschaffene, universelle Realität unabhängig von menschlichen Definitionen; diese kann erkannt und erforscht werden.

Die Schwierigkeit der biblischen Definition einer Nation

  • Gott schafft Nationen: «Alle Völker, die du gemacht hast, werden kommen und vor dir anbeten.» (Psalm 88,6-8). In seiner Aeropag-Rede in Athen formulierte es Paulus so: «Er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht (LUT2017)»; präziser: «er hat aus einem (Blut) jede Nation der Menschen gemacht» (ELB; ethnos). Für diese Nationen hat er festgesetzte Zeiten und Grenzen bestimmt.
  • Die beiden Begriffe «goy» (AT) und «ethnos» (NT) wurden oft mit “Heide” bzw. “Ungläubige” übersetzt bzw. gleichgesetzt. Damit ging der Bezug zur Nation verloren. Rabbiner begannen die nichtjüdischen Völker als «gojim» (Unreine) zu bezeichnen.
  • Die Übersetzungen sind oft unpräzise. Im Missionsauftrag: «macht zu Jüngern alle Völker» (Mt 28,18-20 LUT84; ethne) wird übertragen «ruft alle Menschen dazu auf» (HfA) Oder in Gal 3,8 wird übersetzt: «Gott hat die Heiden durch den Glauben gerecht gemacht» (LUT84); präziser: «Gott hat die Nationen aus Glauben gerechtfertigt» (ELB; ethne)

Israel und Gottes Bund

  • Im AT findet sich eine oftmalige Gegenüberstellung von Israel und heidnischen Nationen. Israel schloss wiederholt unheilige Bündnisse mit den umliegenden Nachbarn. Israel war ein sichtbares Zeichen von Gottes Treue mit einer Nation – auch in dessen Untreue.
  • Bis zur Geburt Christi bestand ein exklusiver Segen für Nation Israel. Christi irdische Mission war nicht die Rettung der heidnischen Nationen, sondern die Rettung des treuen Rests der Bundesnation. Der Tod Christi und die Zerstörung des Tempels einige Jahrzehnte danach bedeutete den Abschluss dieser Exklusivität. 
  • Das NT ist geprägt vom entschwundenen Gegensatz zwischen Israel und den heidnischen Nationen durch die Verkündigung des Evangeliums an alle Völker. Gott schloss auch mit anderen Nationen einen Bund (z. B. mit Armenien, das seit über 1500 Jahren mit dem Evangelium erreicht worden ist). 
  • Als Beispiel des Wechsels zwischen AT und NT soll Paulus’ Predigt in Antiochien dienen (Apg 13,32f+44f+47): «Wir verkündigen euch (Juden) … In der Folgewoche kam fast die ganze Stadt zusammen… (die Juden wurden) neidisch.» Für sie war die Aufhebung des Unterschieds eine Erniedrigung. Paulus zitierte Jes 49,6f vom «Licht der Nationen».
  • Mit dem Tod und der Auferstehung Christi wird die Dunkelheit über alle Nationen gebrochen worden. In jeder Nation gibt es einen gläubigen Teil – auch in der jüdischen. Alle Nationen sind seither – mehr oder weniger ausgeprägt – in einen Bund mit Gott eingetreten. Keine wird je eine vergleichbare Stellung wie die  Israels innehaben. Gott segnet(e) die Schweiz als Einheit, obwohl sich zahlreiche Menschen mehr zuschulden kommen liessen als manche Einwohner ärmerer Staaten. 

Die Rebellion gegen die von Gott eingesetzten Nationen

  • Die Nation wird aus unterschiedlichen Richtungen angegriffen: Durch die Abschaffung der Nation und die Idee einer Weltgemeinschaft. 
  • Die Idee der über-nationalen Zusammenschlüsse ist uralt, sie geht auf den Sündenfall zurück. Nimrod war der erste Diktator (Gen 10,8-12). Er gab sich nicht mit dem Territorium einer Nation zufrieden. Der eschatologische Höhepunkt der Rebellion zeigt sich in der Abschaffung der Nation und der Zusammenfassung in einer Welteinheitsreligion (Offb 13).
  • These zur Urbanisierung: Die weltweite übermässige Urbanisierung zeigt die Ausbreitung des Geistes von Babel. Der Mensch vereinsamt, die Bindung zu Familie und Kirche löst sich auf; viele Städter sehen sich als Weltbürger. Auch das Internet ist eine Art der Urbanisierung (Überbetonung der Einheit).
  • These zum Föderalismus: Beim Föderalismus bleibt jede Region bei seiner Eigenart (Stamm), während die Nation ein gemeinsames Unternehmen bleibt. Gegenbespiele: Wir als Menschheit werden Covid besiegen oder das Klima retten; die einzelne Nation kann dies nicht lösen. Letztlich bringt dies die menschliche Anstrengung zum Ausdruck Erlösung durch eigene Werke zu erlangen. 
  • Patriotismus bedeutet Liebe und Engagement für das eigene Land; diese äussert sich in Loyalität.Nationalismus pervertiert den Patriotismus, indem es legitimen Nationalstolz in Hochmut verkehrt (“wir sind so gut, dass alle anderen das gleiche wie wir machen sollten”). Der Schweizer Geist ist von der Natur her patriotisch, er richtet sich nach innen. In dieser Hinsicht sind die US-Amerikaner anders, sie neigen eher um Nationalismus (ähnlich den Franzosen mit Napoleon). Beide Konzepte können bewusst (manipulativ) vermengt werden (z. B. im Nationalsozialismus).
  • Internationalismus ist die Verneinung der Nation; sie geht auf Kosten von legitimen Eigeninteressen der Nationen. Die dahinterstehende Denkvoraussetzung, dass der Mensch im Kern gut sei, hebt den Schutz der Nation aus den Angeln. Absolute Macht korrumpiert absolut. Wenn unser Herz bei kleinen Dingen nicht Nein sagen kann, wie dann bei den Grösseren? 
  • Die politische Vereinigung wird im NT “Tier”, die religiöse “Hure” genannt (Offb 13+17). Die Unabhängigkeit der Nationen ist die Sicherheit dagegen; so ähnlich wie wir unsere Haustür abschliessen, obwohl wir unsere Nachbarn schätzen.
  • Die Nationen werden im Eschaton im Licht des Lammes wandeln (Offb 21,24), auch wenn der Staat mit seiner Bestrafung nicht mehr nötig sein wird. Der Internationalismus will dies ohne Christus erreichen.

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