Philipp Rieffs Klassiker von 1966 “The Triumph of the Therapeutic: Uses of Faith After Freud” (online) nahm ich erneut zur Hand. Zwei Podcasts (Teil I; Teil II) halfen mir beim Sortieren der Herangehensweise und der Hauptgedanken.
Es gibt die Autoren-Einführungen “Sociology and the Sacred: An Introduction to Philip Rieff’s Theory of Culture”. sowie “The Anthem Companion to Philip Rieff”.
Carl Truemann, der sich im Zuge seiner Arbeiten für “Der Siegeszug des modernen des Selbst” intensiv mit Rieff auseinandersetze, schreibt:
Es ist zunächst hilfreich, etwas von Rieffs Verbindung zu Sigmund Freud zu verstehen. Rieff war ein Gelehrter (und Bewunderer) von Freud. Sein erstes Hauptwerk war “Freud: The Mind of the Moralist” (1959), und seine Kulturkritik lässt an mehreren Schlüsselstellen Anleihen bei dem Psychoanalytiker erkennen.
Erstens stimmt Rieff mit Freud darin überein, dass die Zivilisation das Ergebnis eines Kompromisses ist. Für den Menschen ist Sex der Schlüssel zum Glück; wenn jedoch alle Menschen ihren sexuellen Trieben nach Belieben nachgehen würden, entstünde das totale Chaos. Zivilisation bedeutet daher, sexuelle Triebe zu unterdrücken und umzulenken, damit die Menschen in relativer Harmonie zusammenleben können.
… Rieffs zweite Schuld gegenüber Freud bestand auf dem Gebiet der Kulturkritik (und betrifft) die Rolle der Religion. Für Freud war die Religion eine Illusion. Das ist nicht in erster Linie eine Aussage über ihre metaphysische Wahrheit – obwohl Freud selbst Atheist war. Vielmehr bedeutet es, dass die Religion einen bestimmten Zweck erfüllt. Sie bietet ein Bild der Welt, das die Verbote, die die Zivilisation ausmachen, in einer transzendenten Seinsordnung begründet.
… Rieff bietet ein historisches Schema zur Kategorisierung von Kulturen im Lichte dieser grundlegenden Erkenntnisse. Rieff bezeichnet diese als Erste-, Zweite- und Dritte-Welt-Kulturen. Erste Welten zeichnen sich durch eine Vielzahl von Mythen aus, die ihre Kulturen durch etwas begründen und rechtfertigen, das über die unmittelbare Gegenwart hinausgeht.
… Zweite Welten sind nicht durch den Glauben an das Schicksal, sondern durch den Glauben gekennzeichnet. Die großen Vertreter sind das Judentum, das Christentum und der Islam, deren kulturelle Codes im Glauben an ein bestimmtes göttliches und souveränes Wesen verwurzelt sind, das über der Schöpfung steht und dem alle Geschöpfe letztlich Rechenschaft ablegen müssen.
… Dritte Welten zeichnen sich dadurch aus, dass sie jede heilige Ordnung ablehnen. In einer Dritten Welt gibt es nichts, was über diese Welt hinausgeht und mit dem sich die Kultur rechtfertigen ließe. Die Folgen dieser Tatsache sind nach Rieff umfassend und katastrophal. Erstens stehen die Kulturen der Dritten Welt aufgrund ihrer Ablehnung einer sakralen Ordnung vor einer noch nie dagewesenen Herausforderung: Sie müssen sich aus sich selbst heraus rechtfertigen. Keine Kultur in der Geschichte, so Rieff, hat dies jemals erfolgreich getan.