Uwe Siemon-Netto (* 1936) hat seine Dissertation "Luther – Lehrmeister des Widerstands", 1996 erschienen, überarbeitet und aktualisiert. Es geht ihm darum, das Klischee "Luther war der Wegbereiter Hitlers" zu entlarven und für eine gesunde Zwei-Reiche-Lehre zu plädieren. Das Buch ist ein Lesegenuss!
Siemon-Nettos Doktorvater Peter L. Berger schreibt im Vorwort, worum es geht:
(D)ie Rolle des Klischees in der zeitgenössischen Kultur; das Luther-Klischee, demzufolge der Reformator als der geistige Ahnherr Hitlers zu betrachten ist; die Entstellung, die Luthers Verständnis des Verhältnisses von Christentum und Welt durch dieses Klischee erfährt; die praktischen Konsequenzen des Luther-Klischees im Zweiten Weltkrieg und danach; und schließlich die Relevanz der richtig verstandenen lutherischen Position auch für die Gegenwart. (Pos. 101)
Seine eigene Grossmutter "Omi Netto" stand beispielhaft für die nüchterne, beherzte Art des Luthertums.
Einmal hatten bei uns NSDAP-Funktionäre Zuflucht gesucht. Sie trugen braune Uniformen mit viel Lametta, weswegen wir sie Goldfasane nannten. Sie waren für deutsche Männer mitten im Krieg ungewöhnlich feist und obendrein feige. Wenn um uns herum Luftminen detonierten und Feuer und Rauch von außen in den Keller drangen, zitterten sie und schrien auf. Derlei «unchristliche» Gefühlsausbrüche hätte Clara Netto ihrer Familie niemals durchgehen lassen. So senkte sie ihr Lorgnon, fasste die schweißtriefenden Goldfasane fest ins Auge und sagte kühl: «Also meine Herren! Ach nein! Herren sind Sie ja nun nicht! Männer also! Na, da bin ich mir auch nicht so sicher. Aber was immer Sie sind: Reißen Sie sich zusammen! Das ist Ihr Krieg, nicht unserer. Wir haben nichts gegen die Engländer, Amerikaner, Franzosen oder Juden. Löffeln Sie gefälligst die Suppe aus, die Sie sich selbst eingebrockt haben. Sie sind für meinen Enkel hier schlechte Vorbilder!» Am nächsten Morgen standen zwei Gestapo-Beamte in langen Ledermänteln in ihrer Wohnung und warfen ihr vor, zersetzende Aussagen gemacht zu haben. «Zersetzend? Was Sie nicht sagen!» «Sie sollen behauptet haben, dies sei nicht Ihr Krieg.» «Das stimmt ja auch», bestätigte meine Großmutter. «Wir haben euch nicht gewählt. Wir sind Monarchisten.» Dann streckte sie ihre beiden Arme nach vorn und sagte: «Wenn Ihnen das nicht passt, dann verhaften Sie mich doch! Verhaften Sie die Witwe eines deutschen Offiziers!» Da trollten sich die beiden Gestapomänner, aber Omi setzte zum Abschied noch einen drauf: «… und wieso sind Ihre Goldfasane eigentlich so fett? Schicken Sie diese Leute doch an die Ostfront. Da werden sie schnell abnehmen.» (263ff)
Doch auch der Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler steht Pate für diese Einstellung: 1938 trat er nach der Zerschlagung der Statue des Musikers Felix Mendelssohn demonstrativ zurück. 1945 wurde er als Beteiligter des Aufstands gegen Hitler hingerichtet. Siemon-Netto charakterisiert seine Haltung wie folgt:
Sein unerschütterlicher Sinn für Wahrhaftigkeit; sein Sinn für weltliche Ordnung als Schöpfungsakt Gottes; seine daraus resultierende Abneigung gegen Anarchie, Insurrektion und Tyrannenmord; sein Bestreben, den Tyrannen festnehmen und von einem ordentlichen Gericht aburteilen zu lassen; die rast- und furchtlose Art, mit der er die Welt schon früh vor dem nationalsozialistischen Übel warnte; seine Bereitschaft, dieses Übel unter Einsatz seines Lebens zu bekämpfen; seine Überzeugung, dass auch ein böses Regime erst gestürzt werden darf, wenn dadurch kein Vakuum entsteht, sondern kompetente Persönlichkeiten die Staatsgeschäfte übernehmen können. (313ff)
Er folgert daraus, dass die Zweireiche-Lehre "uns Nüchternheit und Gelassenheit bescheren sollte, weil sie uns immer wieder daran erinnert, dass wir aus eigener Kraft nicht alles in dieser Welt zurechtbiegen können" (342).