Vortrag: Hysterisch sein – sich selbst verloren haben

Vor einiger Zeit habe ich auf einen fundierten Vortrag zur Depression von Alfried Längle verwiesen. In einer Fallbesprechung geht Längle auf die Störung der Hysterie ein.

Das Hysterische operiert mit Distanz und Sich-Übergehen, in die Externalisierung gehen, mit dem dissoziativen Schwarz-Weiß-Aufspalten, die Mitte vermeidend. Es ist sehr funktional. Und so erleichtern sich hysterische Menschen ihre Spannungen, ihre Probleme, ihre Konflikte und betäuben ihr Schmerzempfinden. …

„Ich fühle mich so verloren“ kann man von ihnen durchaus hören. Sie sind verloren in der Welt, obwohl sie eine ganz große Geschicklichkeit haben, jedoch haben sie keine festen Wurzeln geschlagen oder Anbindungen. Und sie gehen sich verloren bei sich selbst. Sie kennen sich nicht, sie wissen nicht, was sie wirklich wollen. Deine Patientin weiß es auch nicht. Sie möchte irgendetwas beruflich machen, aber nicht das, was sie zuletzt gemacht hat und sie weiß nicht was sonst. Sie sind verloren bedeutet auch: Sie sind nicht wirklich da. D. h. auf der einen Seite haben die Hysterischen etwas ungemein Feenhaftes, Luftiges, Leichtes, Feuerwerksartiges und auf der anderen Seite sind sie impertinent, fordernd, manipulierend, benutzend, mühsam, sich durchsetzend, nur funktional – aber auch darin sind sie nicht persönlich. Das sind nur Hülsen. Und so sind sie gleich[1]zeitig in beiden Formen – und das Hysterische ist immer schillernd, immer wechselhaft: da ist einerseits das unglaublich Leichte und dann das Verbissene und Zähe. Also es ist sprunghaft, wechselhaft, mit viel Bewegung im Außen, aber innen ist es leer.

… Daher empfindet die hysterische Person dort kein Leben, sondern nur in den äußeren Flügeln des Extremen: „Ich habe wahnsinnige Schmerzen“ oder “das bringt mich um“, „ich habe es dir schon 1000mal gesagt“ …aber in der Mitte, wo es nichts Spektakuläres gibt, wo das Normale, das Gewöhnliche ist, da ist nichts los, da ist es leer, das ist schwer auszuhalten. Durch diese Taubheit der Mitte ist das Spüren der inneren Schwingung oder Stimme betäubt, also das Gefühl: „das bin Ich“ und „das, was ich jetzt spüre, ist Meines“. Dieses Ursprüngliche, Authentische ist nicht zugänglich durch den großen Schmerz darunter. Die Mitte ist betäubt, um vom Schmerz loszukommen – man kennt das vom Zahnarzt, wenn man eine Lokalanästhesie bekommt, dann spürt man keinen Schmerz mehr, und so ist die Mitte beim Hysteriker „lokalanästhesiert“, weil der Schmerz sonst zu groß wäre. In der Mitte ist nichts mehr zu spüren und daher spüren sie auch nicht, was ihr Echtes, ihr Eigenes wäre. Und wie sollen sie da zu einer echten Willensbildung kommen? Im Innen leer geht ihr Leben ins Außen, da ist Wirbelwind und Schaumschlägerei.

…  sie können sehr gewinnend sein und haben ja eine unglaubliche Fähigkeit, sich zu adaptieren und das zu zeigen, von dem sie spüren, dass das dem anderen gefallen wird. Dadurch kommen sie dann auch beim anderen näher heran und bekommen so eine gewisse Aufmerksamkeit, sozusagen einen Ersatz für Beziehung, Nähe, Liebe, was sie ja nicht wirklich fühlen können. Sie sind dafür mit ganz großen, feinen Antennen ausgestattet.

Was bedeutet dies für den Umgang?

… Diese innere Präsenz zu halten vor dem hysterischen, selbstverlorenen Menschen halte ich für ganz zentral in der Therapie und ist in dieser Ausformulierung schon spezifisch für die Existenzanalyse. Das Ernstnehmen der Patienten als Person ist hier natürlich ganz grundlegend. Die hysterischen Menschen werden ja ständig verletzt, weil man über sie hinweggeht, sie belächelt, weil man sie nicht greifen kann – es ist ja auch eine Gegenübertragung ihres eigenen, sich nicht ernstnehmen-könnenden Verhaltens.

Erstens geht es um Beachtung. Wir hören ihnen zu und versuchen sie zu sehen. … „Da muss ja viel vorgefallen sein, wenn Sie so etwas erleben. Was ist denn geschehen?“

(Zweitens um) Ernstnehmen. … Form sein: „Das muss schlimm gewesen sein. Was war denn für sie das Schlimme? Wie kann ich das verstehen, dass es sie so trifft?“

(Drittens um) Stellungnahme: „Wenn sie sich so sehen, merken sie, wie sie mit ihren Problemen umgehen, wie sie da schnell reagieren? Es ist wichtig, dass sie das von sich kennen. Aber sie haben sicher schon auch die Erfahrung gemacht, dass man ganz gut vorankommt, wenn man sich ein bisschen Zeit lässt.“